Die Lehre des ersten "sozialen" Papstes
Im Jahr 1891 verkündete Papst Leo XIII. eine geradezu revolutionäre Sozialenzyklika. Die "Rerum Novarum" wendet sich gegen die Ausbeutung der Arbeiterschaft wie gegen den Sozialismus. Die Soziallehre hat uns heute noch einiges zu sagen.
Der Graf von Bülow, Kanzler des Deutschen Reiches, ist verblüfft. Dieser Papst ist so ganz anders als er sich vorgestellt hat. Beeindruckt notiert er denn auch nach einem seiner Rom-Besuche in den 1890er-Jahren:
Zitator: Alles an ihm war Geist. Sein weißes Gewand war nicht weißer als die Blässe seiner Wangen.
Allerdings nicht immer! Beobachten die Chronisten doch, dass dieser vergeistigte Pontifex, wenn er in seine schriftlichen Arbeiten vertieft ist oftmals die tiefschwarze Tintenfeder an seiner Soutane abwischt.
Ein Gelehrter wäre dieser Spross einer landadligen italienischen Familie wohl auch lieber geblieben, hatte er sich doch nach Kräften dagegen gewehrt, den Stuhl Petri zu besteigen.
Zitator: Ich bin ein alter Mann von schwachen Kräften. Ich werde unter der Bürde dieses Amtes zusammenbrechen. Den Tod, nicht die Papstwürde will man mir geben.
Hatte der 68-jährige kränkliche Kardinal Vincenzo Gioacchino Pecci ausgerufen, als er 1878 zum Nachfolger des umstrittenen, starr konservativen Pius IX. gewählt wird und sich Leo XIII. nennt.
Doch hier irrt der neue Pontifex. Ein Vierteljahrhundert wird er den Stuhl Petri innehaben! Und als er 1903 im Alter von fast 93 Jahren stirbt, hat er sich nicht nur den Ruf erworben, seiner Kirche einen gangbaren Weg in die Moderne aufgezeigt zu haben, sondern auch der erste "soziale Papst" gewesen zu sein. Maßgeblich dazu beigetragen hat seine Enzyklika mit dem Titel "Der Geist der Neuerung".
Die Mutter aller Enzykliken
Der Theologe und Schriftsteller Hans Conrad Zander: "'Rerum Novarum' - das sind die Anfangsworte jener Enzyklika, die Papst Leo 1891 veröffentlichen wird. Die Mutter aller Enzykliken…"
Zitator: Der Geist der Neuerung, der seit langem durch die Völker geht, musste, nachdem er auf politischem Gebiet seine verderblichen Wirkungen entfaltet hatte, folgerichtig auch das volkswirtschaftliche Gebiet ergreifen…Viele Umstände begünstigten diese Entwicklung; die Industrie hat durch die Vervollkommnung der technischen Hilfsmittel und eine neue Produktionsweise mächtigen Aufschwung genommen; das gegenseitige Verhältnis der besitzenden Klasse und der Arbeiter hat sich wesentlich umgestaltet; das Kapital ist in den Händen einer geringen Zahl angehäuft, während die große Menge verarmt.
Hans Conrad Zander: "Weit über die katholische Kirche hinaus diskutierte die Welt das neue Lehrschreiben, in dem ein Papst sich mit der Autorität seines Amtes einsetzte für soziale Werte, Gerechtigkeit und die Rechte der Arbeiterschaft. Es ist diese Enzyklika, die ihm den Ehrentitel 'Arbeiterpapst' eintragen wird und die seinen Ruhm bis heute begründet."
Rudolf Lill: "Er hat entsprechend dieser Enzyklika für die Vermenschlichung der Arbeitsbeziehungen in dem ihm zugänglichen Bereich gewirkt. Das fand ich immer so interessant, dass gerade ein solcher Großbürgerssohn ein Arbeiterseelsorger wurde und geblieben ist."
Der Historiker Rudolf Lill. Der Papst, die Kirche und die bürgerliche Gesellschaft stehen vor dem Konflikt zwischen Kapital und Arbeit oder, wie es die Enzyklika nennt vor der "Arbeiterfrage". Sie befasst sich mit den gesellschaftlichen Zuständen in der Zeit der industriellen Revolution, mit der brutalen Ausbeutung und dem wachsenden Elend des Industrieproletariats, mit der Verarmung der Massen in den Städten und der Verwahrlosung der Jugend.
Zitator: Es wird von allen Seiten anerkannt, dass baldige ernste Hilfe nottut, weil Unzählige ein wahrhaft gedrücktes und unwürdiges Dasein führen.
Rudolf Lill: "Von dieser Enzyklika war jeder sozial aufgeschlossene Priester beeinflusst. Wenn man das moderne Papsttum erörtert, muss man Pius IX., den Papst der radikalen Abschließung und des Unfehlbarkeitsdogmas als ersten nennen, Leo XIII. dann als den, der versucht hat – sofern das im vatikanischen System möglich war – Kontakt zur modernen Welt zu bekommen und auf die moderne Welt mäßigend und reformistisch einzuwirken. Und da eben die Sozialenzykliken: die bedeutendste 'Rerum Novarum'; die war ja so etwas wie die 'Magna Charta' des gesamten Sozialkatholizismus."
Kirche als Versöhnerin zwischen Arm und Reich
Diese katholische "Magna Charta" enthält im wesentlichen drei zentrale Aussagen, die für die damalige Zeit neu und bedeutsam sind. Erstens:
Zitator: Es gibt zwei Klassen.
Hier schreibt der Papst fest, was unübersehbar ist und auch mit den Aussagen des "Kommunistischen Manifests" von Karl Marx übereinstimmt: Überall in Europa gibt es eine Klasse der Besitzenden und eine der Besitzlosen. Die Klasse der Besitzenden bestimmt über Recht und Gesetz, die der Besitzlosen verfügt über keinerlei Rechte.
Zweite Aussage:
Zitator: Das Recht auf Eigentum ist ein Naturrecht.
Damit billigt Leo XIII. jedem Menschen Eigentum als ein ihm von Natur aus zu-stehendes Recht zu. Das ist eine klare Kampfansage an die Mächtigen der Zeit und an die Klassenkämpfer des Sozialismus gleichermaßen.
Dritte Aussage:
Zitator: Der Sozialismus ist ein Irrweg.
Da lässt der Papst nicht mit sich handeln! Die Diktatur des Proletariats sei von Übel, denn sie bringe den Arbeitern nicht die Freiheit.
Joseph Kardinal Höffner: "Weil wenige Personen die Kontrolle ausüben über den arbeitenden Menschen."
So Joseph Kardinal Höffner 1981 bündig.
Zitator: Die Kirche als Wahrerin der Religion hat in den religiösen Wahrheiten und Gesetzen ein mächtiges Mittel, die Reichen und die Armen zu versöhnen und einander nahezubringen. Ihre Lehren und Gebote führen beide Klassen zu ihren Pflichten gegeneinander und zur Befolgung der Vorschriften der Gerechtigkeit.
Reformen, nicht Revolution, nicht Klassenkampf heißt die Maxime des Papstes. Aber diese Reformen werden von den Sozialisten bekämpft, weil sie glauben, die Zustände der damaligen Zeit seien nicht reformierbar, sondern nur durch die Beseitigung der herrschenden Klasse zu bessern.
Das historische Verdienst des Papstes ist es, so Rudolf Lill, in dieser Situation einen dritten Weg der Erneuerung gefunden zu haben.
Rudolf Lill: "Der Weg der Reform als der Weg der Mitte zwischen der Beharrung der Konservativen und der Revolution der Sozialisten, der Marxisten - das war der katholische Weg. Und der ist durch 'Rerum Novarum' bekräftigt worden."
Heute, in einer Zeit der Globalisierung und weltweiten Ausbeutung mag "Rerum Novarum" auch nach 125 Jahren nicht weniger aktuell sein als damals.