Alexander Ilitschewski: "Jerusalem"

Eine intellektuelle Stadtvermessung

Alexander Ilitschewski: Jerusalem
Alexander Ilitschewski: Jerusalem © AFP / Matthes & Seitz
Von Marko Martin |
Ruhig ist es in Jerusalem nie. Immer schon wurde um die Heilige Stadt gekämpft und gestritten. Jenseits dieser Konflikte wirft Alexander Ilitschewski einen Blick auf sein Jerusalem - unaufgeregt, vielschichtig, lesenswert.
Ein literarischer Text über Jerusalem, ausgerechnet jetzt? Die großäußige Frage enthüllt eine gewisse Naivität, denn wann wäre es in der Heiligen Stadt jemals "ruhig" zugegangen? Die "gegenwärtige Situation" ist wohl eher der Normalfall; im Hebräischen gibt es sogar einen kompakten Begriff dafür - ha-matzav.
Nun schreibt Alexander Ilitschewski, 1970 in Aserbaidschan geboren und seit langem in Israel lebend, in seinem neuesten Buch "Jerusalem. Stadt der untergehenden Sonne", jedoch gerade nicht kurzatmig über ha-matzav, die er als Marktplatzgeschrei ohnehin dem üblichen Hintergrund-Sound der Stadt zuordnet: "Mit den Jahren haben sich meine politischen Überzeugungen dem Zen angenähert." Geliefert wird weder eine Apologie des national-religiösen Narrativs vom "unteilbaren Jerusalem" noch jener rhetorische Kotau, den besonders ein europäisches Publikum von israelischen Autoren erwartet - in Gestalt eines formelhaften Bekenntnisses zum palästinensischen Mitanspruchs auf die Stadt. Das mehrheitlich von Arabern bewohnte Ostjerusalem kommt in seiner vibrierenden Flaneurs-Prosa nämlich schlichtweg nicht vor - ein Akt des Respekts vor einer Welt, die nicht die seine ist und die er deshalb auch nicht (geistig) annektieren möchte.

Keine banale Stadtschwärmerei

Ilitschewskis Jerusalem, das ist vor allem das des säkularen Westteils, der moderat-liberalen Literatenwelt der einstigen deutsch-jüdischen Einwanderer aus den dreißiger Jahren und dem Wohnviertel des Nobelpreisträgers Shai Agnon, dessen Romane ihn inspirieren. Doch auch Joseph Brodsky und Saul Bellow sind imaginäre Wegbegleiter bei dieser intellektuellen Stadtvermessung, die ein vitales Hohelied ist auf einen Gemeinschaftssinn, der im Individuellen wurzelt: "Das Judentum ließe sich wunderbar als einen alle verbindenden anarchistischen Wesenskern beschreiben, der jene kluge Union aus autonomen Persönlichkeiten ermöglicht, von der schon Kropotkin und Bakunin träumten." Hinzu kommt eine Begeisterung, die sich aus Erfahrungsverknüpfung speist: "Und was könnte für jemanden, der als Kind Bücher von Astrid Lindgren gelesen hast, aufregender sein als eine Stadt, über deren Dächer man spazieren kann?"
Ein solch eigenwilliger, oft ironisch kommentierter Referenzrahmen bewahrt dann auch vor einer Stadtschwärmerei, der - über die Jahrhunderte hinweg - zahlreiche Besucher zum Opfer gefallen wären, klinische Fälle des sogenannten "Jerusalem-Syndroms". Alexander Ilitschewski aber kommt selbst dann nicht ins belehrende Eifern, wenn er darauf hinweist, dass arabische Geschichtserzählungen bis heute die existenzielle jüdische Verbindung zu Jerusalem leugnen und dabei ausblenden, dass der Felsendom quasi auf den Ruinen des zerstörten jüdischen Tempels steht. Ilitschewski, eher ein Bewunderer von Sonnenuntergängen anstatt von Gebeten, notiert‘s mit Zen-Gelassenheit, erinnert jedoch an einige Fakten, die gerade das deutsche Lesepublikum interessieren könnten: Zwischen 1938 und 1942 erfolgte die Restaurierung der muslimischen Heiligtümer auf dem Tempelberg vor allem mit deutschen Finanzmitteln; Jerusalems Großmufti Al-Husseini war mehrfach Gast in Hitlers Hauptquartier und siedelte schließlich nach Berlin um - historische Fotos zeigen ihn beim Salutieren vor SS-Unterabteilungen, die aus Muslimen rekrutiert wurden.

Hoffen auf eine neue Gemeinschaft

Doch darf dies für Ilitschwski, der im Labor des weltberühmten Jerusalemer Hadassah-Krankenhauses arbeitet, nicht das letzte Wort der Geschichte sein: "Was auch immer geschieht, welche Wendungen die politische Situation auch nehmen mag - wir werden nicht aufhören, ebenso viele Patienten aus den palästinensischen Autonomiegebieten aufzunehmen wie aus dem übrigen Land. Die Hoffnung liegt darin, dass die Menschen nach ihrer Genesung, diese Momente der Gemeinschaft mitnehmen, genau wie die Erinnerung an diejenigen die ihnen geholfen haben. Das ist der Zen des Hadassah." Und, so ließe sich hinzufügen, der Grundtenor dieses Buches, dessen unaufgeregte Gestimmtheit eine wahre Wohltat ist.

Alexander Ilitschewski: "Jerusalem. Stadt der untergehenden Sonne"
Aus dem Russischen von Jenni Seitz und Friederike Meltendorf
Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2017
221 Seiten, 22 Euro

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