"In den Kontext der Karrieristen stellen"
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Der erste Direktor der Berlinale war in den Nationalsozialismus verstrickt. Das Festival hat deshalb den nach ihm benannten Alfred-Bauer-Preis ausgesetzt. "Eine richtige und alternativlose Entscheidung", meint der Filmhistoriker Rainer Rother.
Susanne Burg: Am Mittwoch hatte das neue Berlinale-Team um Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek seinen ersten großen Auftritt der Berlinale 2020: Sie haben die Filme des Wettbewerbs bekannt gegeben. Das war der Tag, an dem das Festival viel gute Presse bekam, aber es war auch der Tag, an dem plötzlich ziemlich dunkle Vergangenheit massiv hineinbrach: Die Wochenzeitung "Die Zeit" veröffentlichte einen Artikel, in dem sie bisher Unbekanntes über die Anfänge der Berlinale enthüllte.
Der erste Leiter der Berlinale, Alfred Bauer, war demzufolge ein hochrangiger Funktionär der NS-Filmbürokratie und hat das nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Zuge der Entnazifizierung offensichtlich verschleiert und dabei sogar gelogen. Über den Fall Alfred Bauer spreche ich mit Rainer Rother, dem Künstlerischen Direktor der Deutschen Kinemathek und dem Leiter der Retrospektive der Berlinale.
Die Berlinale hat schnell reagiert auf den Artikel und noch am gleichen Tag angekündigt, dass sie den nach Alfred Bauer benannten Silbernen Bären für "Verdienste um neue Perspektiven in der Filmkunst", der sonst immer bei der Berlinale auch vergeben wird, aussetzt. War das eine so prompte, weil alternativlose Entscheidung?
Rother: Ich halte die Entscheidung für vollkommen richtig. Wir selber haben ja auch reagiert und eine Publikation zu Alfred Bauer und die Präsentation dieser Publikation während der Berlinale gecancelt, weil wir der Überzeugung sind, dass diese Publikation noch der Nacharbeitung bedarf. Die Schärfe, die in dem Artikel der "Zeit" drin ist, die haben wir wahrgenommen und finden sie auch richtig. Insofern kann ich nur sagen, den Preis auszusetzen, bis genaue Recherchen jetzt alles geklärt haben, was mit Alfred Bauer zusammenhängt, ist eine richtige und alternativlose Entscheidung.
Wohlwollender Umgang mit Lügen
Burg: Die Publikation, die Sie erwähnt haben, da geht es darum, dass der Filmhistoriker Rolf Aurich auch eine Publikation herausbringen wollte, und offensichtlich wird da nichts von Bauers falschen Angaben während der Entnazifizierung erwähnt und viel auch von Bauers Selbstdarstellung übernommen. Wie konnte das passieren?
Rother: Nicht erwähnt, das stimmt nicht, er erwähnt schon entscheidende Punkte. Es handelt sich, glaube ich, eher um eine Perspektive, die sehr wohlwollend dann noch mit den Lügen umgeht, die auch nicht sagt "Bauer hat gelogen", es klingt an. Insofern ist unser Gefühl gewesen, dass diese Publikation noch einmal überarbeitet werden muss. Wie kann so etwas passieren, ist eine Frage, die ich nun schwer beantworten kann. Rolf Aurich ist ja ein geschätzter Kollege und auch renommierter Filmhistoriker, das muss man ihn wahrscheinlich mal fragen, warum es gerade in diesem Fall so schiefgegangen ist.
Burg: Dann beschäftigen wir uns noch mal mit Alfred Bauer. Er war – das ist natürlich schon länger bekannt – 25 Jahre lang Leiter der Berlinale, von 1951 bis 1976, und niemand wusste aber, dass er während der NS-Zeit drei Jahre lang bis zum Ende des Krieges Referent der Filmintendanz war, dass er kontrollierte und überwachte, wer bei Spielfilmproduktionen mitmachte, also ob als Schauspieler, Regisseur oder Kameramann, dass er offensichtlich mitentschied, wer vom Kriegseinsatz freigestellt wurde und wer an die Front musste oder in die Rüstungsindustrie. Von dem, was wir jetzt wissen, wie beleuchten die neuen Erkenntnisse die Rolle Bauers als Filmfunktionär während der NS-Zeit neu?
Rother: Ich denke, dass wir jetzt wissen, dass er eine sehr viel bedeutendere Rolle gespielt hat. Er hat nicht die Rolle gespielt, dass er über Filmprojekte entschied, wie Goebbels das tun konnte, aber er hat schon in der Personalpolitik einige ganz wesentliche Entscheidungen treffen können – manchmal auch zum Guten der Filmemacher, muss man auch sagen. Es gibt ja auch die Belege, dass er Projekte unterstützt hat, indem er Schauspielern oder anderen Filmbeteiligten die Ausreise aus dem nun schon sehr gefährdeten Berlin ermöglicht hat, um zu Dreharbeiten irgendwo in Süddeutschland zu fahren. Ob er wusste oder billigend in Kauf genommen hat, dass diese Dreharbeiten eine Farce waren, weil schon gar kein Film mehr in der Kamera war – sondern bei diesen Filmarbeiten ging es dann nur um das Entkommen –, das ist unklar, müsste man jetzt auch noch mal genauer hinschauen.
Eine karrierebewusste Haltung
Burg: Er war ja offensichtlich auch Mitglied in zahlreichen NS-Organisationen, in der NSDAP, der SA, des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes, der Nationalsozialistischen Volkswohlfahrt und so weiter. Das deutet darauf hin, dass er durchaus auch ein eher überzeugter Nazi war, oder?
Rother: Das deutet sich an – ganz sicher ist es so, dass er mindestens in den Anfangsjahren sehr zielgerichtet seine Karriere auf den Nationalsozialismus gegründet hat, sonst wäre gar nicht zu erklären, dass er in den Rechtswahrerbund der Nationalsozialisten, also die Juristenorganisation, eingetreten ist, noch bevor sie formell gegründet war, die Vorläuferorganisation. Also da hat jemand seine Karriere sehr, sehr deutlich konturiert und auf den Nationalsozialismus gestützt. Wie weit es dann später eine Distanzierung gab, von dem ja einige der späteren Entlastungszeugen sprechen, das müsste man auch sich noch mal genauer anschauen. Und übrigens, seine karrierebewusste Haltung wird ja auch nach dem Krieg sehr deutlich und hat ihm dann tatsächlich die Position des ersten Festivaldirektors der Berlinale eingebracht.
Burg: Inwieweit muss man jetzt eigentlich auch die Gründerzeit der Berlinale noch mal neu beleuchten?
Rother: Ich glaube, an der Einschätzung der ersten Jahre der Berlinale selber wird sich wenig ändern. Er hat ja eine Politik gemacht, die vor allem auf die Auswahl der Filme sich konzentrierte, und das ist gewürdigt. Er hat es geschafft, die Berlinale auch als A-Festival weiterzuführen. Für mich ist das eher eine Frage, nicht müssen wir die Geschichte der Berlinale umschreiben, sondern die Frage scheint mir eher zu sein: Müssen wir nicht die Person Alfred Bauer in den Kontext der Karrieristen stellen, die nach dem Nationalsozialismus in der Bundesrepublik in sehr, sehr vielen anderen Bereichen auch ihre Karriere fortsetzen konnten und Entscheidendes auch für die Bundesrepublik bewegt haben? Müssen wir nicht auf diese Geschichte etwas näher schauen? Persönlich glaube ich, dass der Berlinale eine ganz neue Geschichte nicht nötig ist.
Burg: Es gab im Film natürlich auch keine "Stunde Null", auch nicht im Kino. Die Frage ist, inwieweit die Entnazifizierung, die hinterher eingesetzt hat, im Filmgeschäft in allen Sparten gleichermaßen durchgeführt wurde bei Kreativen oder Funktionären, oder ob es Unterschiede gab. Haben Sie da Erkenntnisse darüber?
Rother: Sicherlich gibt es auch regionale Unterschiede. Dann gibt es die Unterschiede der ersten Verfahren und der zweiten Verfahren. Wenn man einen Widerspruch gegen eine Einstufung eingelegt hat – 1946 oder so – und das dann später verhandelt wurde, dann ist die Einstufung plötzlich sehr viel moderater ausgefallen, also das Urteil ist gemildert worden. Da sieht man, dass diese Entnazifizierungsverfahren keine wirkliche Lösung der Situation sein konnten. Wenn wir an die Geschichte der Bundesrepublik als einer Demokratie denken, dann stellen wir auch fest, dass das Personal, das diese Republik auf einen erfolgreichen Weg gebracht hat, auch in vielen Fällen eine nationalsozialistische Vorgeschichte hatte.
Die Frage, die sich stellt, ist immer, wie weit konnte die Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt über diese Verstrickungen wissen? Und die andere Frage ist, wie weit ist das, was nach 1945 geschah, davon noch beeinflusst? Inwieweit gibt es noch eine Kontinuität zum Nationalsozialismus oder gibt es tatsächlich ein Umdenken, ein Lernen und eine Neuorientierung? Und das ist in jedem einzelnen Fall sicher sehr unterschiedlich auch zu gewichten.
Geschichte der Berlinale neu erforschen
Burg: Sie haben gesagt, dass man die Rolle von Alfred Bauer vielleicht noch mal neu betrachten muss. Nun war ja die Berlinale als Organisation auch, waren ja mehr Menschen als Alfred Bauer, und die Frage ist, inwieweit alte Seilschaften da vielleicht durchaus doch auch noch funktioniert haben. Es gab ja schon Unternehmen vor der Berlinale, die sich mit der eigenen NS-Vergangenheit auseinandersetzen mussten – sei es VW, Bertelsmann oder Hugo Boss. Braucht es da vielleicht doch auch noch mal so was wie eine Historikerkommission?
Rother: Die Berlinale hat ja schon angekündigt, dass sie die eigene Geschichte noch mal neu beleuchten möchte und dass sie da auf externe Experten zugreifen wird. Das finde ich richtig, die Kinemathek kann da nur unterstützen, und das werden wir auch tun.
Burg: Was wird mit dem Alfred-Bauer-Preis?
Rother: Ich finde, dass Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek eine richtige Entscheidung getroffen haben zu sagen: "Wir setzen diesen Preis aus und wir gehen jetzt an die Recherche, um zu schauen, wie stark ist diese Person belastet und kann dieser Preis nicht tatsächlich dann ganz aufgegeben werden." Es ist zu früh für jemanden, der seit sieben Monaten im Amt ist, eine Entscheidung zu treffen, zu sagen, davon verabschieden wir uns jetzt ganz grundsätzlich. Ich halte das für richtig, dass da ein Nachdenken erst mal vorgeschaltet wird.
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