Am Anfang war die Geste

Die Frage nach dem Ursprung der menschlichen Sprache ist alt und ehrwürdig. Jetzt gibt der Anthropologe Michael Tomasello eine umfassende und empirisch fundierte Antwort - so, wie es sie bisher nicht gab: Unsere Sprache hat sich evolutionsgeschichtlich aus einfachen Zeigegesten entwickelt und aus unserer einmaligen Fähigkeit zusammenzuarbeiten, gemeinsam zu planen und zu teilen.
Selbst unsere nächsten Verwandten, Schimpansen und Bonobos, können nicht miteinander sprechen. Wie kommt es da, dass wir Menschen uns täglich mehr oder weniger problemlos in einer von über 6000 Sprachen unterhalten? Wie konnte diese äußerst komplizierte und enorm effektive Art der Kommunikation evolutionsgeschichtlich entstehen? Um diese Frage zu beantworten, hat Michael Tomasello Schimpansen und Kleinkinder untersucht. Er kommt zu dem Schluss, dass die Wurzeln unserer Sprache nicht in den Lautäußerungen liegen - Schreien, Quietschen, Zirpen -, sondern in Gesten, über die nicht nur wir Menschen, sondern auch Menschenaffen verfügen. Schimpansen können zeigen, zum Beispiel wenn sie auf ihr Futter zeigen, um ihren Betreuer aufzufordern, es ihnen zu geben.

Auch kleine Kinder zeigen, und zwar lange bevor sie sprechen können. Doch wenn ein Kleinkind auf den großen, grauen Hund zeigt, der gerade vorbeigeht, dann ist das keine Aufforderung, ihm diesen Hund zu bringen. Nur wenn der Erwachsene abwechselnd auf das Kind und den Hund blickt und dabei emotional positiv reagiert - "Was für ein schöner Hund, ist der nicht toll!" -, ist das Kind zufrieden. Denn jetzt ist ein gemeinsamer Aufmerksamkeitsrahmen entstanden, eine geteilte Welt, in der nicht nur beide, Kind und Erwachsener, den Hund sehen, sondern in der auch beide wissen, dass der andere den Hund sieht und weiß, dass sie selbst den Hund sehen.

Erst dieser gemeinsame Hintergrund liefert die Grundlage, auf der sprachliche Kommunikation entstehen kann. Und genau das fehlt Schimpansen oder Bonobos, wie Tomasello belegt. Wenn sie zeigen, wollen sie etwas haben und nicht etwas mit dem anderen teilen. Irgendwann in der Geschichte der Evolution müssen Menschen angefangen haben, gemeinsam Pläne zu entwickeln, zusammenzuarbeiten und zu teilen. "Aufgrund dieses grundlegend kooperativen Prozesses unterscheidet sich die menschliche Kommunikation vollkommen von den Kommunikationstätigkeiten aller anderen Arten, die auf unserem Planeten leben", schreibt Tomasello.

Mit seinem Buch stellt Michael Tomasello Jahrzehnte theoretischer philosophischer Überlegungen und Nachdenken über Sprache auf eine empirische Grundlage. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts, mit dem Philosophen Ludwig Wittgenstein, haben Philosophen damit begonnen, unsere Sprache als etwas zu verstehen, das unzertrennlich mit unseren Handlungen verbunden ist, damit, wie wir leben und miteinander umgehen.

Auf dieser sozialen, pragmatischen Sprachtheorie baut Tomasello explizit auf und geht, in theoretischer Hinsicht, auch nicht darüber hinaus. Das ist es nicht, was dieses Buch besonders macht, das Bemerkenswerte ist, dass Tomasello diese Theorie empirisch unterfüttert. Das gab es in dieser allumfassenden Form bisher nicht und kann gar nicht hoch genug bewertet werden. Es gibt viele Details in diesem Buch, über die heftig gestritten werden wird, und auch eine Gegentheorie ist denkbar. Aber bis dahin handelt es sich hier um die fundierteste und empirisch am besten belegte Theorie zur Entstehung der menschlichen Sprache, die es heute gibt.

Besprochen von Sibylle Salewski

Michael Tomasello: Die Ursprünge der menschlichen Kommunikation
Aus dem Amerikanischen von Jürgen Schröder
Suhrkamp 2009
409 Seiten, 39,80 Euro