Andrea Riccardi: Der längste Winter. Die vergessene Geschichte der Juden im besetzten Rom 1943/44
Verlag Konrad Theiss, 464 Seiten, 29,95 Euro
Das Schicksal der Juden im besetzten Rom
Der Holocaust erreichte die italienische Hauptstadt im Herbst 1943, die SS begann mit den Deportationen der Juden aus dem Ghetto. Der Autor Andrea Riccardi beschreibt die Ereignisse und ihre Folgen in seinem Buch "Der längste Winter". Dabei geht es im insbesondere um die Rolle des Vatikan.
Das römische Viertel Trastevere liegt am Tiber, gegenüber dem Ghetto und dem Großen Tempel, der Synagoge von Rom. Hier wohnten jahrhundertelang viele Juden in friedlicher Gemeinschaft mit Angehörigen anderer Religionen. Im Kloster Sant’Egidio in Trastevere empfängt Andrea Riccardi in seinem Büro und erzählt von den Geschehnissen des Jahres 1943.
"Die Juden und viele Römer konnten sich das nicht vorstellen, aber am Tagesanbruch des 16. Oktober kam es zu dieser schrecklichen Situation: Die Deutschen der SS gingen mit einer Liste, die sie von der Kultusgemeinde geholt hatten, von Haus zu Haus und suchten die Juden. Einige flüchteten, einige versteckten sich, viele wurden gefangen genommen. In diesem Moment fing der 'längste Winter' an."
Die Juden in Rom fühlten sich zunächst sicher, weil sie einen Tribut in Gold geleistet hatten. Tatsächlich jedoch wurden die Juden am 16. Oktober, dem Schwarzen Samstag, gefangen genommen und deportiert.
"Sie empfand Schuldgefühle, weil sie überlebte"
Etwa 10.000 römische Juden mussten untertauchen, dazu kamen Juden, die in die Hauptstadt geflüchtet waren. Viele fanden in den Institutionen der katholischen Kirche Schutz.
Von den mehr als tausend am 16. Oktober 1943 deportierten Personen überlebten nur 16. Darunter eine einzige Frau, Settimia Spizzichino.
"Settimia Spizzichino war eine außergewöhnliche Frau, eine waschechte Römerin. Als sie nach Rom zurückgekommen ist, meinten alle: Wie bist du zurückgekommen? Sie empfand Schuldgefühle, weil sie überlebte und die anderen sterben mussten. Settimia Spizzichino hat lange geschwiegen, erst in hohem Alter hat sie angefangen zu reden, mit allen, und vor allem in den Schulen. Sie war eine großartige Frau, ich habe sie oft angerufen, um mit ihr zu reden. Wir waren Freunde."
In den 1960er Jahren begann die bis heute andauernde Diskussion über die Untätigkeit von Pius XII.. Ausgelöst wurde die Kritik am Papst durch das Theaterstück "Der Stellvertreter" von Rolf Hochhuth. Tatsächlich waren die Juden praktisch unter dem Fenster des Papstes weggebracht worden, in der Stadt, deren Bischof er war.
Der Papst hatte Angst, sagt Riccardi. Im besetzten Rom stellte der Vatikan eine kleine Insel dar, die über keine militärische Selbstverteidigung vefügte. Es gab Pläne von Seiten der Deutschen, den Papst zu entführen. In seinem Buch argumentiert Riccardi, dass der Papst die deutschen Besatzer zwar nicht öffentlich verurteilte, aber dass er immerhin die Kirchen und Klöster für Asyl öffnete.
"Ich glaube, dass die kirchlichen Institutionen sich spontan mit der Erlaubnis des Papstes geöffnet haben, und auch auf seinen Befehl hin. Jetzt gerade sind wir in Sant’Egidio, einem Kloster, das einige Juden versteckte. In eine Klausur kommt man nicht ohne die Erlaubnis des Papstes, des Heiligen Stuhls herein. Aber ich muss sagen, dass die Religiösen sehr gerne ihre Türen geöffnet haben, das war eine sehr mutige Geste. Es entstand ein nie gekanntes Zusammenleben, jüdische Gebete fanden direkt neben katholischen statt."
"Die Klöster waren voller Juden"
In diesen Wintermonaten gab es einen Teil Roms, der beherbergte, verteidigte und half. Aber auch einen Teil, der betrogen hat. Einige Italiener verrieten Juden gegen Kopfgeld. Es kam zu Plünderungen und Besetzungen von Wohnungen.
"Wir müssen bedenken, dass die Klöster voller Juden waren, aber nicht nur, sondern auch voller junger Politiker im Widerstand. Im Laterankomplex gab es das Comitato Liberazione Nazionale mit dem Sozialisten Nenni, dem 'democristiano' De Gasperi, dem Kommandanten der 'piazza militare' von Rom und ein Widerstands-Radio. Die wahre Frage ist: Wussten die Deutschen Bescheid?"
Die Deutschen betraten jene Gebäude nicht, an denen Schilder angebracht waren, dass sie zum Vatikanstaat gehörten. Tatsächlich gehören diese Gebäude laut den Lateranverträgen nicht zum Vatikan, sondern zu Italien. Es fand also eine tatsächliche Ausweitung der Extraterritorialität statt. Diese Orte blieben geschützt. Im Tagebuch des Deutschen Kommandanten von Rom ist eine private Absprache belegt, dass die Deutschen den Vatikan nicht überfielen, wenn die Priester die Römer vom Kommunismus fern hielten.
"Ich sage seit Jahren, dass man die Archive des Pontifikats Pius des XII. zugänglich machen sollte. Leider ist die Öffnung der Vatikanischen Archive immer etwas verspätet in Bezug auf die große Arbeit der Geschichte."
Die jüdische Gemeinde ist die älteste religiöse Gemeinde Roms. Jeden 16. Oktober findet ein Trauerzug der Erinnerung an die Verfolgung statt.