Anne Kuhlmeyer: Drift
Argument/Ariadne Verlag, Hamburg 2017
320 Seiten, 12,00 Euro
Apokalypse in Thüringen
Weltuntergangsstimmung in Anne Kuhlmeyers Roman "Drift". Hochwasser hat Thüringen überschwemmt und fünf Überlebende haben sich in einem Keller eingerichtet. Andere, die auf einem Floß überleben wollen, sterben. Durch Schüsse.
Die Apokalypse ist über Thüringen hereingebrochen. Nicht in New York, nicht in Paris, sondern in Thüringen herrscht Weltuntergang. Es regnet. Und es hört nicht auf. Die Werra tritt über die Ufer und schwemmt in Anne Kuhlmeyers Roman "Drift" fünf sehr unterschiedliche Charaktere zu einer Zwangs-WG zusammen.
Da ist Metha, eine Gerichtsmedizinerin auf dem Weg in den Urlaub. Sydney, ein Internatsschüler. Rosalie, eine Deutsch-Russin unterwegs zu einem Date. Albrecht, ein Verlagslektor. Und Jan, ein Bauer und der Besitzer des Hauses, in dem alle Zuflucht suchen, "wie eine Familie in einer Bombennacht".
Ein Paar mit Kind bittet um Hilfe
Die Gruppe hat sich fast gemütlich im Keller des Hauses eingerichtet, als vor dem Haus ein Floß auftaucht: Eine Frau, ein Mann, ein Kind. Sie bitten um Hilfe. Doch sie sind keine "Hiesigen".
Der Hausbesitzer weist sie ab. Schließlich sind die Vorräte schon knapp. Es fallen Schüsse. Es sterben Menschen.
An dieser Stelle versucht sich Kuhlmeyer sanft an einer Gegenwartsdiagnose. Schließlich sind die drei Menschen auf dem Floß nichts anderes als Boat People. Nur sterben sie nicht im Mittelmeer, sondern in den Fluten im Thüringischen.
Kuhlmeyer stellt die Schuldfrage, ohne einfache Antworten zu geben. Gekonnt spürt sie den mentalen Beruhigungspillen nach, die wir uns einwerfen, wenn die Nachrichten mal wieder voll sind mit Bildern fast Ertrunkener.
Es ist vor allem Metha, die Gerichtsmedizinerin, der man beim Denken, Zaudern, Fühlen über die Schulter schaut.
Kuhlmeyer, geboren 1961, studierte wie ihre Erzählerin in Leipzig Medizin. Entsprechend treffsicher ist der Stil, zumindest wenn man in Zynismus gekleidete Empfindsamkeit für eine Mediziner-Eigenart hält.
Abgeklärt und zart zugleich
Abgeklärt und zart zugleich führt Metha durchs Buch. Die Autorin schenkt der Erzählerin dafür maßvolle Sätze. Nicht zu kurz, nicht zu lang.
Aber Kuhlmeyer kann auch anders. Das zeigt ein späterer Perspektivwechsel. Der Leser landet im Kopf der jungen Rosalie und plötzlich liest sich "Drift" wie Slam-Poesie und nicht wie die abgebrühte Welterklärung einer 120-Jährigen.
120 Jahre? Ja, Metha ist auf unnatürliche Art und Weise sehr alt geworden, ohne dass man ihr das äußerlich ansehen würde. Es ist das erste, aber nicht das letzte fantastische Element in Kuhlmeyers Wetter-Thriller. Ein wenig später werden Bücher zu Fluchtmaschinen und die Fünf erwachen je nach Lektüre in Ländern fernab der apokalyptischen Flut. Mit dem Wie und Warum hält sich Kuhlmeyer nicht auf.
Weil Labels helfen, Bücher zu verkaufen, nennt Kuhlmeyers Verlag das Buch einen Kriminalroman. Dem zuzustimmen fällt schwer. Hier werden weder Fälle gelöst noch Täter gejagt. "Drift" ist ein intelligenter Grenzgänger, der versucht, die Welt vor unserer Haustür zu erklären, ohne die Welt weiter draußen zu vergessen.
Ode an die Kraft der Literatur
Und es ist eine Ode an die Kraft der Literatur, ohne daraus Kitsch zu machen. Denn das Eskapismus-Roulette der Fünf im Keller zeigt: Auch Geschichten führen in gefährliche Gefilde. Und am Ende wartet die Realität doch immer furchtbar geduldig auf unsere Rückkehr.
Es gibt Romane, die passen gerade so in eine Schublade, wenn man sie nur heftig genug zurammelt. Kuhlmeyers Buch gehört nicht dazu. Ein Grund mehr, "Drift" zu lesen.
(Online-Bearbeitung: ahe)