Anonyma: "Das Inzest-Tagebuch"
Aus dem Amerikanischen von Christa Schuenke
Klett-Cotta, Stuttgart, 2017
96 Seiten, 15,00 Euro
Ein Labyrinth aus Schmerz und Lust
Eine Frau wird über Jahrzehnte von ihrem Vater brutal vergewaltigt - und schreibt darüber mit einer erstaunlichen Stärke. Die anonyme Autorin lässt den Leser in "Das Inzest-Tagebuch" sogar an ihrer Lust am Sex teilhaben. Grell, verstörend, aber lesenswert.
"Das Inzest Tagebuch", das in den USA gewaltige Debatten ausgelöst hat, beschreibt die Erlebnisse einer hübschen, intelligenten und selbstbewussten Frau, die seit ihrem dritten Lebensjahr von ihrem Vater vergewaltigt worden ist. Einer Frau allerdings, die bis ins Erwachsenenalter so viel Lust am Sex mit ihrem Vater hatte, dass sie sich nicht konventionell moralisierend als Vergewaltigungsopfer beschreibt, sondern in expliziter, teils vulgär-pornografischer Diktion alle Details der sexuellen Handlungen offenbart.
Noch während sie das "Tagebuch" schreibt, ist die anonyme Verfasserin aufs Neue erregt und lässt ihre Leser willentlich an dieser Erregung teilhaben. Distanzierungen und gebildete Kurz-Reflexionen fehlen nicht - doch immer wieder huldigt sie in verstörender Direktheit der Vater-Lust: "Ich fühlte mich so sexy wie noch nie. Mein Körper war der pure Sex. Auch mein Vater hatte sich zum Sexobjekt gemacht - für mich. Ich machte ihn genauso zum Objekt, wie ich mich für ihn zum Objekt machte. Ich hatte einen Orgasmus, der größer war als alles, was ich in meinen späteren zwölf Ehejahren erlebte."
Vater schneidet Tochter Wunden in den Unterleib
Dabei verharmlost "Das Inzest-Tagebuch" niemals die physische und psychische Gewalt, die der Vater ausübt - im Gegenteil. Die Autorin berichtet, wie er sie an einen Stuhl fesselt und im Schrank abstellt. Er schneidet ihr mit dem Messer Wunden in den Unterleib. Er vergewaltigt sie in der Badewanne so heftig, dass sie in ihrem eigenen Blut badet: "Mein Vater wollte mich ficken, und manchmal wollte er mich töten. Manchmal auch beides zugleich." Weit weniger als all das würde bei vielen ein lähmendes Trauma hinterlassen. Die "Tagebuch"-Autorin jedoch verfügt über enorme Widerstandskraft.
Sie verarbeitet die erlittene Gewalt auch dadurch, dass sie den Missbrauch zur "Liebesgeschichte" umdeutet - und schließlich sogar, der Sinn bleibt rätselhaft, zu einer "Schöpfungsgeschichte". Sie schildert, wie sie mit zunehmendem Alter der Macht des Vaters bewusst durch ihre erotische Macht über ihn begegnete. Seine Brutalität wurde bisweilen ein Teil ihrer eigenen Lust: "Ich wollte der Mann sein, der kleinen Mädchen wehtut." Man wittert eine extreme Variante des Stockholm-Syndroms. Sicher ist: Die Autorin verdammt ihre Vergangenheit nicht, sondern nimmt sie samt aller Härte an. Diese Gelassenheit fern jeder Wehklage zeugt von Stärke, und in der Stärke liegt die Provokation.
Mit künstlerisch ausgebuffter Intensität vorgetragen
Für die Authentizität des Geschilderten bürgt etwa Lorin Stein, Chef der Literaturzeitschrift "Paris Review", der die Autorin persönlich kennt. Sie selbst erklärt ihre Motivation im Vorspann denkbar einfach: "Ich bin überzeugt, dass jeder Mensch das Recht hat, seine Geschichte zu erzählen." Gewiss könnte die Autorin weniger grell, pornographisch und lust-fixiert erzählen. Aber das will sie offenbar nicht. Die Intensität ihres Vortrags, die den Leser in den Strudel widersprüchlichster Empfindungen hineinreißt, wirkt künstlerisch ausgebufft. Dass die Autorin die Gewalterfahrung in solche Literatur fassen kann, ist ein Akt großer Souveränität, auch wenn sie durch "Das Inzest-Tagebuch" nicht erlöst wird - weder von der Geschichte mit ihrem Vater noch von der Lust auf ihn, die er ihr in Leib und Seele hinein malträtiert hat.