Arundhati Roy: "Das Ministerium des äußersten Glücks"
Aus dem Englischen von Anette Grube
S. Fischer Verlag 2017
556 Seiten, 24 Euro
Das wahre Leben spielt auf dem Friedhof
20 Jahre nach dem "Gott der kleinen Dinge" hat Arundhati Roy wieder einen Roman geschrieben: Er ist beeindruckend, bedrückend und überwältigend. Denn die indische Autorin hat die Kunst der sinnlichen Erzählung und der witzigen Bissigkeit nicht verlernt.
"Der Gott der kleinen Dinge" hieß der großartige - so lebenspralle wie gesellschaftskritische - Debütroman einer jungen indischen Drehbuchautorin, der weltweit auf die Bestsellerlisten stürmte, den prestigereichen Booker Preis gewann und Arundhati Roy zum Liebling der literarischen Welt erhob. Was sie nicht sein wollte. Vielleicht, so hat sie schon damals widerborstig und selbstbewusst erklärt, sei dies nicht nur ihr erster, sondern auch ihr letzter Roman.
Roy wurde eine politische Aktivistin. Kämpfte gegen Staudämme und Hindu Nationalismus, gegen die Globalisierung und die perfide Verzahnung von Big Business und Big Politics. Sie machte sich stark für die Unabhängigkeit Kaschmirs. Und sie schrieb: Reportagen, Analysen, Essays - aber keinen Roman. Bis heute. Jetzt, 20 Jahre nach dem Erscheinen des ersten hat sie ihren zweiten Roman vorgelegt. Und alles, sagt sie, was sie in diesen 20 Jahren erlebt habe, sei in dem Roman versammelt.
Und in der Tat ist das Buch bevölkert von einer unübersehbaren Menge von Menschen, Namen und Ereignissen, von Mördern, Opportunisten und Verrätern. Es reihen sich Massaker, Verstümmelungen und Vergewaltigungen aneinander. Sie erzählt von Widerstandskämpfern und zum Glück auch von Menschen, die einfach nur leben wollen.
Sie habe es unübersichtlich gewollt, sagt Arundhati Roy – denn so sei das Leben. Aber ist das Leben immer Maßstab für gute Literatur? Das Buch liest sich beeindruckend, bedrückend und auch überwältigend. Immer wieder übernimmt die Aktivistin die Arbeit der Schriftstellerin. Aber immer wieder triumphiert zum Glück auch die Poetin. Und das grandios. Roy hat ihre Kunst der sinnlichen Erzählung, der witzigen Bissigkeit und der Zärtlichkeit kein bisschen verlernt.
Wahres Leben ist nur auf dem Friedhof möglich
Zwei Erzählstränge bilden die Pfade im Chaos des Grauens. Eine der Heldinnen ist Anjum, eine TransFrau, als Junge geboren, als Frau unerfüllt - eine traurige und selbstbestimmte, eine witzige und wunderbar schräge Figur. Anjum braucht Freiheit – und die findet sie auf dem Friedhof. Dort zieht sie hin, dort baut sie Hütten über Gräber, dort eröffnet sie das Jannat Gästehaus. Moslems, Christen, Hindis, TransFrauen, Ziegenzüchterinnen, Abdecker, junge Modesignerinnen versammeln sich hier. Zarte Freundschaften entstehen, Feste werden gefeiert. Nur auf dem Friedhof, so scheint es, ist das wahre Leben, ein Leben im toleranten Miteinander möglich.
Auf dem zweiten Pfad wandelt Tilo, eine junge Architektin, die von drei Männern geliebt wird, schliesslich den einen heiratet, um den anderen zu schützen, der ein Widerstandskämpfer in Kaschmir wurde. Eine zarte, wilde, gefährliche Liebesgeschichte, die man beglückt und begehrlich liest nach all dem Elend.
Roy, der immer wieder vorgeworfen wird, ihr Land zu verunglimpfen, während sie selber von sich sagt, eine große Patriotin zu sein, schreibt hier eine Chronik der Menschenverachtung, der Korruption und der Gewalt des "offiziellen" Indiens und eine bewegende Hymne auf die Kraft, die Phantasie und den Mut der Menschen.
"Sprache ist die Haut um mein Denken", hat Roy einmal gesagt, und wenn man sich geduldig einlässt auf den ausufernden Fluss der Erzählung, liest man neben dem glühenden Zorn auch die Freude an Anmut und Eigensinn, an Witz und Poesie - liest man Literatur.