Åsne Seierstad: "Zwei Schwestern. Im Bann des Dschihad"
Aus dem Norwegischen von Nora Pröfrock
Verlag Kein & Aber 2017
528 Seiten, 26 Euro
Emanzipation durch Salafismus
Zwei norwegisch-somalische Mädchen, ehrgeizig und mit guten Schulleistungen, gehen als "IS-Bräute" nach Syrien. Wie konnte das geschehen, fragt Åsne Seierstad und zeichnet in ihrem Buch den Weg der Mädchen nach. Erschütternd lesenswert.
"Was bewegt zwei ehrgeizige Mädchen mit guten Schulleistungen, die als Kinder aus dem Krieg geflohen sind, in ihrer Jugend erneut ein Kriegsgebiet aufzusuchen und sich dem rigiden System des Islamischen Staates zu unterwerfen?" Die norwegische Journalistin Åsne Seierstad schreckt nicht davor zurück, ihre Leser erneut mit einer Frage zu konfrontieren, die das liberale Selbstverständnis einer aufgeklärten Gesellschaft bis ins Mark erschüttert.
Im letzten Jahr hat Seierstad mit "Einer von uns" eine akribisch recherchierte Biografie über den norwegischen Massenmörder Anders Breivik vorgelegt. Jetzt rekonstruiert sie die Beweggründe zweier Schülerinnen, die im Oktober 2013 ihre Familie in einem Vorort von Oslo verlassen haben, um im Kalifat des sogenannten Islamischen Staates eine neue Heimat aufzubauen.
Radikalisierung als Akt der Rebellion
Kann man den religiösen Extremismus der damals noch minderjährigen Ayan und Leila Juma überhaupt verstehen? Åsne Seierstad bietet keine einfachen Antworten, sie hält sich mit Erklärungen oder Bewertungen ihrer Protagonistinnen zurück. Stattdessen zeichnet sie auf über 500 Seiten nach, wie es dazu kam, dass die beiden ihr Leben als Schülerinnen in Norwegen gegen ein Leben im syrischen Kriegsgebiet eintauschten – zuerst als Ehefrauen, dann als Mütter.
Die Radikalisierung der Schwestern begann dabei als Akt der Rebellion: Ayan und Leila waren als Kinder somalischer Bürgerkriegsflüchtlinge daran gewöhnt, Außenseiterinnen zu sein. Sie waren die einzigen Afrikanerinnen in ihrer Klasse, außerhalb der "Migrantenclique" wurden sie oft übersehen von den Schülerinnen und Schülern, die den Ton angaben. Anerkennung erlebten sie anderswo, erst in der Jugendorganisation "Islam Net", später in der deutlich radikaleren "Ummah des Propheten". "Warum sollten sie sich damit zufriedengeben, Norweger zweiter Klasse zu sein, wenn sie stattdessen erstklassige Muslime sein konnten?", fasst Åsne Seierstad die häufig überaus pragmatischen Beweggründe hinter der religiösen Radikalisierung zusammen.
Ayan und Leila gehen freiwillig nach Syrien
Ausgerechnet die salafistische Auslegung des Islam eröffnet den Schwestern Selbstbewusstsein und eine neue Identität. Das zeigt auch eine Episode an der Schule, als die pubertierende Ayan von ihrer Schulleiterin Hanne Rud das Recht einfordert, vollverschleiert zum Unterricht zu erscheinen: "Der Ton der Schülerin zeugte nicht nur von einem tiefen Misstrauen ihrer Autorität als Direktorin gegenüber, er richtete sich auch gegen sie persönlich und schien das gesamte System anzuzweifeln. Ayan wollte eigene Regeln aufstellen, die alten hinterfragen. Davon war Hanne Rud sogar fast ein wenig beeindruckt." Die beiden Schwestern Ayan und Leila verlassen schließlich Norwegen. Freiwillig. Niemand hat sie dazu gezwungen. Diese schmerzliche Erkenntnis wird ihr Vater Sadiq Juma bis zum Schluss leugnen. Er wird seinen beiden Töchtern nach Syrien nachreisen und in immer spektakuläreren und lebensgefährlicheren Rettungsaktionen versuchen, Ayan und Leila "zu retten".
Der liberalen Gesellschaft mit deren Mitteln ins Gesicht gespuckt
Die Syrienreise der beiden Schwestern wirkt wie der Massenmord des rechtsradikalen Attentäters Anders Breivik "verrückt", eine rationale Erklärung scheint ausgeschlossen. Und dennoch: Åsne Seierstads Bücher "Einer von uns" und "Zwei Schwestern" ergeben zusammen ein stimmiges Bild. Rassistischer Extremismus und religiöser Fanatismus erscheinen als zwei Seiten derselben Medaille. Es ist die Fratze einer Auflehnung, die hier den Werten der liberalen Gesellschaft mit deren eigenen Mitteln ins Gesicht spuckt. Erschütternd lesenswert.