Wann fällt der Koloss von Brunsbüttel?
Seit Jahren ist der Meiler vom Netz, das gefährlichste Material entfernt. Der Abriss aber kann nicht starten. Die Bauteile müssen erst "freigemessen" werden. Doch welcher Strahlenwert ist unbedenklich? Darüber ist man sich uneins in Schleswig-Holstein.
Markus Willicks steht in einer großen hell erleuchteten Halle an einem Geländer. Dahinter schimmert zu Willicks Füßen eine spiegelglatte Wasseroberfläche:
"Wir befinden uns hier im Kernkraftwerk Brunsbüttel auf der 42-Meter-Ebene, wir nennen das auch Reaktorflur. Hier wurde in der Vergangenheit der Reaktor mit Brennelementen beladen, auf- und zugemacht."
Seit zwei Monaten leitet Willicks das Kernkraftwerk Brunsbüttel. Die Anlage liegt nahe der Elbmündung, rund 100 Kilometer nordwestlich von Hamburg. 1976 ging der Meiler in Betrieb. Seit 2007 ist er vom Netz.
2018 soll es losgehen mit der Demontage des Koloss' – zumindest wenn es nach dem Betreiber Vattenfall geht.
"Und wenn wir mit dem Rückbau beginnen im kommenden Jahr, werden wir hier oben in diesem Wasserbecken die Einbauten zerlegen."
Das bedeutet: Das Besteck fürs Grobe muss her, z.B. hydraulische Scheren, Stichsägen, Mastbandsägen und Ablenksägen, um den Reaktordruckbehälter zu zerschneiden.
Das gefährlichste Material hat den Reaktorflur bereits verlassen: Am 13. Juni wurden die letzten Brennelemente entfernt. Nun lagern sie provisorisch auf dem AKW-Gelände im Zwischenlager. Zum Ärger von Umweltschützer wie Greenpeace.
"Man kann ungefähr sagen, dass mit den Brennelementen über 99 Prozent der Aktivität, die hier im Kraftwerk vorhanden war, rausgebracht wurde."
Was passiert mit der Ruine?
Bis 2031 soll an Stelle des stillgelegten Atomkraftwerks Brunsbüttel wieder eine grüne Wiese wachsen. Doch bis dahin ist es für Vattenfall ein zäher und langer Weg. Einerseits ist da die bauliche Dimension: der Rückbau. Andererseits ist da die Frage der Entsorgung der AKW-Ruine.
Auf rund 300.000 Tonnen summiert sich die Masse an verbauten Teilen. Doch nur etwa drei Prozent davon sind laut der zuständigen Atomaufsicht in Kiel radioaktiv belastet.
Die Brennelemente und Brennstäbe sollen eines Tages in das noch zu findende Endlager irgendwo in Deutschland wandern. Die Teile aus dem Reaktordruckbehälter sind wiederum für den Schacht Konrad bestimmt, sobald dieser freigegeben ist.
Was nicht ins Endlager geht, muss "freigemessen" werden
97 Prozent der 300.000 Tonnen schweren AKW-Masse würden übrig bleiben. Der Großteil davon geht in die Wiederverwertung, zum Beispiel als Bauschutt. Ein kleiner Teil wiederum soll auf Deponien entsorgt werden. Soweit der Plan. Dafür müssen jedoch sämtliche ausgebaute Teile "freigemessen" werden.
Zu Demonstrationszwecken fährt in einer kleinen Halle vor dem Reaktorgebäude ein Gabelstapler vor. Er steuert auf einen rund einen Kubikmeter großen Metallkorb zu und hievt die Kiste auf ein Laufband.
Die Box wandert jetzt in eine Maschine. Die erinnert an die Röntgenanlagen, die auf Flughäfen zu Sicherheitskontrollen eingesetzt werden. Nach rund einer Minute ist der Messvorgang beendet.
"Die Aktivität muss so wenig sein, dass eine Einzelperson, die mit diesem Material umgeht, weniger als zehn Mikrosievert im Jahr an Dosisleistung erfährt.
Georg Bacmeister ist im AKW Brunsbüttel für die Entsorgung zuständig.
Der Grenzwert von zehn Mikrosievert sei nur ein Bruchteil der Strahlung, der der Mensch im Alltag ausgesetzt sei. Da gebe es medizinische Anwendungen, Reisen mit dem Flugzeug aber auch die natürliche Strahlung.
"Der Durchschnittswert in Deutschland liegt bei 2,3 Millisievert".
Die für Freimessungen geltende Schwelle von zehn Mikrosievert sei gering, sagt Bacmeister:
"So gering, dass ich mir weder um Sie, noch um mich, noch um meine Kinder Sorgen machen würde aufgrund von Aktivität, die durch die Freigabe in den Wertstoffkreislauf abgegeben wird."
Droht eine höhere Belastung als im Normalbetrieb?
Die Initiative "Brokdorf akut" sieht das anders. Karsten Hinrichsen, Sprecher der Initiative und gleichzeitig Atom-Experte beim Umwelt-Landesverband BUND hält den Grenzwert von zehn Mikrosievert für viel zu großzügig angesetzt. Hinrichsen warnt: Wenn das Atomkraftwerk in Brunsbüttel so wie geplant zurückgebaut werde, drohe eine höhere radioaktive Belastung als im Normalbetrieb.
Das Energieministerium Schleswig-Holstein weist diese Kritik zurück. Die Zehn-Mikrosievert-Schwelle sei auf Bundesebene festgelegt worden, wenn Kiel nun für die Freimessung einen niedrigeren Wert ansetze, riskiere es Klagen durch den Betreiber Vattenfall.
Doch klar ist: Der Rückbau der drei Atomkraftwerke im hohen Norden ist für den grünen Umweltminister Robert Habeck ein Balanceakt. Schließlich gehört der Atomausstieg zu den Gründungspfeilern der Partei. Nun muss Habeck Kritiker besänftigen, die zwar gegen Atomkraft sind, aber mit der Entsorgung ihre Probleme haben. Zu ihnen gehört auch Enno Petras.
Petras leitet in Kiel den Abfallwirtschaftsbetrieb, kurz ABK. Der ABK gehört zu 100 Prozent der Stadt.
"Ich find’s zwar gut, dass der Ausstieg aus der Kernenergie gelungen ist. Mit der Entsorgung der Abfälle sind aber durchaus Ängste in der Bevölkerung verbunden."
Keine der sieben Deponien ist bereit, den Müll anzunehmen
Zum Kieler Abfallwirtschaftsbetrieb gehört auch die Deponie Schönwohld vor den Toren der Landeshauptstadt. Schönwohld ist eine von sieben Deponien in Schleswig-Holstein, die die Landesregierung für die Entsorgung eines Teils des AKW-Mülls ins Auge fasst.
Zwar sind das nur rund 8.000 Tonnen der insgesamt 300.000 Tonnen aus Brunsbüttel – und etwa 35.000 Tonnen, wenn man die anderen Atomkraftwerke in Brokdorf und Geesthacht hinzuzieht.
Doch derzeit ist laut Kieler Energieministerium keine der sieben Deponien bereit, den Müll in den nächsten Jahrzehnten anzunehmen.
Es brauche eine sachgerechte Beurteilung der Gefahr, mahnt ABK-Chef Petras an. Und weist den Vorwurf zurück, dass sich der Kieler Abfallwirtschaftsbetrieb aus der Verantwortung stiehlt.
"Es geht dabei ja nicht nur darum, dass die Abfälle über viele Kilometer in Schleswig-Holstein transportiert werden. Sondern es geht auch um den Schutz der Mitarbeiter auf einer Deponie. Und es geht um die Frage, in welcher Art und Weise können denn Abfälle überhaupt auf einer Deponie abgelagert werden, ohne dass es zum Beispiel über Staubflug zu einer Verbreitung von radioaktiv strahlendem Material kommt."
Das Kieler Energieministerium ist weiterhin im Dialog mit den Deponiebetreibern. Für das stillgelegte Kernkraftwerk in Brunsbüttel bedeutet dies: Erst wenn die Genehmigung da ist, kann der Abriss beginnen.