Aus den Feuilletons

"Die männliche Sexualität ist ein unerschlossener Kontinent"

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Was will Mann beim Sex? © Herzschlag | photocase.de
Von Arno Orzessek |
Das Thema Sexualität ist in den Feuilletons der vergangenen Woche omnipräsent. Die französische Psychoanalytikerin Julia Kristeva etwa sieht in der "NZZ" die Männer in ihrer Sexualität missverstanden. In der "FAZ" warnt Kulturstaatsministerin Monika Grütters vor einer "Diktatur des Zeigbaren".
"Klebt das Gedicht meines Vaters überall hin!"
Das forderte in der Tageszeitung DIE WELT Nora Gomringer, die Tochter des Schweizer Lyrikers Eugen Gomringer.
Dessen Gedicht "Avenidas", das in schwarzen Lettern an der Fassade der Berliner Alice Salomon Hochschule steht, soll entfernt werden.
Nach erbitterter Debatte hat sich der AStA durchgesetzt. Er behauptet, die Gomringer Zeile "Alleen und Blumen und Frauen und ein Bewunderer" erinnere "unangenehm an sexuelle Belästigung, der Frauen alltäglich ausgesetzt sind".
In der WELT machte Nora Gomringer den gleichermaßen sarkastischen und listigen Vorschlag, das Gedicht an der Mauer zu belassen, darüber jedoch die Zeile "‚Hier stand einst‘" hinzuzufügen – und zwar "gern in blinkender Neonschrift".

Kunstverbot verleitet zur Guerilla-Poesie

"Da ich befürchten muss [gestand Gomringer], dass mein Vorschlag auf viele Fragezeichen trifft, habe ich eine Guerillaaktion gestartet und begonnen, den Text auf alle meine Reisen mitzunehmen. Ich klebe ihn als Aufkleber überall hin. Wird ihm 'seine' Mauer [an der Hochschule] entzogen, soll er viele andere erhalten."
So weit Nora Gomringer. Nebenstehend protestierte der Axel Springer Verlag gegen "den Eingriff in die Kunst und Poesie" an der Salomon Hochschule und gab bekannt, Gomringers Gedicht werde mittels einer LED-Wand auf dem Dach des Berliner Verlagshochhauses präsentiert.
In der FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG bemerkte Kulturstaatsministerin Monika Grütters, es sei "müßig", den AStA noch einmal für die Behauptung zu kritisieren, bei der inkrimierten Blumen-und-Bewunderer-Zeile handele es sich um eine "sexuelle Degradierung der Frau".
Grütters warnte jedoch vor einer "Diktatur des Zeigbaren", in der nur noch konfliktfreie Kunst erlaubt ist.
"Die Diktatur des Zeigbaren beginnt dort [so Grütters], wo politische Machthaber, gesellschaftliche Gruppen oder auch Einzelne ihr Terrain für sakrosankt erklären. Selbstverständlich müssen Künstler auch Widerspruch und Kritik ertragen. Doch eine Kunst, die sich festlegen ließe auf die Grenzen des politisch Wünschenswerten, eine Kunst, die das überall lauernde Risiko verletzter Gefühle scheute, die den Absolutheitsanspruch religiöser Wahrheiten respektierte, die gar einer bestimmten Moral oder Weltanschauung diente – eine solchermaßen begrenzte oder domestizierte Kunst würde sich nicht nur ihrer Möglichkeiten, sondern auch ihres Wertes berauben."
Tja, das musste offenbar mal wieder gesagt werden – in diesem Fall von Monika Grütters in der FAZ.
Selbst wer die geplante Übermalung des Gomringer-Gedichts befürwortet, wird zugestehen: Frauen sind oft härteren sexuellen Anmaßungen als blumenreicher Poesie ausgesetzt.

Ist Dieter Wedel der Harvey Weinstein Deutschlands?

Und in dieser Woche legte ein Dossier in der Wochenzeitung DIE ZEIT nahe, dass sich der Regisseur Dieter Wedel im Degradieren, Missbrauchen und Vergewaltigen mutmaßlich noch stärker hervorgetan hat, als ohnehin seit einer Weile öffentlich vermutet wird.
Die TAGESZEITUNG jedenfalls war sich ganz sicher:
"Dass es nicht um Denunzierung gehen kann, ist eindeutig klar. Eine Gruppe Schauspieler*innen hätte sich quasi in rufmeuchlerischer Absicht zusammenrotten müssen, um zeitlich genau getimt gegen den ehemaligen Arbeitgeber auszusagen. Vielmehr muss es Mitwisser*innen gegeben haben. Menschen, die die Entgleisungen und Straftaten ihrer Kollegen gedeckt haben. […] Ähnlich wie bei [Harvey] Weinstein kann man jetzt nur hoffen, dass das unnötige Leid der Opfer Konsequenzen hat."
So Jenni Zylka in der TAZ.
Im aktuellen SPIEGEL verweist Nils Minkmar auf Sandra Maischbergers TV-Dokumentation "Dr. Wedel und Mr. Hyde", die den Regisseur als unbarmherzigen Machtmenschen vorstellt.
Und Macht, namentlich im Kontext von Kunst, ist für Minkmar der Schlüsselbegriff zum Verständnis des Missbrauchs.
"Es sind immer diese geschlossenen Systeme mit hehrem Anspruch und einer Sondermoral, die sich für Szenen eigenen, wie die Frauen sie in der ‚Zeit‘ beschrieben haben. Dort, wo ein – angeblich genialer, erleuchteter, gütiger – Mann alle Ansagen macht und sich selbst, aufgrund all des Guten, das er schafft und intendiert, von aller Schuld befreit."
Harvey Weinstein hin, Dieter Wedel her – in der NEUEN ZÜRCHER ZEITUNG behauptete die französische Psychoanalytikerin Julia Kristeva:
"Die männliche Sexualität ist ein unerschlossener Kontinent."
Kristeva bemängelte, dass der Feminismus – konzentriert auf die weibliche Sexualität – "die Frage nach der Gewalt als Teil der Erotik des Mannes" vernachlässige.
Und sie erwähnte unterschiedliche Reaktionen "auf den einseitigen Feminismus":
"Es gibt […] Männer, die ihre Libido verlieren oder Probleme haben, ihre Sexualität auszuleben. Sie fühlen sich kastriert, schlimmer, in der Identität abgetötet, noch dazu erniedrigt und orientierungslos. Wieder andere kompensieren die Schwächegefühle der Weiblichkeit gegenüber mit verstärkten Aggressionen oder mit einer perversen Sexualität, manchmal bis hin zum Sadismus",
erklärte in der NZZ Julia Kristeva, die vermutlich keinen Wert auf den Titel "Männerversteherin" legt.

Loblieb auf den Sonnenkönig der Haute Cuisine

Obwohl wir beileibe nicht garantieren können, dass in seinen Küchen nicht manches vorgefallen ist, was unter #MeToo zu Wort kommen sollte, wollen wird doch Abschied nehmen von dem Meisterkoch Paul Bocuse – für die FAZ "der Sonnenkönig der Haute Cousine".
"Er war der Weltgewandteste und gleichzeitig der Bodenständigste unter den Meisterköchen, eine imperiale Erscheinung mit universaler Strahlkraft und doch ein glühender Lokalpatriot, ein Revolutionär der Kochgeschichte, der fast sein ganzes Leben lang das Hohelied der Tradition sang, der Herr über ein globales Feinschmeckerimperium, für den nichts über die Küche seiner Heimat im Herzen Frankreichs ging"…
Feierte der FAZ-Autor Jakob Strobel y Serra den Herd-Olympier Bocuse – unter einer Überschrift, deren Befolgung wir Ihnen, liebe Hörer, durchaus nahelegen:
"Das Leben ist eine Farce, also genieße es in vollen Zügen."
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