Guter Schuft vs. böser Kunst-Mafioso
Zum Jahresende bieten die Feuilletons Jahresrückblicke soweit das Auge reicht, überschlagen sich dabei aber nicht gerade mit Enthusiasmus: Chris Dercon enttäuschte an der Volksbühne ähnlich wie der Kunstbetrieb allgemein. Die "Welt" blickt derweil in die Zukunft - und hat mit Marx gut lachen.
Beginnen wir mit dem Schluss: Die SÜDDEUTSCHE ZEITUNG hat zwölf Schriftsteller gebeten, über den letzten Satz in der deutschsprachigen Literatur zu schreiben, der ihnen "besonders wichtig" ist. Und Clemens J. Setz hat sich für die letzten Worte aus "Krabat" von Otfried Preußler entschieden: "Während sie auf die Häuser zuschritten, fing es zu schneien an, leicht und in feinen Flocken, wie Mehl, das aus einem großen Sieb auf sie niederfiel." Letzte Sätze und die Gedanken von Autoren darüber, so füllt die SZ eine ganze Feuilletonseite. Und eine weitere mit Ideen, die angeblich das Jahr 2017 geprägt haben.
Rückblicke überhaupt in allen Feuilletons. Die prägendsten Kinofilme, Serien und Bücher des Jahres. Und wie stand es eigentlich 2017 um die Kunst? Das angebliche "Superkunstjahr", mit der Documenta in Kassel und Athen, der Biennale in Venedig und Skulpturenprojekten in Münster, war "nicht so super", schreibt Nicola Kuhn im TAGESSPIEGEL. Die Skulpturenprojekte seien "klarer Publikumsliebling" gewesen. Wenn da nur nicht diese Documenta gewesen wäre! Die habe die Kunst instrumentalisiert: "Der polnische Kurator hatte sich als moralischer Zuchtmeister aufgespielt, der mit den Mitteln der Kunst einen Weltverbesserungsplan inszenierte."
Kummer über die Volksbühne
Apropos Inszenierung: Chris Dercon habe bisher nur die Zweifel an ihm bestärkt, schreibt, ebenfalls im TAGESSPIEGEL, Rüdiger Schaper über den neuen Intendanten der Berliner Volksbühne, der Frank Castorf unter großen Protesten ablöste: "Castorf war der gute Schuft, den man lieben musste, ein Tony Soprano. Dercon ist in der Serie um Berlins Theaterseele die Rolle des bösen Kunst-Mafioso bestimmt, wobei er doch bloß ungeschickt, schlecht beraten und auch arrogant auftritt. Dazu gehört, dass es sich bei vielen Stücken auf seinem Spielplan um aufgepumpte Wiederaufnahmen handelt."
"Es gibt keine Stars mehr, nur noch Kollektive", versucht es Katrin Bettina Müller in der TAZ mit einer etwas nüchterneren Beschreibung des Dercon-Theaters. "Das Individuum verschwindet, taucht ab hinter einer Maske, wird anonymisiert in der Masse. Das Leben ist eine Karaokeshow, die Formen geliehen. Gesten und Sätze sind Zitate. Kunst, die sehr arm aussieht, kostet besonders viel."
Blick nach vorn zu Marx
Dann vielleicht doch lieber nach vorne blicken. Ins neue Jahr. "Happy new Gedenkyear!" wünscht die WELT. 2018 jähren sich die Studentenproteste zum 50. und die Novemberrevolution zum 100. Mal. Und Karl Marx würde 200. Und zu alldem erscheinen natürlich neue Bücher. Die WELT verrät – Zitat –, "auf welche Knallkörper Sie sich schon jetzt einstellen dürfen".
Felix Stephan hat schon mal vorab in Dietmar Daths Marx-Einführung reingelesen und ist von einem recht langen Satz daraus schwer beeindruckt: "Weil das fortbestehende Unrecht im nicht mehr feudalen Gesellschaftszustand für Marx seine Wurzel im Widerspruch zwischen Kapital und Arbeit hat, und weil darüber hinaus das Kapital den Nutzen aus diesem Widerspruch zieht, während das Proletariat die Verliererkarte gezogen hat, gleichzeitig jedoch für das Funktionieren des Ganzen unerlässlich ist, postulierte Marx, dass niemand anders als dieses Proletariat die Klassenordnung beseitigen konnte: alle Formen von Unterdrückung, Ausgrenzung, Ausbeutung, Einschließung, kurz: ‚die ganze alte Scheiße‘ (so nannten das Engels und er in ihrem Buch ‚Die deutsche Ideologie‘)."
Dazu Felix Stephans Kommentar: "Wenn Ihre Kinder Sie dereinst fragen, was es eigentlich mit diesem Karl Marx auf sich hat, […] lesen Sie ihnen doch einfach diesen Satz vor und Sie sind auf der sicheren Seite."