Autor Thoma Hettche über den Wert von Literatur

Warum ein Buch Lesen ein Stück Freiheit ist

Thomas Hettche, deutscher Schriftsteller, aufgenommen am 08.10.2014 in Frankfurt_am_Main. Foto: Erwin Elsner | Verwendung weltweit
Der Autor Thomas Hettche © dpa
Thomas Hettche im Gespräch mit Joachim Scholl |
Für den Schriftsteller Thomas Hettche ist Literatur eine Form der Freiheit, "wenn Text und Leser in ein intimes Verhältnis treten". Dass ein Mensch mit einem Buch in eine fremde Welt gelangen kann, sei das "Zündungserlebnis der Aufklärung, was uns bleibt als utopische Erfahrung".
Joachim Scholl: Ich darf jetzt einen der profiliertesten deutschen Schriftsteller der mittleren Generation begrüßen , vielfach preisgekrönt für ein inzwischen echt umfangreiches Werk, der letzte Roman "Pfaueninsel" riss die Kritik wie ein großes Publikum gleichermaßen hin: Thomas Hettche heißt der Mann, der Künstler, und er ist zu Besuch bei uns. Willkommen!
Thomas Hettche: Schönen guten Morgen!
Scholl: Kenner Ihrer Arbeit, Herr Hettche, preisen nicht nur die Belletristik, sondern auch Ihre Nonfiction. Es gibt schon zwei Bände, die man so als literarische Autobiografie auffassen kann, Texte über Literatur sind das, über Ihr Schreiben. Jetzt ist ein weiteres Buch mit Essays herausgekommen. Ist das so ein fortlaufender, begleitender Prozess Ihrer Arbeit, diese ästhetischen Reflexionen?
Hettche: Ach, es gibt immer die Phase nach den Romanen, wo ich so auf der Suche bin nach einem neuen Stoff, und da sammeln sich komischerweise immer Texte an. Ich würde das aber gar nicht so ganz genau trennen. Ich finde, meine Essays versuchen immer auch erzählerisch zu sein, versuchen auch, Sagen zu schildern, und haben meistens auch so ein Ich, was sozusagen beschrieben wird. Insofern changiert diese Form für mich immer zwischen Nachdenken und Erzählen. Zwischenformen interessieren mich sehr.
Scholl: Also was bei uns gleich ordentlich gezündet hat, Herr Hettche, das waren Ihre Überlegungen zum literarischen Realismus, eins der ehrwürdigsten Schriftstellerprobleme überhaupt, und bei Ihnen liest man solche Sätze, ich zitiere mal einen:
"Es geht um eine alltägliche Realität, deren Haut zerreißt. Es geht um eine Literatur, die angesichts der Realität des Terrors beides in den Blick nimmt, das Tatsächliche und seine Bedeutung."
Da springt einem natürlich das Wort Terror ins Auge. Was hat denn der Terror, also diese gespenstische Realität, für Sie als Schriftsteller verändert?

"Wir müssen uns in der Welt fühlen"

Hettche: Als ich über Texte nachdachte zu diesem Buch, so ab 2015 ungefähr war das natürlich ein wichtiges Element. Unser aller Leben ist bestimmt, ich sage mal, von der Frage, die der Terror an die westlichen Gesellschaften stellt, und also die Kunst muss natürlich diese Frage auch beantworten, und in der Tat war das der Antrieb zu überlegen, was ist denn Literatur, was kann sie denn sein?
Sie kann natürlich sein – und das erleben wir, das lesen wir auch ständig –, sie kann schildern, wie die Welt ist angeblich, und sie kann Fluchtmöglichkeiten bieten. Wir erleben ja eine Flut der mystischen, mythischen Geschichten. Wir alle verfolgen die "Star Wars"-Saga und verfolgen irgendwie Fantasywelten und leben in diesen Genealogien, und zugleich lesen wir von angeblich realistischer Abschilderung wie die Welt ist.
Aber ich glaube, Literatur muss uns auf eine andere Weise berühren. Wenn wir mit dem Terror umgehen wollen, müssen wir als ganze Person ergriffen werden und müssen uns in unserer Welt fühlen. Ich glaube, wir fühlen uns viel zu oft neben dieser Welt stehend, und das schien mir dann die Frage zu sein, die ich mal ausführen sollte, und die 21 Texte dieses Buches kreisen darum, wie nähern wir uns Literatur und Welt an, und wie kann man diese Haut des angeblich Tatsächlichen zerreißen, um das zu sehen, was dahinter ist.
Der Autor Thomas Hettche liest aus seinem Buch "Die Pfaueninsel".
Der Autor Thomas Hettche liest aus seinem Buch "Die Pfaueninsel".© picture alliance / dpa / Susannah V. Vergau
Scholl: Ich meine, die literarischen Avantgarden der letzten 200 Jahre, die sind immer angetreten mit dem Logo auch, die Beschreibung der Welt ist nicht so einfach, man kann nicht einfach mimetisch abbilden, was ist, sondern wir müssen es brechen, wir müssen die Realität zersplittern. Wir haben also seit Beginn des 20. Jahrhunderts eine literarische Moderne, wo man sagt, das altbackene, traditionelle realistische Erzählen ist out. James Joyce versus Thomas Mann, Samuel Beckett versus Hemingway.
Sie schreiben dagegen, Realismus ist für Sie weder ein Epochenbegriff noch ein Verfahren, sondern eine Haltung zur Welt. Wie sieht diese Haltung aus?

Der unheimlich moderne Wilhelm Raabe

Hettche: Zum einen erst mal so, dass man eben diese beiden Möglichkeiten, die Sie gerade zitiert haben, dass ich die eigentlich für unproduktiv halte. Das wurde mir klar, als ich zum ersten Mal, gar nicht lange her, also etwas peinlich, aber zum ersten Mal, als ich Wilhelm Raabe gelesen habe, ein Autor aus der Mitte des 19. Jahrhunderts, ein deutscher Realist, und ich war vollkommen begeistert von der Modernität der Verfahren, die dieser Autor hat. Die Realisten in Deutschland gelten immer etwas als altbacken im Vergleich zu den französischen und englischen, die mehr so an der Moderne, der Großstadterfahrung waren.
Mir wurde aber klar, dass diese Romanautoren wie Raabe eine ungeheure Balance schaffen, indem sie zugleich eine Geschichte erzählen, die uns ergreift und deren Figuren wir folgen, deren Schicksal uns interessiert und dann zugleich aber auch deutlich machen beim Lesen uns, dass das eine Geschichte ist …
Und die Lösung, die wir als Leser ja immer hineinimaginieren in die Geschichten, die wir lesen - Wie soll es ausgehen? Was denkt der jetzt? Was kann ihm geschehen? - dass diese Lösungen immer auch mit unseren eigenen Klischees spielen und das aufreißen.
Für mich ist Literatur, die mich interessiert, eben beides: Sie nimmt den Leser mit, sie nimmt ihn als ganze Person gefangen. Deshalb der Titel auch "Unsere leeren Herzen". Literatur zielt auf unsere Emotionen, auf das Herz, aber zugleich sollte sie ihn nicht unterfordern, sollte sie ihn nicht mit den Klischees zufrieden geben lassen, die wir in den Medien Tag für Tag bekommen.
Diese Spur, wie könnte so ein Erzählen aussehen, das eben realistisch ist, die Welt in den Blick nimmt, weil es gibt die Welt außerhalb der Texte, und zugleich aber auch sensibel macht für die Verfahren, in denen wir nur sozusagen Welt in Texte hineinbekommen können.
Scholl: Mir haben diese Passagen über Wilhelm Raabe besonders gefallen, weil es mir ganz genauso gegangen ist. Ich habe ihn auch immer so eher belächelt als biedermeierlichen Opa, bis mir jemand mal gesagt hat, hey, lies mal den "Stopfkuchen" oder "Die Sperlingsgasse", dann weißt du eigentlich, wie modern … und dass er eigentlich ein Vorläufer war, dieser Wilhelm Raabe, der literarischen Moderne.
An anderer Stelle, Thomas Hettche, da zitieren Sie Friedrich Schiller aus seinen "Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen". Woran liegt es, dass wir immer noch Barbaren sind – das ist die Schiller-Frage, und Thomas Hettche erwidert: "Vielleicht ist Realismus nur ein anderes Wort für die Antwort der Literatur auf diese Frage." Da habe ich mir gedacht, das will ich mir erklären lassen.

"Ich misstraue Literatur, die Lösungen anbietet"

Hettche: Das ist schwer zu erklären. Also zunächst hat mich dieses Pathos auch der Weltveränderung und der Menschenverbesserung, der Schiller’sche Pathos sehr angerührt und sehr interessiert, und er beschreibt ja dann also erstens das Ausgangsprojekt, was damals ja noch pulsierend und modern war, das und das müssen wir tun, dann werden wir bessere Menschen, und dann endet die Unterdrückung und das Leid in der Welt.
Und zugleich die Erkenntnis, die damals schon da war mit der französischen Revolution: nein, das endet im Terror, und aus dieser Erfahrung, aus der Hoffnung und der Enttäuschung der Hoffnung zieht Schiller seine Kraft, und ich glaube, dass in dieser Erfahrung Literatur immer angesiedelt ist.
Ich misstraue Literatur, die Lösungen anbietet oder eine Flucht anbietet. Beides, finde ich, ist verständlich, also vom Leser her, dass man sowas sucht, aber ich denke, der Anspruch müsste höher sein, der Anspruch müsste sein, dass die Hoffnung wachgehalten wird und dass man nachdenkt über die Verbesserung der Welt und über unsere Verbesserung und zugleich, dass man die Unmöglichkeit einsieht.
Scholl: Eine permanente Spur in Ihren Texten ist auch der Einfluss der modernen virtuellen Realitäten, wie sich das eigentlich auswirkt auf diese realistische Haltung zur Welt. Wie geht es Ihnen da?
Hettche: Ich bin ja ein Technikfreak eigentlich und habe sehr früh mich mit dem Internet beschäftigt und war da auch sehr aktiv Ende der 90er-Jahre, und dann ging es mir wie allen, dass das Versprechen der Freiheit – und das nehmen wir alle wahr – eher einem Alltag der Kontrolle gewichen ist, und in den Debatten der letzten 20 Jahre, wo denn der Platz des Buches sei, der Literatur sei in dieser veränderten medialen Wirklichkeit, die ja lange sehr kulturpessimistisch geführt worden ist, wurde mir irgendwann klar, dass das, was das Buch angeblich so obsolet macht, zugleich das ist, was es in die Zukunft führen wird, nämlich die Tatsache, dass wir mit einem Buch alleine sind, dass der Text und der Leser in ein intimes Verhältnis treten, was ein Verhältnis der Freiheit ist, weil in dem Augenblick, wo wir einen Roman lesen, sind wir nicht angestöpselt, an einen Roman oder ans Buchlesen. Keiner kann tracken, an welcher Seite wir das Buch zuschlagen, keiner weiß, wo wir was unterstreichen.
Ich glaube, dass das im Grunde diese Erfahrung auch, der Mensch mit dem Buch, der in eine fremde Welt kommen kann, der einen eigenen Gedanken denken kann, das war einmal sozusagen das Zündungserlebnis der Aufklärung im Grunde, und es ist in unserer Gegenwart auch das, was uns bleibt als utopische Erfahrung.
Insofern sehe ich die mediale Wirklichkeit spaßhaft wie alle und kritisch wie alle, bin aber vollkommen überzeugt davon, dass Literatur als Buch, in diesem Objekt Buch, was ja auch eine unwiderlegbare Schönheit haben kann und eine nicht aufhebbare Dauer, dass diese Literatur in diesem Gefäß noch lange Bestand haben wird.
Scholl: "Literatur belügt uns weniger als wir es selbst tun" ist einer meiner Lieblingssätze in Ihrem Buch, Thomas Hettche, fährt einem direkt ins Mark. Die Wahrheit, die liegt also doch in den Büchern.
Hettche: Ich würde es gerne glauben.
Scholl: Ich bin mir sicher!
Hettche: Danke!
Scholl: Thomas Hettche, danke für Ihren Besuch! Alles Gute und auch eine schöne Weihnachtszeit Ihnen! Der Band "Unsere leeren Herzen: Texte über Literatur" von Thomas Hettche ist jetzt im Kiepenheuer und Witsch Verlag erschienen, hat 202 Seiten und kostet 20 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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