Die Schule des Lebens in Bildern
Was hast du mit 80 gelernt? Oder mit drei? Oder 49? Diesen Fragen ist die Autorin Heike Faller nachgegangen. Entstanden ist daraus das Kinderbuch "Hundert - Was du im Leben lernen wirst". Überraschend seien vor allem die Antworten alter Menschen gewesen, erzählt Faller.
Joachim Scholl: Heike Faller ist Journalistin. Sie ist viele Jahre Redakteurin beim "Zeit-Magazin" und Tante von zwei Nichten, die sie als Babys inspiriert haben sollen zu einem Buch, das derzeit viele Leser- und Leserinnenherzen erobert. Der Titel: "Hundert. Was du im Leben lernen wirst". Heike Faller ist bei uns im Studio, willkommen, guten Morgen!
Heike Faller: Guten Morgen!
Scholl: Was waren das für Momente, Frau Faller, mit Lotta und Paula, so heißen Ihre Nichten, die Sie auf die Idee gebracht haben sollen, ein Buch, und zwar genau dieses spezielle zu schreiben?
Faller: Es war eigentlich vor allem so ein Moment, als Nichte Lotta eben auf die Welt kam, vor sechs Jahren, und so als Säugling vor mir lag und ich sie so anschaute und dachte: Oh Gott, was alles vor dir liegt. Und dann habe ich angefangen, eigentlich ein Gedicht zu schreiben, wo ich einfach aufgeschrieben habe, welche Lernerfahrung, welche Erfahrungen sie im Leben machen würde, und dachte, ich gebe ihr das später mal, und bin dann so bis zum Alter von zehn gekommen, habe dann so pro Jahr eine Erfahrung aufgeschrieben. Und dann dachte ich: Ach, da machst du mal ein Buch draus, also ein Kinderbuch.
Scholl: "Hundert", damit sind wirklich tatsächlich Jahre gemeint, und es beginnt mit einem Bild zweier Erwachsener vor einem Kinderwagen, vermutlich die Eltern, und darunter steht: "Du lächelst zum ersten Mal in deinem Leben, und die anderen lächeln zurück." Das war wahrscheinlich auch Ihr Gedanke, als Sie dann vor Lottas Kinderwagen standen oder vor ihrer Wiege?
Faller: Das ist ehrlich gesagt ein Satz, der sehr viel später eigentlich entstanden ist, als wir dann mit der Arbeit an dem Buch schon lange begonnen hatten. Ich hatte viele andere Sätze vorher, und klar, der erste Satz ist natürlich mit der schwerste.
Alte Menschen haben keine Angst mehr vor dem Tod
Scholl: Sie schreiten dann also von Jahr zu Jahr. Wie kamen denn aber dann die Geschichten, die Weisheiten, auf die wir gleich kommen werden, zustande? Sie haben sie sich ja nicht nur selbst ausgedacht?
Faller: Genau. Es sind ja eigentlich fast vier Jahre gewesen, wo ich immer mal wieder darüber nachgedacht habe, dran gearbeitet habe, Verlag gesucht. Sprich, ich hab immer mal wieder Leute auch befragt: Was habt ihr im Leben so gelernt? Oder was waren für euch wichtige Lernerfahrungen in den letzten Jahren? Da kommt einiges zusammen, also natürlich eben neben den eigenen Erfahrungen. Und später habe ich dann für die alten Jahre, also zwischen 80 und 100, wo ich dann wenig Leute kenne in dem Alter, wirklich angefangen, gezielt Leute zu interviewen und zu befragen. Und die haben mir wirklich Sachen erzählt, die ich so nicht erwartet hätte.
Scholl: Was war dazu die Frage? Was man im Leben gelernt hat?
Faller: Ich habe die eigentlich vor allem gefragt, was habt ihr eigentlich im Alter gelernt. Erlernt man noch was im Alter? Und ich glaube, die überraschendste Sache, die ich wirklich überhaupt nicht wusste, dass es der Fall ist, dass eigentlich alle alten Menschen gesagt haben, dass sie keine Angst mehr vor dem Tod haben. Die haben natürlich alle Angst vor dem Sterben, vor Schmerzen, vor dem Pflegeheim, aber keiner hat mehr Angst vor seiner eigenen Endlichkeit. Und ich habe diese Angst mit 47 noch total. Ich fände es fürchterlich, wenn ich nicht mehr leben könnte. Das war für mich wirklich neu, dass es so ein Alter gibt, wo die Leute sagen, jetzt ist es auch gut, auch Menschen, denen es gut geht, die nicht depressiv sind oder so.
Scholl: Wer waren denn diese Menschen, die Sie da getroffen haben?
Faller: Ich habe einige alte Menschen in Berlin getroffen, ich wollte auch wissen, wie ist es eigentlich, wenn man seinen gesellschaftlichen Status verloren hat. So habe ich getroffen einen ehemaligen DDR-Generaldirektor eines großen Kombinats, der jetzt eben pensioniert ist, den habe ich irgendwo in so einem kleinen Dörfchen hinter Marzahn getroffen. Dann habe ich den ehemaligen DDR-Botschafter in Indien getroffen, einfach weil mich dieser Aspekt interessiert hat. Wen ich auch gefragt habe, um mal zu erfahren, wie es eigentlich ist, wenn man sehr arm und sehr verloren ist in der Welt, eine syrische Flüchtlingsfamilie in Istanbul, die ich sowieso interviewt hatte, die habe ich dann eben auch gefragt: Was habt ihr eigentlich gelernt im Leben? Dann habe ich eine sehr nette Künstlerin getroffen in Tempelhof, die ganz viel beigesteuert hat, der unheimlich viel dazu einfiel. Die will leider anonym bleiben. Ich würde ihren Namen gern nennen. Und dann habe ich natürlich ganz viele Freunde und Bekannte gefragt, die eben schon älter sind.
Scholl: Und die Sätze wirken sehr philosophisch, einen habe ich mir rausgeschrieben: "Wenn du etwas erreichen willst, überleg dir den allerkleinsten Schritt, den du dazu gehen musst." Das hört sich in meinen Ohren wie so nach einem alten Griechen an, so Diogenes oder wer auch immer. Wer hat Ihnen denn diese Maxime erzählt? Erinnern Sie sich noch daran?
Vom Schulschwänzer zum besten Abiturienten
Faller: Das war auch ein Interview-Partner, das war David aus Nigeria, den ich eigentlich nur am Telefon interviewte, und der hatte das beste Abitur oder so ähnlich von Nigeria gemacht, war auf ein tolles Internat gekommen in Südafrika. Ich hatte überlegt, über den zu schreiben, und habe ihn gefragt: Was hast du denn eigentlich gelernt, bist ja ein ganz besonderer junger Mann? Und dann hat er mir das erzählt, dass er so ein Selbsthilfebuch gelesen hat, dass man eben, wenn man was erreichen wollte, in seinem Fall ein sehr gutes Abitur – er war vorher ein schlechter Schüler – eben den allerkleinsten Schritt überlegen müsste. In seinem Fall waren das solche Schritte wie Hausaufgaben machen oder rechtzeitig im Unterricht da sein, was für ihn aber sehr schwer umzusetzen war. Und das hat er sich dann überlegt, hat das dann umgesetzt, und dann hat er mir noch gesagt, man müsse einen Schritt exakt 19 Mal wiederholen, und dann hätte man ihn sich angewöhnt, dann sei er sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen. Das fand ich einen ganz süßen Satz, zumal es bei David eben auch von Erfolg gekrönt war. Es deckt sich auch – ich habe mal vor Jahren eine Geschichte über Selbstdisziplin gemacht –, das deckt sich auch mit dem, was so Disziplinforscher eigentlich sagen zum Thema Ziele-erreichen. Die meisten Menschen nehmen sich viel zu große Sachen vor und wundern sich dann, warum sie eben nie abnehmen, nie joggen gehen. Der Trick ist halt, einen sehr kleinen Schritt sich zu überlegen und den immer wieder zu wiederholen.
Scholl: Sie haben das Buch zusammen mit dem Zeichner und Illustrator Valerio Vidali entwickelt. Wie kamen Sie zusammen? Was war das für eine Zusammenarbeit?
Faller: Ich habe den eigentlich gefunden im Internet. Ich habe nach einem Illustrator gesucht, der eben sehr ernst illustrieren kann für die erwachsenen Jahre oder auch die traurigen Lernerfahrungen, der aber auch kindlich illustrieren kann, weil es eigentlich ja ursprünglich schon als Kinderbuch gedacht war. Und es ist gar nicht so leicht, jemanden zu finden. Ich habe wirklich viele Abende nach der Arbeit eben Illustratoren angeguckt, und irgendwann habe ich Valerio gefunden und dachte, das ist er, passt super, und habe ihn gefragt, habe ihn angemailt. Dann stellte sich heraus, er lebte ums Eck in Berlin, ist Italiener eigentlich. Und da haben wir uns getroffen, und er hat eigentlich sofort ja gesagt, hat sofort eigentlich so das Potenzial und auch die Poesie gesehen, und es war für ihn auch ein wichtiges Thema mit 30.
Scholl: Die Härten des Lebens, die haben Sie ja auch für die späteren Jahre reserviert. Kapitel 62/63 wirkt schon fast makaber, also die Seiten, das Jahr. Man sieht einen Vogel und eine Katze, und darunter steht: Niemand hält sich selbst für böse. Und auf der nächsten Seite sind nur noch ein paar Federn übrig – also fressen und gefressen werden. War das Ihr Einfall, oder hat das Valerio Vidali sich ausgedacht, ich mache nur einfach zwei Federn, und damit ist alles gesagt?
Faller: Das entstand eigentlich an einem der allerletzten Abende, wo wir schon fast fertig waren mit dem Buch. Und Valerio hatte erst die Federn gemalt, und wir saßen zu dritt rum, haben halt die letzten Feinheiten gemacht. Das waren die Lektorin, Johanna von Rauch, Valerio und ich, und wir haben halt irgendwie noch so letzte Feinheiten gemacht, und dann waren da die Federn, und plötzlich entstand so im Gespräch die Idee, könnte man da nicht so ein Doppelbild machen.
Und dann kochst du doch wieder Brombeermarmelade
Scholl: Ein Motiv, das sich durchzieht, ist interessanterweise Brombeermarmelade. Was hat es denn damit auf sich?
Faller: Ich bekomme tatsächlich immer, wenn ich bei meinen Eltern zu Hause bin, sehr häufig ein Glas selbstgemachte Brombeermarmelade mit. Ich mag die sehr gern. Das ist so der eine Aspekt. In das Buch reingeschlichen hat sie sich eigentlich dadurch, dass ich auch ein sehr altes Ehepaar interviewte in Pankow, und da sagte er den wunderschönen Satz, jedes Jahr, wenn er in den Keller geht und die alten Brombeermarmeladengläser in den Keller bringt, denkt er, das war wahrscheinlich das letzte Mal. Und dann machte er so eine Pause, und dann sagte er, und dann machst du doch wieder Brombeermarmelade ein. Und das fand ich halt einfach so eine tolle Zusammenfassung über auch das Thema Endlichkeit. Und dann hatte ich den Satz aufgeschrieben, und dann wurde mir irgendwie klar, dass Brombeermarmelade wurde dann so ein Motiv in dem Buch, also Motiv sozusagen, weil wenn man selbst lernt, Brombeermarmelade zu machen, es nicht mehr von der Mutter quasi bekommt, ist man auch so ein bisschen erwachsen. Das hat auch was mit gut zu sich selbst sein zu tun, wenn man eben gut kochen kann, und solche Sachen. Und so tauchte das Motiv dann immer öfter auf.
Scholl: Wie haben Sie sich das eigentlich insgesamt gedacht mit diesem Buch, Frau Faller? Ist es ein Kinderbuch für Erwachsene, oder ein Erwachsenenbuch für Kinder? Sie haben es, glaube ich, auch getestet?
Faller: Gedacht habe ich es mir wirklich als Kinderbuch, ich wollte ein Kinderbuch machen, was Kinder anfangen zu lesen, was kindlich anfängt und das dann immer erwachsener wird, und was die Kinder auch überfordert, aber im Vertrauen darauf, dass Kinder ja sich unheimlich für die Erwachsenenthemen interessieren, wenn es um die letzten Dinge geht, um Tod oder um "Was ist böse?" oder um böse Menschen, dann spitzen Kinder ja immer ihre Ohren, und die Erwachsenen schicken sie wieder weg. Deshalb wollte ich genau so ein Buch machen, was Kinder in diese Welt auch einweiht. Der Verlag hat dann recht bald gesagt, nein, das ist ein Familienbuch, das man zusammen liest. Stimmt auch, weil Kinder natürlich vieles nicht verstehen, das heißt, man muss vielleicht einen Erwachsenen fragen, also haben wir es als Familienbuch bezeichnet. Und jetzt die Leserreaktionen, die ich bekomme, sind wirklich von Leuten allen Alters. Eine 80-Jährige aus der Schweiz hat mir geschrieben, sie hätte es sich gekauft.
Scholl: Sie haben offensichtlich auch einen Nerv getroffen bei vielen Leserinnen und Lesern. Die erste Auflage des Buchs war ruckzuck vergriffen. Hat Sie das überrascht?
Faller: Ich dachte am Anfang, das könnte ein Buch werden, das entweder überhaupt nicht sich verkauft, das einfach ein Geschenk für meine Nichten bleibt, ein quasi privates Projekt, oder wenn es sich verkauft, dass es sich sehr gut verkaufen würde. Ich dachte, entweder das eine oder das andere wird.
Scholl: Und es ist auch zeitlos sozusagen, es wird auch nicht alt in dem Sinne.
Faller: Das wäre schön.
Scholl: Apropos Paula und Lotta, Sie sagten, vor sechs Jahren ist Paula geboren, oder war es Lotta?
Faller: Ist Lotta geboren.
Scholl: Haben die ein bisschen mitgemacht in den vier Jahren? Waren die beiden auch Testleserinnen für Sie?
Faller: Genau. Die Paula war halt vier, als ich die Idee hatte. Ich hab ihr dann davon erzählt, hat sie auch spannend gefunden. Und immer, wenn ich sie besucht habe, haben wir eigentlich so dran gearbeitet, drüber gesprochen. Sie hat auch den Satz auf Seite 6 beigesteuert, "Du lernst, um sieben aufzustehen, wenn du zur Schule gehst." Nein, die wurde immer wieder, also speziell Paula, die ältere, die jetzt zehn ist, wurde halt immer wieder damit konfrontiert, hat auch mir gesagt, was sie versteht, was sie nicht versteht, wo ich Sätze ändern soll. Und später habe ich es aber dann noch mal in so einer ganzen Kindergruppe in Berlin getestet, einfach um zu sehen, wie reagieren eigentlich Kinder darauf. Es war fantastisch, es waren fünf Kinder zwischen fünf und zehn, und zwei Stunden lang haben wir nur über das Buch geredet, und dann wollte ich aufhören, und die wollten immer noch weitermachen. Und da dachte ich, okay, das hat echt was Besonderes.
Scholl: Danke schön, Heike Faller, dass Sie bei uns waren.
Faller: Sehr gern!
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