Autos, Gentechnik, Massenüberwachung

Das haben wir niemals beschlossen

Dichter Verkehr auf dem Kaiserdamm in Berlin
Mit Autos vollgestopfte Städte? Wer hat das beschlossen? © picture alliance / dpa / Paul Zinken
Von Timo Rieg · 30.06.2017
Der technische Fortschritt hat unser aller Leben verändert. Nur zum Guten? Denken wir eigentlich vorher darüber nach, was wir wollen, was sinnvoll und wichtig ist? Oder nehmen wir Entwicklungen allzu naiv und kritiklos hin, um uns später darüber zu ärgern?
Wie kann man nur in Berlin mit dem eigenen Auto fahren? Verglichen mit dem Netz aus Bussen und Bahnen sind Autos teuer, unpraktisch und langsam. Und für viele Fahrten wäre sowieso das Fahrrad das beste Verkehrsmittel - wären da nicht die vielen Autos.
Wie das Leben in Berlin und anderen Großstädten wohl blühen würde, gäbe es keinen privaten Autoverkehr und die Taxis führen gemächlich, still und schadstofffrei mit Elektromotoren?

Ist der Verbrennungsmotor eine Naturerscheinung?

Aber das steht nicht zur Diskussion, denn erstaunlicherweise wehrt sich kaum jemand gegen den städtischen Autoverkehr. Wenn nachts in Neukölln zwei Besoffene mit ihren Stimmbändern protzen, kommen sofort drei Polizeiwagen angeschossen.
Aber dass die ganze Nacht Autos, Motorräder und LKW so viel Krach machen, dass man nicht bei offenem Fenster schlafen kann, ist keine Ruhestörung. Als sei der Verbrennungsmotor eine Naturerscheinung, dem Tirilieren der Amseln gleich und so wenig zu bändigen wie Blitz und Donner.

Es ist einfach so gekommen

Wollten die Menschen das so? Haben die Bürger vor der ersten Zulassung eines PKW beraten, wie sie ihre Städte und Landschaften in den nächsten 140 Jahren verschandeln wollen, dass ihnen 500.000 Verkehrstote und Millionen Verletzte ein attraktives Ziel sind und dass es eine super Perspektive ist, wenn all die Handwerker, Verkäufer und Straßenkehrer, die Dank Automatisierung nicht mehr gebraucht werden, künftig Autos bauen oder reparieren, tunen, abschleppen oder zu Schrottquadern pressen?
Nein, natürlich haben die Bürger das niemals entschieden. Es ist einfach so gekommen, Autozulassung um Autozulassung.

Nicht demokratische Entwicklung

Weniges hat die Gesellschaft so sehr verändert wie die Digitalisierung. Aber sie kam nicht demokratisch. Sie kam, weil einzelne damit Geld verdienen konnten - und weil Wissenschaftler vor sich hin geforscht haben, ohne verantwortlich für das neue Wissen zu sein. Deshalb haben wir heute auch AKW und Atombombe, Gentechnik, Massentierhaltung und Totalüberwachung.

Der Sinn von Dörfern ist komplett entfallen

Innerhalb von zwei Generationen ist der Sinn von Dörfern komplett entfallen. Für 10.000 Jahre haben sie Europa geprägt und Städte überhaupt erst möglich gemacht: Sie waren Ansammlungen von Bauern, ergänzt um die Berufe, die für die Feld- und Viehwirtschaft nötig waren: Bäcker, Schmied, Pfarrer, Arzt und ein Dorfschullehrerlein.
Das ist nun passé, ohne jede demokratische Entscheidung. Nun werden mit Steuergeldern ehemalige Dörfer erhalten, deren ganzer Zweck es ist, die Landschaft zu zersiedeln und für die Nachtstunden sogenannte Pendler aufzunehmen, die in Städten Geld verdienen, wegen der deutlich niedrigeren Bodenpreise aber ihren Traum vom Eigenheim auf dem Land leben - in einer Idylle, die von keinem Hahnenschrei mehr getrübt wird.

Haben wir kapituliert?

Es war auch nie ein öffentliches Thema, wieviel mehr das Leben eines Menschen innerhalb Deutschlands wert ist als außerhalb. Niemand würde hierzulande kranke Kinder leiden lassen, um stattdessen eine Autobahn zu verbreitern.
Wenn Kindern aber zum Überleben der Krankheit Bilharziose nur ein Medikament für 5 Euro fehlt, wissen wir nicht weiter: Deutschland ist reich, Sierra Leone, Mali und Angola sind arm, und dort sterben Menschen eben - wegen 5 Euro. Und wir brauchen breite Autobahnen.
Überfordert uns die Frage nach dem Sinn des Lebens so sehr? Diskutieren wir über Hundekot am Gehwegrand, weil wir vor der Masse lebensbedrohender Autos kapituliert haben?

Mal vorher darüber nachdenken, was wir wollen

Demnächst sollen Drohnen für DHL, Amazon und Imbissbuden mit Paketen durch unsere Straßenschluchten surren. Autos fahren selbstständig, vielleicht komplett ohne Menschen darin.
Ob wir einmal vorher darüber nachdenken, was wir wollen, was sinnvoll und wichtig ist - anstatt hinterher wieder zu sagen: "Man kann ja doch nichts ändern"?

Timo Rieg, Jahrgang 1970, hat in Bochum Biologie und in Dortmund Journalistik studiert. Seit über 25 Jahren beschäftigt er sich mit politischer Partizipation. So hat er ein auf Auslosung beruhendes Verfahren für die Mitbestimmung Jugendlicher entwickelt und erprobt (Youth Citizens Jury). Sein erstes Buch von 1993 trägt den Titel "Artgerechte Jugendhaltung", sein aktuelles heißt "Demokratie für Deutschland".
Dazwischen hat er u.a. Kurt Tucholskys "Deutschland, Deutschland über alles" neu herausgegeben, in dem es auch schon um Absurditäten des städtischen Autoverkehrs geht.


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