Beate Rössler: Autonomie - Ein Versuch über das gelungene Leben
Suhrkamp, Berlin
443 Seiten, 29,95 Euro
Freiheit ist auch Abhängigkeit
Auf der Suche nach einem selbstbestimmten Leben können die Gedanken der Philosophin Beate Rössler weiterhelfen. Sie argumentiert, dass wir nur dann autonom sein können, wenn die soziale Ordnung diese Autonomie schützt und fördert.
"Wir stecken immer schon bis zum Hals im eigenen Leben" – dieses Bild hat die Schriftstellerin Iris Murdoch einmal von der conditio humana gezeichnet. Diese Metapher beschreibt ebenso treffend den geistigen Orbit, in dem die Philosophin Beate Rössler die Frage nach der Selbstbestimmung erkundet. Autonomie ist ihr zufolge eine zerbrechliche Fähigkeit, die wir im engmaschigen Gewebe unseres Lebens - unserer Beziehungen, unseres kulturellen und politischen Kontexts, unserer Schicksalsschläge, geplatzten Träume und genährten Hoffnungen – erlernen und aufrechterhalten müssen.
Die Frage nach der Selbstbestimmung ist nicht nur im Kosmos der Philosophie, sondern auch in der Biografie jedes Einzelnen zentral. Nicht überraschend deshalb die ungebrochen angeregte Debatte innerhalb der Gegenwartsphilosophie, nicht zufällig die Versuche, diese Diskussion mit der breiten Öffentlichkeit zu teilen. Im deutschsprachigen Raum haben diese geistige Bühne zuletzt unter anderem Peter Bieri ("Handwerk der Freiheit") und Michael Pauen/Harald Welzer ("Autonomie") betreten. Fügt Beate Rössler diesen Auftritten etwas hinzu?
Weder Cowboy noch unabhängiger Held
Unter Rückgriff auf eine Fülle plastischer Beispiele aus Literatur und Tagebuch- bzw. Blogeinträgen gelingt es Beate Rössler, den Denkraum Autonomie als dezidiert praktische Frage aufzuwerfen und seine komplexe Innenarchitektur und historische Möblierung in diesem Licht zu erhellen. Sie vertritt dabei ein zutiefst relationales Konzept von Selbstbestimmung – die autonome Person müssten wir uns weder als einsamen Cowboy vorstellen noch als unabhängigen Helden, wie etwa Edward Snowden. Vielmehr gelänge Selbstbestimmung dann, wenn wir unser eigenes Tun und Lassen als sinnhaft erlebten, wenn wir uns nicht systematisch über uns selbst betrögen, uns heimisch in uns und mit anderen fühlten.
Auch das Verhältnis von Selbstbestimmung und politischem Kontext nimmt Rössler in den Blick und verdeutlicht auf überzeugende Weise, dass unsere Autonomiefähigkeit auf den Schutz und die Förderung durch die soziale Ordnung angewiesen ist. Die Chancen auf ein selbstbestimmtes Leben hängen, ihr zufolge, maßgeblich von den politischen Freiheiten, den ökonomischen Voraussetzungen und den konkreten Wahlmöglichkeiten der Einzelnen ab – unabhängig davon, ob es sich dabei um eine westliche Demokratie handele oder nicht.
Teilen als Gefahr für Autonomie
Bemerkenswert ist, dass Rössler auch die Rolle der Neuen Sozialen Medien diskutiert und überaus einleuchtend argumentiert, dass das unterschiedslose Teilen von persönlichen Inhalten mit Vertrauten, Bekannten, Chefs und Konzernen ein Problem für unsere Selbstbestimmung bedeuten kann. Der Facettenreichtum Rösslers wird nur an einer Stelle beschnitten: Der Einfluss des Unbewussten auf unser Selbstverhältnis und Handeln kommt etwas zu kurz. So spielen etwa Phänomene der unbewussten Wahrnehmung für die Autorin kaum eine Rolle.
Nichtsdestotrotz ist Rössler mit diesem Buch ein Doppelschlag gelungen: Das Buch führt die philosophische Debatte bis in den digitalen Raum der Gegenwart fort und empfiehlt sich deshalb den Fachphilosophen. Gleichzeitig führt sie Laien mit großer Klarheit und pointierten Beispielen in diese vielfältige Diskussion ein und verspricht für alle Philosophieinteressierten eine garantiert erkenntnisreiche Lektüre.