Ralf Hutter ist studierter Soziologe und lebt als freier Journalist in Berlin.
Willkommen im Teufelskreis!
Die bundesweite Berichterstattung über ein Gewaltverbrechen in Freiburg stößt dem Soziologen Ralf Hutter sauer auf: Damit würde Paranoia gefördert, meint er. Denn unsere Wahrnehmung funktioniere noch immer wie früher - als unser Horizont bis zur Dorfgrenze reichte.
Kürzlich hörte ich wiederholt folgende Meldung in den Nachrichten: Der Flüchtling Hussein K. wurde in Freiburg zu lebenslänglich mit Sicherungsverwahrung verurteilt. Er hatte schon vor Jahren in Griechenland wegen Gewalt gegen Frauen im Gefängnis gesessen. Dann wurde der Aufsager eines Korrespondenten abgespielt, wo erst im dritten Satz zu hören war, was Hussein K. überhaupt angestellt hatte, nämlich eine Studentin vergewaltigt und umgebracht.
In den Tagen und Wochen vor dieser Meldung hatte ich meinen normalen Medienkonsum gehabt, bei dem das öffentlich-rechtliche Radio die Hauptrolle spielt. Der Name Hussein K. sagte mir allerdings nichts. Warum unterstellte ein Sender, dass ich beim Hören dieses Namens in Verbindung mit "Freiburg" sofort wusste, worum es geht? Warum wurde die Meldung über das Freiburger Gerichtsurteil als so wichtig angesehen, dass sie wiederholt ziemlich am Anfang der Nachrichten kam, wenn nicht sogar als Spitzenmeldung?
Die Menschen haben heute mehr Angst
Die Antwort ist: Einer der fatalsten Effekte der Massenmedien ist, dass sie die Welt klein machen. Das hat schon auch seine guten Seiten, die Welt rückt zusammen. Aber in Sachen Kriminalität ist es fatal. Wenn ich in einer Kleinstadt, oder gar in einem Dorf lebte, würde ich über jeden dortigen Vergewaltigungs- oder Mordversuch informiert werden wollen, denn da geht es um mein Lebensumfeld. In Freiburg aber werden die meisten Menschen vielleicht ihr Leben lang nie sein. Natürlich gibt es auch Verbrechen an weit entfernten Orten, die eine Relevanz für uns haben. Aber dieses gehört nicht dazu. Sollen wir jetzt mehr Angst vor Vergewaltigung und Mord haben? Oder generell vor Flüchtlingen?
Leider haben etliche Menschen wegen so einer Berichterstattung tatsächlich mehr Angst. Sie beziehen das, was sie in den Medien mitbekommen, auf ihr eigenes Lebensumfeld. Wenn wir das aber nur als Mangel an Medienkompetenz bezeichnen, lassen wir den Journalismus zu gut wegkommen. Die Medienprofis müssen endlich begreifen, dass sehr viele Menschen nicht reif für die medienvermittelte Massengesellschaft sind. Diese Menschen machen sich nie klar: Ich lebe in einem Land mit über 82 Millionen Menschen, und da passieren immer wieder schlimme Straftaten, aber nie, oder fast nie, in meiner Umgebung.
Oder: Wenn einer von hunderttausend Flüchtlingen eine schwere Gewalt-Tat begeht, dann sagt das nichts darüber aus, wie wir generell mit Flüchtlingen umgehen sollten. Stattdessen zählen viele Leute ein paar schreckliche Fälle mit, die sie in den Medien mitbekommen, und wähnen sich dann in Sodom und Gomorrha. Unsere Wahrnehmung funktioniert wohl erst mal noch so wie zu der Zeit, als unser Horizont nur bis ans Ende einer Kleinstadt oder eines Dorfes reichte. Mehrere Vergewaltigungen oder Morde pro Jahr in diesem Nahbereich sollten einen ja auch tatsächlich in Angst versetzen.
Es ist nicht mehr die Information, die im Mittelpunkt steht
Die ausländerfeindliche Paranoia wird also von großen Medien gefördert, die unnötigerweise über solche Verbrechen berichten. Übrigens ist schon lange bekannt, dass seit Einführung des Privatfernsehens mehr über Verbrechen berichtet wird. Das zeigt, dass dabei oft nicht die Information im Mittelpunkt steht, sondern das Medium selbst, das sich wichtig machen will. Es ist ja ein alter Hut, dass die Kriminalitätswahrnehmung mit der tatsächlichen Entwicklung nicht konform geht. Der Spießbürger, der in seinem Lebensumfeld kaum noch nennenswerte soziale Beziehungen hat, schließt sich ein und nimmt über die Medien vermeintlich wahr, wie schlimm die Welt da draußen ist. Dabei geht es nicht mal nur um Kriminalität. In Umfragen überschätzen viele Menschen, gerade auch in Deutschland, den Anteil der muslimischen Bevölkerung um ein Vielfaches.
Als der Freiburger Mord bekannt wurde, gab es eine Debatte darüber, ob er bundesweit zu berichten sei. Der Chefredakteur einer örtlichen Zeitung rechtfertigte die Thematisierung in seinem Blatt damals in einem Interview mit der Begründung, das Thema bewege nun mal die Menschen. Willkommen im Teufelskreis! So schaukeln sich Medien und Paranoiker gegenseitig hoch, ohne Sinn und Verstand.