Arm in einer reichen Stadt
München ist ein teures Pflaster - zu teuer für Menschen, die von einer kleinen Rente leben oder auf Hartz IV angewiesen sind. Und die hohen Lebenshaltungskosten in der bayerischen Metropole machen viele nicht nur arm, sondern auch einsam.
Montagnachmittag in München/Giesing. Im Hof hinter der Philippus Kirche sind Stände aufgebaut:
"Also hier gibt es Kartoffeln, Zwiebeln, gelbe Rüben, Kräuter ..."
Was aussieht wie ein kleiner Wochenmarkt, ist eine Ausgabestelle der Münchner Tafel. 27 gibt es verteilt über die Stadt. Wer hierher kommt, muss nichts bezahlen.
Gregor Tschung ist Pressesprecher der Tafel und ehrenamtlicher Leiter der Ausgabestelle in Giesing. Lebensmittel mitnehmen darf nur, wer nach Abzug von Miete und Nebenkosten weniger als 469 Euro im Monat zur Verfügung hat. Es gibt Wartelisten, nicht alle Bedürftigen können von der Tafel versorgt werden.
Die Zahl der Bedürftigen wächst
"Wir hatten vor gut zwei Jahren rund 18.000, die wir betreut haben, inzwischen sind es 20.000. Was deutlich zugenommen hat ist die Zahl der alleinerziehenden Mütter und Väter, deutlich zugenommen hat auch die Altersarmut, sprich Rentnerinnen und Rentner, die auf unsere Hilfe angewiesen sind, ansonsten auch ganz viele Menschen, mit denen es das Leben oder auch das Schicksal nicht ganz gut gemeint hat und die einfach in Not geraten sind. Und dann bei uns Hilfe finden."
Zur Ausgabestelle in Giesing kommen jeden Montag rund 200 Menschen. Einer von ihnen ist Wolfgang J., 55 Jahre alt, graue Haare, gepflegter Bart, braune Jacke, Jeans. Seit zwei Jahren kommt er regelmäßig hierher.
"Durch Krankheit bin ich arm geworden und muss leider die Tafel besuchen."
Verarmt nach Bandscheibenvorfall
Als Spengler und Dachdecker hatte er gut verdient, rund 2500 netto. Nach einem Bandscheibenvorfall wurde er arbeitslos. Nun bekommt er Hartz IV. Nach allen Abzügen bleibt kaum mehr als ein Taschengeld für den Lebensunterhalt.
"Ich habe im Monat um die 150 Euro zur Verfügung, Miete wird von der ARGE gezahlt, vom Jobcenter, und ich muss halt Strom zahlen, ansonsten bleibt mir nicht viel übrig. Drum geh ich zur Tafel, die hilft mir bei den Lebensmittel, natürlich muss man sich ein bisschen zukaufen, Putzmittel, die brauch ich ja sowieso oder Salz, Zucker, das kriegt man hier kaum, die muss man sich dazu kaufen."
Armut macht einsam
Er lebt allein, ist seit vielen Jahren geschieden. Jeden Morgen steht er auf und frühstückt, so als ginge er dann zur Arbeit. Doch er geht spazieren. Kino, Wirtshaus oder Biergarten kann er sich nicht leisten. Armut macht einsam:
"Man verliert auch dadurch Freunde, die guten Freunde bleiben dir, aber die meisten sagen: Okay, kann man nichts ändern, der hat kein Geld, kann man nicht mitnehmen. Ist wirklich so. Also man ist wirklich abgegrenzt. Das ist absolut das Schwierigste an der ganzen Geschichte, diese Armut, du verlierst eigentlich alles, du kannst einfach nicht sagen, wir gehen jetzt dahin oder wir machen das, geht einfach nicht. Sagst: Nein. Ausreden: Dir geht‘s nicht gut, Grippe Erkältung wie auch immer."
Auch Maria V. geht jeden Montag zur Tafel, seit drei Jahren. Der 79-jährigen Rentnerin merkt man ihr Alter nicht an.
"Weil ich mit meinem Geld nicht mehr zurechtgekommen bin, habe ich mich dann doch entschlossen, aufs Amt zu gehen und Grundsicherung zu beantragen. Und meine Miete ist 750 und jetzt ist es so, dass ich vom Amt ca. 500 bekomme und Rente ca. 400, sind 900. Und da bleiben mir im Monat 150, und von den 150 gehen weg, 40 Strom, bleiben 110, ach so, Telefon 30, dann bleiben 80. Dann hab ich einen Kater, der kostet mich im Monat ungefähr 30. Und ich hab vom Amt die Genehmigung für das alte Auto, ich fahr ganz ein altes Auto, weil beide Knie kaputt sind und ich nicht laufen kann. Und da muss ich einmal im Monat tanken, das sind auch 30 Euro. Also mir bleibt im Grunde genommen soviel wie gar nichts und deswegen bin ich überaus froh, dass ich zur Tafel gehen kann und ernähre mich auch zu 90 Prozent von der Tafel."
Seit 30 Jahren nicht beim Friseur
Sie lebt allein, seit fast 50 Jahren in derselben Zwei-Zimmer-Wohnung. Sie sagt, sie komme trotz des wenigen Geldes gut über die Runden.
"Ich war, glaube ich, mit 50 Jahren das letzte Mal beim Friseur, ich achte darauf, dass ich ja nicht zunehme. Und meine ganzen Klamotten, die ich habe, die sind, was weiß ich, 30, 40 Jahre alt. Ich werde nicht dicker und da kann ich meine ganzen Sachen tragen wie immer, meine Pullover sind nicht altmodisch, die T-Shirts sind nicht altmodisch, die Jeans sind, sechs, sieben, acht, neun, zehn Jahre vielleicht alt. Also ich brauch keine Klamotten, ich geh nicht zum Friseur, ich geb so gar kein Geld aus. Wenn man muss, kommt man zurecht."
Trotzdem: Wer wenig Geld hat, landet leicht in der Schuldenfalle, wenn Anschaffungen anstehen und der Dispo überzogen wird. 105.000 Menschen sind in München überschuldet, Tendenz steigend, wie Erika Schilz von der städtischen Schuldner- und Insolvenzberatungsstelle erklärt:
"Als klaren Grund sehen wir hier natürlich auch die hohen Lebenshaltungskosten, die hohen Mieten, exorbitant hohe Mieten. Und die Schuldnerinnen und Schuldner sehen das selbst und würden auch gerne etwas daran verändern, aber die Umsetzung ist in München natürlich sehr, sehr schwierig, hier bezahlbaren Wohnraum, günstigen Wohnraum zu bekommen, das ist halt sehr problematisch geworden."
Trotz Arbeit reicht das Geld nicht
Der eigentliche Grund für die Überschuldung liegt in der Regel allerdings nicht allein in den hohen Mietkosten, sondern in vielen Fällen in einer unvorhergesehenen Krise, die in der Lebensplanung nicht vorhergesehen war. So auch im Fall der Familie A., Vater, Mutter, fünf Kinder. Auf mehr als 30.000 Euro beliefen sich die Schulden des Familienvaters, nachdem er als Alleinverdiener seinen Job verloren hatte. Schulden bei Versandhäusern, Mobilfunkunternehmen, Banken. Er ging in die Privatinsolvenz. Inzwischen hat er wieder eine Anstellung, doch das Geld reicht trotzdem nicht. Auch die A.s gehen zur Tafel und sparen nun wo sie können. Und spüren den sozialen Druck, dem, so sagen sie, besonders die Kinder ausgesetzt seien - da jedes Kind in der Schule inzwischen ein neues iPphone als Statussymbol mit sich herumtrage.
"Dann kommt das Mobbing in der Schule, weil: Hast du kein iPhone? Hast ein Samsung drei Jahre alt? Kommst du aus armer Familie. Das war vorher nicht, vor zehn Jahren oder vor 15 Jahren, es gab diesen Status nicht, da waren Leute alle gleich. Und hast du keinen gesehen in der Schule mit einem 1000 Euro-Handy oder 1000 Mark-Handy, die haben alle Handy gehabt, die der Papa oder die Mama nicht mehr benutzt hat. Aber eine nagelneues Handy, das mehr wie mein Auto kostet, für ein Kind von sieben Jahren! Ich finde, dass die Eltern da aufpassen müssen, weil die Eltern selber wissen nicht, was sie antun anderen Kindern, was in der Schule da abläuft, dieses Mobbing und Verarschung von Kinder zu Kinder. Ja, leider eine harte Geschichte: Mobbing in der Schule durch Materialismus."
Arm in einer reichen Stadt – die A.s leben trotzdem gerne in München.
"München ist eine ziemlich kinderfreundliche Stadt, man muss nur wissen, wo man hingeht, die Kinder können in den Sport gehen, in Vereine, die nicht sehr teuer sind, das wird übernommen, es gibt umsonst Angebote in den Parks. Und wir haben die Isar, also wenn man kein Geld hat, trotzdem muss man natürlich den Kindern, der Vergleich mit anderen Kindern, die alles haben, was sie sich wünschen, wo die Eltern sich denken, ok, die kaufen den Kindern alles, wie auch immer - da muss man halt die eigenen Kinder schulen, das ist nicht richtig, du bist ein Kind! Du brauchst nicht alles - aber da steht jeder in seiner Verantwortung."
Tierpark statt Urlaub
Die Münchner Tafel finanziert sich durch Spenden - und durch Strafzahlungen von Prozessen, die vor Gericht entschieden werden und an die Tafel fließen. Ohne die wäre die Arbeit schwierig, sagt Gregor Tschung:
"Zumal natürlich auch gerade in Städten wie München, oder etwas reicheren Städten, muss man sagen, die Bereitschaft wegzusehen auch vergleichsweise groß ist, insofern kämpfen wir natürlich immer auch ein Stück weit um Spenden."
Wolfgang J. nimmt Kartoffeln, Brokkoli und einen Meerrettich, verstaut das Gemüse in seinem Rollwagen und geht weiter zum Obststand. Er kocht ein, was er nicht in der Woche verbraucht. Ihm ist wichtig, nicht in die roten Zahlen zu kommen:
"Ich habe keine Schulden, werde ich auch nicht machen, dann esse ich lieber nichts. Hungern ja, weil es ist dann immer nicht das da, was man möchte, man isst dann halt das, was da ist. Und das ist das A und O - man kommt durch, aber es ist nicht das Leben."
Sein letzter Urlaub ist schon Jahre her:
"Ich geh halt spazieren, lieg an der Isar oder hab mir so eine Jahreskarte vom Tierpark Hellabrunn besorgt. Und da geh ich halt jetzt fleißig in den Tierpark."
Eine Wurstsemmel auf der Wiesn - mehr ist nicht drin
Und aufs Oktoberfest - kann er sich das leisten?
"Also ich war auf der Wiesn, ich bin zwar durchgegangen, aber ich hab mir eine Wurstsemmel oder Fischsemmel gekauft, aber mehr ist halt nicht drin, weil man muss ja rechnen davor, der Monat ist lang, so was geht gar nicht mehr."
Doch er ist optimistisch. Er hofft, nach einer bevorstehenden Bandscheibenoperation wieder einen Job zu finden - und dann so viel zu verdienen, dass er wieder auf eigenen Füßen stehen kann.
"Ich weiß, es kommt die Zeit, dann bin ich wieder oben auf, es ist bloß ein momentanes Tief, das schaffe ich auf alle Fälle."
"Da liegt eine Zeitbombe"
Von Armut betroffen seien vor allem Arbeitslose, Alleinerziehende und Rentnerinnen und Rentner, sagte Dr. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, im Deutschlandfunk Kultur. Bei den Alleinerziehenden würden heute rund 40 Prozent in Armut leben, bei den Rentnerinnen und Rentnern seien es derzeit etwa 15 Prozent. In den kommenden Jahren sei jedoch mit einem dramatischen Anstieg der Altersarmut zu rechnen, prognostizierte Schneider. Hören können Sie das Gespräch im direkten Anschluss an unsere Reportage.