Bettina Stangneth: Lügen lesen
Rowohlt Verlag, Reinbeck bei Hamburg, 2017
256 Seiten, 19,95 Euro
Die Grundstruktur der Unwahrheit
Es scheint vielen, dass noch nie so viel gelogen wurde wie heute. Das verlogenste Zeitalter war immer, hält die Philosophin Bettina Stangneth in "Lügen lesen" dagegen. Ihr raffiniert geschriebenes Buch verrät auch, welche Talente man zum Verdrehen der Wahrheit braucht.
Sie stehen uns allen mit erschreckender Deutlichkeit vor Augen: Die Lügen und Manipulationen im US-Wahlkampf, die täglichen kleinen und großen Unwahrheiten aus Donald Trumps Weißen Haus, jede Menge Zulauf für Verschwörungstheorien im Internet – ganz zu schweigen von den Herren Putin und Erdogan: Noch nie stand die Wahrheit so unter Beschuss wie heute, so scheint es vielen, noch nie wurde mehr und systematischer gelogen.
Und leben wir nicht eben deshalb im "postfaktischen" Zeitalter, oder nach dem Wort des amerikanischen Autors Ralph Keyes in "The Post-Truth Era"? Die Hamburger Philosophin, Historikerin und Essayistin Bettina Stangneth aber nimmt es gelassen: Das verlogenste Zeitalter war immer, schreibt sie in ihrem neuen Buch "Lügen lesen". Zu jeder Zeit finden sich Mahner und Warner vor der überhand nehmenden Lüge. Menschen lügen nun mal. Genauso stark wie unser Wille zum Wissen und zur Wahrheit ist unser Begehren, es nicht ganz genau wissen zu wollen, mithin belogen zu werden.
Der erfolgreichste Lügner des 20. Jahrhunderts
Das Lügen ist nicht nur eine anthropologische Konstante, schreibt Stangneth. Bei näherer Betrachtung ist es auch eine philosophisch besonders interessante, spezifisch menschliche Fähigkeit, die nicht nur moralische, sondern auch erkenntnistheoretische Fragen aufwirft. Nur wer einen Begriff von Wahrheit hat, kann lügen. Zum Lügen gehört überdies in nicht unbeträchtlichem Maße Fantasie und Einbildungskraft. Das Lügen ist als Sprach- und Kulturtechnik ganz und gar nicht simpel. Aber mit dem Lügen geht immer auch Unbehagen einher. Dass wir lügen können – und es auch regelmäßig tun – ist uns mit anderen Worten nicht ganz geheuer. Oder wie die Autorin schreibt: "Zur Wahrheit über die Lüge gehört vor allem dies: Wir lügen und können uns doch einfach nicht an die Lüge gewöhnen."
Breite Anerkennung erhielt Bettina Stangneth 2011 für ihre monumentale Studie "Eichmann vor Jerusalem". Darin zeichnete sie minutiös die Lügen des Holocaust-Organisators Adolf Eichmann im Jerusalemer Prozess nach, denen 1961 selbst die Philosophin Hannah Arendt auf den Leim ging, als sie in Eichmann die "Banalität des Bösen" zu erkennen meinte. Stangneth zeigte dagegen Eichmann als einen der erfolgreichsten Lügner des 20. Jahrhunderts – jemand, der bewusst Böses tat und mit Vorsatz darüber log. Die Essays, die sie seither veröffentlicht, folgen konsequent aus den Fragen, die sie in ihrem Eichmann-Buch aufwarf.
Die Lüge aus philosophischer Sicht
In "Böses Denken" (2016) ging sie gegen die Vorstellung an, dass das Böse vor allem aus Gedankenlosigkeit oder Mangel an Bildung entstehe, dass also genügend Aufklärung den Menschen notwendig besser mache. Der jetzt erschienene Band "Lügen lesen" beschäftigt sich nochmals intensiver philosophisch mit dem Problem der Lüge.
Stangneth umkreist darin die Lüge, das Lügen und die Lügner in immer neuen Volten moralisch, psychologisch, erkenntnistheoretisch, ja sogar geschlechtertheoretisch. Sie arbeitet die dialogische Grundstruktur des Lügens heraus – und das, was es letztlich zu einem Korrelat auch jeder aufrichtigen Kommunikation macht. Das Buch ist raffiniert, stellenweise verspielt, oft irritierend und keinesfalls leicht oder schnell zu lesen. Es bietet weder einfache Rezepte gegen die Unaufrichtigkeit noch geradheraus Hoffnung, dass wir aus der Verlogenheit jemals herauskommen. Aber wer sich darin vertieft, wird immerhin insoweit gestärkt aus dem Denkprozess hervorgehen, als er in einige Abgründe geschaut hat und aus ihnen mit Stangneths Hilfe doch auch wieder optimistisch herausgekommen ist.