Ein Dorf spielt sich selbst
Der Autor Ehm Welk hat in seinem Roman "Die Heiden von Kummerow" seiner Heimat ein literarisches Denkmal gesetzt. Alteingesessene sind darüber nicht sehr glücklich, Zugezogene aber sind davon begeistert und haben daraus ein Theaterstück gemacht.
Kurztest zum Jahresende im Länderreport. Thema: Siedlungsformen und ihre Ausdehnungen. Wie heißt die fünftzehntgrößte Stadt Deutschlands?
"Altkünkendorf, Zuchenberg, Schmargendorf, Herzsprung, Bölkendorf, Neukünkendorf, Gellmersdorf, Stolpe, Crussow, Dobberzin, Kerkow und Wolletz."
Das ist schon mal nicht ganz verkehrt... aber auch nicht komplett richtig! Etwas fehlt noch.
"Görlsdorf, Mürow, Welsow, Frauenhagen, Bruchhagen, Günterberg, Greiffenberg, Steinhöfel, Wilmersdorf, Schmiedeberg und Biesenbrow."
Danke, Frederik Bewer, Bürgermeister jener Metropole, die es hier zu erraten gilt.
"So eine Verwaltungseinheit, wie wir sie hier haben, die ist schon eine Herausforderung! 23 Dörfer mit zu verwalten und vor allen Dingen auch diese Fläche! Und da ist Angermünde ja die fünfzehntgrößte Stadt – der Fläche nach – in Deutschland."
Angermünde, rund 100 Kilometer nordöstlich von Berlin gelegen, besteht aus 1 plus 23: einer historischen Kleinstadt von rund 10.000 Einwohnern und 23 dörflichen Satelliten ringsherum, von denen einer interessanter ist als der andere. Schon die Namen... reine Poesie!
"Görlsdorf, Mürow, Welsow, Biesenbrow."
Und Biesenbrow ist der poetischste davon. Ein Flecken in der Uckermark, 215 Einwohner, eine Kirche, ein Dutzend Straßen, kein Laden, kein Gasthaus, kein Bahnanschluss...
Yvonne Tietze: "Biesenbrow hat wirklich das große Pech: Wir haben keine Radwege, die zu uns führen!"
Vielleicht, weil es zu viele wilde Tiere gibt...
Eckhard Kolle: "Das ist Freddy! Völlig harmlos! Komm, alte Ratte, komm! Hau ab!"
Wilde Tiere...
Kolle: "Schauen Sie mal da, da haben wir ein Känguru sogar in Biesenbrow. Da links sitzt es jetzt! War wohl für die Zucht in irgendeinem Tierpark nicht geeignet, und der hat es wohl irgendwie preiswert gekriegt."
Wilde Tiere...
Kolle: "Schauen Sie mal da, da haben wir ein Känguru sogar in Biesenbrow. Da links sitzt es jetzt! War wohl für die Zucht in irgendeinem Tierpark nicht geeignet, und der hat es wohl irgendwie preiswert gekriegt."
Einheimische Wildtiere...
Kolle: "Da ist der Biber schon wieder zugange und baut Dämme, staut sich das hinten an."
Kolle: "Da ist der Biber schon wieder zugange und baut Dämme, staut sich das hinten an."
Ehm Welk und seine "Heiden von Kummerow"
Biesenbrow ist ein Naturparadies, in dem der Mensch schon mal nasse Füße kriegen kann. Aber davon gibt es etliche in Angermünde, wo man ein Biosphärenreservat, einen Nationalpark und ein UNESCO-Weltnaturerbe betreten kann, ohne die Stadtgrenzen zu überschreiten. Aber da war noch was mit Biesenbrow, und es hat nichts mit Natur zu tun.
Kolle: "Wer würde denn Biesenbrow heute kennen, wenn nicht Ehm Welk mit den ´Heiden von Kummerow` und den ´Gerechten von Kummerow` oder mit der ´Lebensuhr des Gottlieb Grambauer` und noch vielen anderen Büchern – wenn er da nicht sein literarisches Denkmal hier hinterlassen hätte?"
Eckhard Kolle ist Vorsitzender des Landkulturvereins, und in dieser Eigenschaft verbuchte er im Jahr 2017 einen besonderen Höhepunkt. Denn Biesenbrow verwandelte sich in eine Theaterbühne – das ganze Dorf, mitsamt der malerischen Wiesen und Äcker im Oderbruch ringsum. Zusammen mit professionellen Schauspielern stellte ein Teil der Biesenbrower die ersten acht Kapitel der "Heiden von Kummerow" szenisch nach. Ehm Welk schrieb den Roman Mitte der 30er-Jahre und schilderte darin seine Dorfkindheit im Kaiserreich. "Kummerow" ist eine literarische Chiffre für Biesenbrow, was heutigen Einwohnern nicht unbedingt geläufig sein muss:
Hans-Joachim Frank: "Die meisten Leute, die wir da gesprochen haben, haben das Buch nie gelesen. Andere haben mal angefangen, ein Kapitel zu lesen, und haben aufgegeben."
...sagt der Regisseur Hans-Joachim Frank vom "Theater 89", das sich dieses Spektakel ausgedacht hat.
Frank: "Und ich fand das so schade für die Leute in Biesenbrow und Umgebung, dass sie dieses große Vergnügen – also den Roman zu lesen – gar nicht hatten! Und da hab ich erst einmal gedacht, jetzt müssen wir mal den Roman lesen oder wir müssen ihnen den Roman vorspielen! Und das haben wir dann gemacht."
"Vorspielen" hieß in dem Fall keine der üblichen szenischen Zurichtungen mit radikaler Romankürzung und hinzuerfundenem Dialog, sondern eine 1:1-Lesung des gesamten Textes durch den Schauspieler Reinhard Scheunemann, vorproduziert und zugleich live am Vorstellungstag vorgetragen.
Michael Heise: "Wir haben das vorher im Tonstudio aufgenommen. Wobei der Herr Scheunemann die Erzähltexte immer gelesen hat, und sobald Dialoge kamen, waren wir dran."
...erklärt Pfarrer Michael Heise, der mit seiner Frau Irene zu den Laiendarstellern zählte. Eine Art Theater-Karaoke?
Frank: "Das ist nicht Karaoke. Also es ist durchaus so, dass die Leute ihren Text lernen müssen. Und es ist so, dass sie auf die Aufnahme wirklich Theater spielen. Die Lebendigkeit kommt dann wirklich durch das Spiel!"
Hans-Joachim Frank spricht im Präsens, denn die erste Produktion liegt zwar hinter ihm, die zweite aber noch nicht: 2018 geht es weiter mit den nächsten acht Kapiteln.
Frank: "Und der Effekt ist nur der, dass alle Leute – und das waren fast 400 Leute da – immer alles verstehen, immer alles hören."
Bewer: "Auch über 100, 200 Meter Entfernung, als wenn es neben einem stand! Es war laut, aber es war angenehm laut, und die Landschaft war erfüllt! Also man kam richtig ins Träumen. Die Landschaft war das Theater."
...schwärmt der Angermünder Bürgermeister Frederik Bewer in Erinnerung an dieses Erlebnis, das sich natürlich nicht nur der beeindruckenden Naturkulisse verdankte, sondern vor allem dem Engagement seiner Biesenbrower – die durchaus nicht einhellig alle Freunde des 1966 verstorbenen Dichters Ehm Welk sind:
Heise: "Es war... ich will nicht sagen, ne Hassliebe zwischen ihm und den Biesenbrowern, aber es war ein kompliziertes Verhältnis."
Der Dichter und die Biesenbrower
Als Pfarrer kennt Michael Heise seine Schäfchen und wird deutlicher:
Heise: "Die alten Biesenbrower haben mit ihm nix am Hut! Das ist ein Nestbeschmutzer. ´Der hat uns schlecht gemacht!` Sie haben die Bücher nicht verstanden, sie verstehen sie zum Teil bis heute nicht, dass das Kunst ist. Das ist ein Roman! Und Ehm Welk lügt das Blaue vom Himmel runter, aus künstlerischen Gründen. Er erfindet Dinge, stellt sie um, klaut sich die Personennamen, setzt ganz andere Charaktere drauf, die er natürlich kannte, und die Biesenbrower nehmen das alles wortwörtlich. Und sagen: ´Der macht unser Dorf schlecht!`"
So wundert es nicht, dass die größten Enthusiasten des Projekts – allen voran der Landkulturvereins-Vorsitzende Eckhard Kolle –, zwar lange ansässig, aber doch zugereist sind. Oder sollte man besser sagen: zugewandert?
Kolle: "Das Schöne war, dass ja auch die Flüchtlinge, die wir im Dorf haben, aus Syrien, dass da die zwei Mädchen mitgespielt haben, und denen hat das sehr viel Spaß gemacht."
Frank: "Und dann packte die der Ehrgeiz, und sie wollten das unbedingt! Kein deutsches Kind hätte so viel Zeit, so viel Intensität in so einen Text investiert, wie die beiden syrischen Mädchen."
Kolle: "Und das ist ja eigentlich genauso, wie das früher mit den Hugenotten war, die in Brandenburg sich ansiedelten und ja... neues Leben gebracht haben, in allen möglichen Bereichen. Und so ist das heutzutage wahrscheinlich auch. Es kommt frisches Blut rein! Und damit ist ein geistiger oder technischer Fortschritt auch verbunden."
Einen solchen kann man in Biesenbrow auch an anderer Stelle entdecken. Er ist "geistig" allerdings nicht im intellektuellen, sondern im Spirituosensinne...
Tietze: "Diese Flaschen, die Sie hier so auf dem Kopf stehen sehen, befinden sich quasi im Endstadium der Produktion. Das eigentliche Lager ist da hinten an der Wand, das sind diese ollen, hässlichen, dreckigen, trüben Flaschen, denn der Crémant lagert in solchen so genannten Stößen – also waagerecht liegend, übereinandergestapelt – und ruht da."
...nämlich im ehemaligen Kartoffelkeller des Huhnholzschen Hofes, der 20 Jahre leer stand, bis ihn Yvonne und Matthias Tietze – zugewandert aus Berlin und Thüringen – zu neuem Leben erweckten. Die Getränke, die sie in ihrer Landmanufaktur "Königin von Biesenbrow" herstellen sind entweder berauschend oder nur fruchtig, in jedem Fall aber aus Äpfeln gekeltert.
Yvonne Tietze: "Die Apfelkultur als solche in Brandenburg ist alt und ist meines Wissens nach tatsächlich auch von den preußischen Königen eingeführt worden. Und da ist ja nicht nur Äpfel, das sind ja alle Obstsorten, die hier in Mitteleuropa wachsen, stehen hier teilweise noch an den Alleen. Das ist ein Kulturgut, was überhaupt nicht zu unterschätzen ist, aber in Gefahr! Jahrelang war keiner da, der wenigstens das Obst gepflückt hat. Gottseidank kommt da wieder eine Renaissance, aber Sie müssen mal schauen hier ringsum, Welsow, Bruchhagen, die ganzen Dörfer, herrliche Obstalleen... alle in einem furchtbaren Zustand!"
Das Obst für die Säfte und den Crémant kommt dann tatsächlich gar nicht aus der Uckermark, sondern von weiter her – von dort, wo engagierte Obstbauern noch alte, seltene Sorten anbauen. Für Yvonne Tietze bleibt die neue Heimat dennoch erste Wahl, obwohl sie ehrlicherweise zugeben muss:
"In Biesenbrow gibt’s ... nichts!"
Autor: "Äpfel!"
"Äpfel gibt’s jede Menge, und unser kleines Restaurant hier von den Nachbarn, und das auch nur auf Bestellung. Man ruft halt bei ihm an, bestellt einen Tisch, und dann sagt er: ´Ja, es klappt!` Oder: ´Nein, es klappt nicht!` Aber man kann nicht einfach so öffnungszeitenmäßig vor der Tür stehen und sagen: ´So, ich möchte jetzt bei dir essen!`"
Das wäre ja auch städtisch und nicht dörflich, wo vieles noch auf Verabredung läuft und nicht über fixierte Reglements. Für Großstädter ist das auf den ersten Blick oft verlockend, später aber dann auch manchmal eine Last, wie Pfarrer Michael Heise und seine Frau zu berichten wissen:
Michael Heise: "Wir haben ne Freundin in Herne, die hatte sich ein Haus gebaut in Biesenbrow. Ihr Mann liegt auf dem Friedhof begraben, aber die hat’s nicht mehr ausgehalten."
Irene Heise: "Ja, der war großer Fan!"
Michael Heise: "Er war großer Fan von Ehm Welk, hatte sich in dieses Dorf verliebt. Sie hat sich nie wohlgefühlt in Biesenbrow und ist dann nach seinem Tode irgendwann wieder zurück ins Rheinland."
Yvonne Tietze: "Es ist schon anfangs ein bisschen schwierig, einen ganz Satz aus’m Uckermärker rauszukriegen. Aber wenn man’s einmal geschafft hat, sind es unglaublich herzliche Menschen. Hab ich nie so viele, so tolle Menschen kennengelernt wie hier."