Bodo Kirchhoff: "Widerfahrnis. Eine Novelle"
Frankfurter Verlagsanstalt, Frankfurt am Main 2016
224 Seiten, 14, 99 Euro
Einsamer Wolf mit männlicher Melancholie
Bodo Kirchhoffs Road-Novelle "Widerfahrnis" hat es auf die Shortlist des Deutschen Buchpreises geschafft. Ihr Protagonist ist ein typischer Kirchhoff-Held: ein einsamer Wolf mit einem verkarsteten Herzen und einem unauslöschlichen Rest an erotischer Neugierde.
Der Mann heißt Reither und ist ein Eigenbrötler im Pensionsalter. Nach einem langen Berufsleben als Kleinverleger hat er sich aus Frankfurt in eine komfortable Wohnanlage am Alpenrand zurückgezogen.
Die Leser für sein sorgfältig gestaltetes Programm sterben weg, vor dem kollektiven Altern mit seinen vertrauten Freunden graut es ihm, seine letzte Gefährtin ist lange fort. Ein typischer Kirchhoff-Held, ein einsamer Wolf, ausgestattet mit männlicher Melancholie, einem verkarsteten Herzen und einem unauslöschlichen Rest an erotischer Neugierde. Eine nur wenig jüngere Frau überrumpelt den eingeschworenen Einzelgänger, der sich gerade mit einem Glas Wein, Zigaretten und einem offenkundig selbst verlegten Buch einer gewissen Ines Wolken aus der Hausbibliothek auf einen langen Abend eingestellt hat.
Das Zufallspaar sitzt plötzlich im Auto nach Sizilien
Leonie Palm, durch den Suizid ihrer Tochter tief versehrt, ehemalige Besitzerin eines Hutladens, schlägt ihm einen nächtlichen Ausflug in ihrem Cabriolet vor. Reither ahnt es gleich: Sie muss die Verfasserin des Buches sein, das er in den Händen hält.
Kurze Zeit später sitzt das Zufallspaar im Auto und fährt Richtung Süden. Tag und Nacht, bis nach Sizilien.
Bodo Kirchhoff, Jahrgang 1948, in zahlreichen Romanen immer wieder mit den Untiefen des Begehrens und Beziehungsschmerzen zwischen Liebenden und Eltern und Kindern befasst, zieht dieses Mal einen doppelten Boden ein. Der geheimnisvoll anmutende Titel Widerfahrnis, wie die auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises gelandete Novelle überschrieben ist, deutet die Vielschichtigkeit bereits an.
Sprachformeln immer wieder kommentiert
Von Reither wird in der dritten Person erzählt, gleichzeitig hat auch der Held selbst eine innere Stimme, die vom ersten Satz an mit spricht: Es ist die des erfahrenen Verlegers, desjenigen, der die Geschehnisse und Sprachformeln immer wieder kommentiert, abgeschmackte Redewendungen oder allzu unwahrscheinliche Zuspitzungen reflektiert und oft auch bricht.
Einmal hält sich Reither einen Kinderpullover an die Nase:
"Es roch nach Bett, nach Banane, nach Haar. Nach Leben, aber das hätte er in kein Buch aufgenommen; die großen Worte, sie schrieben sich so schrecklich leicht hin, Legowörter."
Dies ist die Haltung des Kirchhoffschen Helden: skeptisch. Gleichzeitig mischt sich hier die Berufserfahrung des Schriftstellers Kirchhoff ein, der durch seinen Verleger Joachim Unseld nicht nur den Alltag des Kleinverlegers kennt, sondern in seinem Haus am Gardasee selbst Schreibkurse veranstaltet.
Nicht ohne Pathos
Die soufflierende Stimme ist gleichzeitig charakteristisch für Reither: Hingabe fällt ihm schwer. Immerhin gibt er Leonie Palm gegenüber sogar Fehler zu: Die Beziehung zu seiner Frau scheiterte, als sie schwanger wurde und er von einem Kind nichts wissen wollte. Beide Figuren sind also verwaiste Eltern, und beide wissen, dass sich ihnen nur noch wenige Chancen bieten werden.
Hier gelingt Bodo Kirchhoff der zweite kluge Schachzug, der über die sensible Analyse bundesrepublikanischer Verhältnisse hinausgeht. Ein Flüchtlingsmädchen taucht auf, später eine afrikanische Familie, und es kommt zu einer unerhörten Wendung, wie es die Genrebezeichnung schon ahnen lässt.
Widerfahrnis tastet die Gegenwart ab, nicht ohne Pathos, aber Kirchhoffs Road-Novelle gewinnt etwas, das nicht selbstverständlich ist: Tiefenschärfe.