Wie wir verschwinden
In neueren Romanen der deutschsprachigen Literatur verschwinden die Protagonisten auffällig oft - um sich selbst zu finden oder um wiedergefunden zu werden. Es ist die Verarbeitung einer Urangst vor dem Vergessenwerden.
Die "Illias" des Homer berichtet von der Entführung Helenas nach Troja, in Wolfram von Eschenbachs mittelalterlichem Ritterepos "Parzival" verschwindet der Gralshüter Amfortas hinter seinem Schmerz, in Dantes "Göttlicher Komödie" begegnet der Held seiner verlorengegangenen großen Liebe Beatrice im Jenseits. Auffallend an der zeitgenössischen deutschsprachigen Literatur ist eine nicht unerhebliche Zahl von Erzählungen und Romanen, in denen die Protagonisten ebenfalls auf die eine oder andere Art verloren gehen.
Hartwell: "Ich finde, das Verschwinden ist ein interessantes Thema, weil es eigentlich gegenläufig ist zu dem, was ich als Autorin mache."
Ein junges Mädchen packt morgens um fünf seine Sachen, legt eine kurze Nachricht auf den Küchentisch und verlässt dass elterliche Haus - die Geschichte wird in dem Beatles-Song "She's leaving home" erzählt. Sie ist eine Variante des Themas, dass Autoren schon seit der Antike in vielen Facetten interessiert: das Verschwinden.
Scheuer: "Es ist ein Thema der Literatur. Es ist aber auch ein ganz allgemein philosophisches Thema. Also, wenn man sich selbst betrachtet, das Selbst auf so einer Zeitlinie. Wie sieht das aus? Im Grunde ändern wir uns sekündlich."
In Thomas Glavinics "Das größere Wunder" geht der Held jahrelang auf eine innere Suche, bevor er schließlich den Mount Everest besteigt. Albert Ostermaier lässt in der Novelle "Lenz im Libanon" einen jungen Mann im Orient auf die Suche nach dem Tod gehen.
Bossong: "Man ist einem Punkt angelangt, wo man selbst mit der eigenen Biografie, mit dem eigenen Lebenslauf so sehr vor die Wand gefahren ist, dass man gar nicht mehr das Steuer rumreißen kann, sondern eigentlich nur noch die Konstruktion einer komplett neuen Identität für möglich erachtet."
Und bei Norbert Gstreins "Eine Ahnung vom Anfang" werden wir als Leser Zeuge einer spannenden Ermittlungsarbeit über einen untergetauchten Jugendlichen, der ein Terrorist sein könnte.
Bonné: "Das heißt, dass der Mensch, der Künstler, sich im Grunde genommen verlieren muss, in dem Moment in dem er schreibt und ganz Instrument sein muss."
Sandig: "Erzählen ist ein Mittel gegen das Verschwinden. Ich verfolge und beobachte und schaue, wozu es dient, was dadurch entsteht."
Was ist so interessant an diesem Motiv, was bringt Autoren dazu, sich immer wieder mit ihm zu beschäftigen? Wie zum Beispiel der Hamburger Schriftsteller Mirko Bonné, dessen Werk geradezu auf den Gegenstand des Verschwindens abonniert zu sein scheint.
Bonné: "Ich merke, dass ich fast zwangsweise immer wieder auf das Thema zurückkomme. Meine Figuren verschwinden oder wollen auch verschwinden. Und meine Figuren haben in den letzten Jahren auch begonnen, sich praktisch kalkuliert zurückzuziehen aus allem. Ich glaube schon, dass es eine Tendenz gibt, mit dem allgemeinen Verschwinden umzugehen und das in irgendeiner Weise zu sublimieren. Weil, es verschwindet ja jede Menge - unsere Lebenszusammenhänge, unsere Naturzusammenhänge, die Tierwelt, die ganzen Ressourcen und so weiter und so fort. Und es löst sich alles auf oder bestenfalls findet sich neu zusammen."
"Komm schon, sagte ich laut zu mir selber ( ... ) Hör auf, immer bloß an die Toten zu denken. Denk auch mal an die, die leben, kriegst du das gar nicht mehr hin? Wo spielt denn die Musik, im Reich der Toten? ( ... ) Immer noch setzte ich alles daran, meiner tödlich verzweifelten Schwester nachzustürzen. In meinem Leben kam ich nicht mehr vor, lebte aber zugleich in einer Welt, in der es nichts als Selbstversunkenheit gab ( ... ) Ich war am Ende. Bis ans Ende war ich gegangen."
Mirko Bonnés 2013 erschienener Roman "Nie mehr Nacht" erzählt die Geschichte des Zeichners Markus Lee, der den Selbstmord seiner Schwester Ira nicht verkraftet. Er ergreift die Gelegenheit, Abstand zu gewinnen, indem er den Auftrag annimmt, für einen Bildband Brücken in der Normandie zu zeichnen, die 1944 während der Landung der Alliierten eine strategische Rolle spielten. Die Reise, in deren Verlauf sich der Zeichner vollkommen von der Außenwelt abkapselt, wird zu einer Selbstfindung, die Mirko Bonné ohne jedes esoterische Pathos erzählt.
"Ich ging zurück zum Busbahnhof. In einen Mülleimer warf ich alles, was in meiner Brieftasche steckte, EC-Karte, Kreditkarten, Geld aus der Börse und warf die Börse weg. Als ich im Bus saß, fühlte ich mich erstaunlich leicht. Alle kummervolle Bürde verlor also an Gewicht, wenn man begann, niemand mehr zu sein. Die Fahrt ( ... ) dauerte eine Stunde, und ich nahm mir vor, bis dahin einen Plan zu fassen, was weiter mit mir geschehen sollte."
Markus Lee will das Unmögliche - die Wiedervereinigung mit seiner toten Schwester. Der Autor Mirko Bonné spielt dabei mit einer Geschichte aus der antiken Mythologie: Der Sänger Orpheus verlangt von den Göttern seine tote Eurydike zurück. Die Bitte wird ihm unter der Bedingung gewährt, dass er sich während des Weges in die Oberwelt nicht nach ihr umdreht. Orpheus hält sich nicht daran, und Eurydike stirbt erneut.
Bonné: "Das ist die Ausgangssituation, die Versuchsanordnung. Und ihm gelingt es darüber, dass er eine Frau findet, die eben seiner Schwester Ira so zum Verwechseln ähnlich zu sehen scheint. Um das Ganze plausibel zu halten, habe ich eben versucht, eine andere Figur zu entwickeln, die neben der Ira-Figur leben kann. Und die übernimmt dann ihre Stelle. Das ist Eurydike. Ich wollte, dass es mal gut ausgeht. Dass Eurydike tatsächlich ins Licht zurückkehrt."
Mirko Bonné: Das übermächtige Gestern lässt seine Figuren nicht los
Das bewusst herbeigeführte Verschwinden aus bisherigen Lebensumständen interessiert Mirko Bonné deshalb so stark, weil es nach seiner Auffassung Ausdruck einer Zeiterscheinung ist. In der globalisierten Welt können heutige Gewissheiten und Haltepunkte morgen bereits Anlass für Unsicherheiten sein. Demzufolge sind die Figuren Mirko Bonnés exemplarische Zeitgenossen, die immer wieder unterschiedliche Formen des Verschwindens brauchen, um sich als Menschen weiterzuentwickeln.
Bonné: "Ich glaube nicht, dass es was mit Aussteigertum zu tun hat. Sondern ich glaube eher, dass der Einzelne versucht, dieser im Allgemeinen wahrnehmbaren Struktur etwas Sinnhaftes entgegenzusetzen, in seinem eigenen Leben. Das also sozusagen fruchtbar für sich zu machen. Und es sozusagen adaptiert und imitiert. Das Verschwinden - das allgemein wahrnehmbare Verschwinden."
Lebensweltliche Gewissheiten verschwinden, lassen das moderne Individuum an gesellschaftlichen oder politischen Zusammenhängen verzweifeln. Doch in Mirko Bonnés Geschichten geht es vor allem um Menschen, die aus tiefer persönlicher Verzweiflung obdachlos werden. Das übermächtige Gestern, Erinnerungen, die einen nicht loslassen, unerträgliche seelische Schmerzen, die nicht weggehen wollen, die Liebe, die sich einfach nicht mehr finden lässt: Unter all dem kann der Mensch verschüttet werden. Mirko Bonnés Figuren sind immer Kämpfer gegen den Untergang und das Vergessen. Der Preis dafür ist eine zeitweise Abwesenheit aus den vertrauten Zusammenhängen.
"Dieses Verschwinden ist ein anderes, von dem ich spreche. Es ist ja gerade ein Durchbrechen der Matrix und ein tatsächliches Verschwinden. Also, es ist ein Spiel damit - nur in der Vorstellung. Diese sogenannte Möglichkeit tatsächlich zu verlassen und zu sehen: Was ist dahinter? Was ist hinter dem Netz? Oder hinter der Mauer? Hinter der Wand."
Wenn Autoren ihre Personen davongehen lassen, spiegelt sich darin immer auch eine Auseinandersetzung des Künstlers mit seinem Metier. Denn auf der einen Seite sollte ein Schriftsteller immer in der Epoche und Gesellschaft zuhause sein, über die er schreibt. Andererseits aber muss er sich oft über längere Zeiträume vollkommen abschotten, wenn er an seinen Produkten arbeitet. Dieses vorübergehende Verschwinden des Autors ist geradezu eine Grundvoraussetzung des Schreibens, so Mirko Bonné.
"Das heißt, dass der Mensch, der Künstler, sich im Grunde genommen verlieren muss, in dem Moment in dem er schreibt und ganz Instrument sein muss. Ich merke das ja selber, wenn ich arbeite, dass es einfach Stunden gibt, in denen ich gar nicht mehr vorhanden bin, sondern nur noch Textarbeiter."
Der Rückzug aus dem Leben, die freiwillige Selbstaufgabe, der Verzicht auf jede Art von Kontakt mit der Außenwelt ist dabei kein Fluchtmechanismus literarischer Turmbewohner. Sondern eher eine Grundkonstante des fiktionalen Schreibens - so sieht es jedenfalls die Berliner Schriftstellerin Nora Bossong:
Bossong: "Das Verschwinden hat ja auch viel mit Metamorphose zu tun. Also, in der Metamorphose verschwinden wir auch. Es ist eine Wandlung. Es gibt die zwei Möglichkeiten: Entweder die totale Auflösung, das totale Ins-Nichts-Verschwinden - was auch eine Verwandlung ist -, oder eben die Verwandlung in etwas anderes, was nicht mehr mit dem anderen verwechselbar ist. Und ich glaube, das ist ein Grundprinzip der Literatur, das immer fasziniert hat und das auch durch die Literatur natürlich geschieht und passiert."
Bossongs Anti-Held verschwindet in einem intellektuellen Wolkenkuckucksheim
In ihrem 2015 veröffentlichten Roman "36,9 Grad" lässt Nora Bossong gleich zwei Personen verschwinden. Da ist zunächst eine reale historische Figur: der kommunistische Theoretiker Antonio Gramsci, der 1937 nach jahrelanger Haft unter den italienischen Faschisten starb. Nora Bossong berichtet, was ihm hilft, im Zuchthaus zu überleben: In den sogenannten Gefängnisheften formuliert Gramsci unter brutalen Bedingungen seine Theorien - obwohl er weiß, dass sie zu seinen Lebzeiten nicht publiziert werden können.
Bossong: "Ich glaube, er schreibt wirklich gegen das Verschwinden. Er schreibt auch gegen den Wahnsinn an. Und das Verschwinden wäre ja so oder so eingetreten - dieses Verschwindenlassen Antonio Gramscis durch die Faschisten, diese ständige Verlegung in unterschiedliche Gefängnisse, teilweise Isolationshaft. Man hat ja versucht, ihn verschwinden zu lassen, und sein Kampf dagegen, der hatte natürlich hauptsächlich noch das Intellektuelle, das Geistige als Möglichkeit."
Die zweite Person, die in Nora Bossongs Roman "36,9 Grad" verschwindet, ist der Geisteswissenschaftler Anton Stöver, ein verkrachter Intellektueller, dessen Leben ein einziges Trümmerfeld ist. Als er das Angebot bekommt, in Italien über Antonio Gramsci zu forschen, ergreift er die Gelegenheit, seinem bisherigen Leben den Rücken zu kehren. Zumal seine Ehe nur noch auf dem Papier existiert:
"Ich hielt die Stille zwischen uns nicht länger aus, zwischen Hedda und mir. Rom würde mir guttun, der Lärm dort, die Lebendigkeit, die Arbeit ( ... ) wenn ich auch nicht wusste, was ich mit dieser Forschungsarbeit eigentlich retten wollte, meine Karriere, meine Ehe, Gramsci oder mich ( ... ) Wir hatten einen Punkt erreicht, von dem ab wir uns nur noch Verletzendes sagen konnten. Und falls wir doch einmal etwas Nettes, etwas Versöhnliches herausbrachten, kam es beim anderen nur als missglückte Verletzung an. Und dann folgte Stille. Wir stritten nicht mehr, wir hatten das Streiten aufgegeben."
Der Wissenschaftler Anton Stöver verliert bei diesem tatsächlichen räumlichen Verschwinden auch sich selbst aus dem Blick. Er vergräbt sich in seinem akademischen Bergwerk, panzert sich mit exotischem Spezialwissen gegen die Erfordernisse des Daseins. Und versteckt sich hinter der Biographie Antonio Gramscis, eines Menschen, der spurlos in den Gefängnissen Mussolinis verschwand. Anton Stöver verschwindet in einem intellektuellen Wolkenkuckucksheim, das Nora Bossong in ihrem Roman gekonnt ausformuliert:
"Das ist natürlich zugespitzt, aber jemand, der eigentlich auch sehr darum kämpfen muss, überhaupt gesehen zu werden und Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Das gelingt ihm in gewisser Weise, aber auf eine andere Art versucht er, dem auch zu entkommen und entzieht sich jeglicher Verantwortung. Er entzieht sich seiner scheiternden Ehe, er entzieht sich seiner scheiternden Karriere. Und diese Art des Verschwindens beherrscht Anton Stöver sehr, sehr gut."
Wenn ein Familienvater einfach nicht mehr auftaucht
In ihrem 2012 publizierten Roman "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" behandelt Nora Bossong bereits das Abhandenkommen einer Person. Der Zugang ist allerdings ein anderer als in "36,9 Grad".
"Über Nacht war Kurt Tietjen verschollen, irgendwo zwischen Düsseldorf und New York ( ... ). Die Anrufe auf seine Mobilnummer wurden von einer automatischen Ansage beantwortet: Die gewünschte Person sei vorübergehend nicht erreichbar. Die Fluggesellschaft bestätigte zwar, dass Luises Vater das Flugzeug bestiegen hatte und mit den übrigen Fluggästen um 10.35 Uhr in Newark gelandet war, aber danach verlor sich jede Spur von ihm. In dem Hotel, wo ein Zimmer für ihn reserviert war, kam er niemals an."
Kurt Tietjen, das ist der Chef eines alteingesessenen Familienunternehmens. Seine Spuren verlieren sich für seine Frau und seine Kinder bei einer Geschäftsreise in New York. Nora Bossong spricht einen Aspekt des Verschwindens an, der ihrer Meinung nach mit einer tiefliegenden Sehnsucht des Menschen zu tun hat: der Sehnsucht danach, wiedergefunden zu werden. Eine Hoffnung, so Nora Bossong, die auch viele Autoren während des Schreibprozesses umtreibt:
Bossong: "In dem Moment, in dem ich mich entscheide, drei Jahre oder fünf oder zehn über einen Protagonisten zu schreiben, anverwandele ich mich ja auch ein bisschen. Und vielleicht kann man sagen, dass man in der Zeit stärker diese andere Identität annimmt oder zumindest einen Großteil des Tages in dieser anderen Identität verbringt, die natürlich noch etwas mit der eignen zu tun hat. Aber trotzdem ist das plötzlich das, was meinen Tag beschwert und erdrückt, weil ich mich über Jahre mit diesem Stoff beschäftige. Und es ist ja in gewisser Weise auch eine Auflösung - eine Auflösung der eigenen Identität, in dem Moment, in dem man sich in die andere Identität hinein begibt."
Verloren gehen und wiedergefunden werden: Wolfram von Eschenbach hatte das schon im 12. Jahrhundert in seinem Parzival-Epos durchgespielt. Der Ritter Amfortas leidet an einer Wunde, die nicht verheilen will. Die Genesung kommt durch den Besuch eines Narren. Der weiß nicht, wen er vor sich hat und fragt den Ritter gerade heraus, was ihm denn eigentlich fehle. Amfortas ist dermaßen verblüfft, dass er gesund wird. Denn zum ersten Mal wurde er in seinem Leid wahrgenommen. Darum geht es auch Nora Bossongs Firmenchef Kurt Tietjen:
Bossong: "Jemand, der wirklich über Nacht verschwindet und sich nach New York absetzt. Und natürlich ist das auch eine Rebellion gegen diesen Liebesverlust, gegen ein Vorab-schon-nicht-mehr-gesehen-Werden. Der Kurt Tiedjen flüchtet aus einer absolut unterkühlten Ehe, in der alle Beteiligten dieser Familie nur noch als Spielsteine in einem ökonomischen Prozess gesehen werden. Und in dem Moment, wo er gegen dieses Prinzip verstößt und abtaucht, macht er eigentlich den ersten menschlichen Schritt, zu dem er sich überhaupt traut."
Der Wunsch danach, seinem Leben zu entfliehen und vielleicht einen Neuanfang zu wagen, bringt Kurt Tietjen dazu, sich aus dem Staub zu machen. An einem Punkt angelangt, an dem er die eigene Biografie vor die Wand gefahren hat, bleibt ihm nur die Illusion eines neuen Lebensentwurfs.
Die radikalste und unwiederbringlichste Variante des Verschwindens ist der Tod. Mit diesem Skandal zurechtzukommen, ist seit jeher Gegenstand unseres Denkens, so der Schriftsteller Norbert Scheuer:
//"Es ist ein Thema der Literatur. Es ist aber auch ein ganz allgemein philosophisches Thema. Also, wenn man sich selbst betrachtet, das Selbst auf so einer Zeitlinie. Wie sieht das aus? Im Grunde ändern wir uns sekündlich. Das heißt, wir definieren uns in jeder Sekunde neu. Das wird uns nur nicht bewusst. Das ist im Grunde eine Frage unseres Erlebnisses und unseres Erinnerungsvermögens. Das heißt also, im Grunde ist dieses Verschwinden und das Wiederfinden von sich so eine Grundkonstante, in der wir leben.
Wir Menschen sind wahrscheinlich die einzigen Lebewesen, die wissen, dass sie sterben werden. Aber gleichzeitig noch die Fähigkeit haben, darüber zu reflektieren.
Sandig: "Wenn man an dem Punkt ist, dann kommt man fast schon an so einen kathartischen Prozess, denn es ist natürlich klar, dass wir uns alle was zurechtlegen, wie wir an diesen Punkt gekommen sind. Es gibt Leute, die sagen, ja, ich musste diese Krankheit bekommen, damit ich lernen konnte, und das ist natürlich vollkommener Blödsinn."
Ulrike Almut Sandig: "Erzählen ist ein Mittel gegen das Verschwinden"
Für die in Berlin lebende Schriftstellerin Ulrike Almut Sandig war die schreckliche Urgewissheit des Todes ein Auslöser für das Schreiben. Sie erzählt von einem persönlichen Erlebnis:
"Es ist eine ziemlich dominante Kindheitserinnerung von mir, dass ich am Küchentisch sitze und ein Eis esse. Es ging mir gut. Und genau über dieses Wohlbefinden kam auf einmal der genaue Gegenschluss, dass ich gemerkt habe, okay, und das alles wird aufhören. Ich bin in Tränen ausgebrochen, aufgelöst zu meinem Vater gegangen, der mich nicht mit irgendwelchen elterlichen oder theologischen Trostsätzen abgespeist hat, sondern dass er gesagt hat, ja, genauso ist es, und damit musst du klarkommen.
"Erzählen ist ein Mittel gegen das Verschwinden. Aber nicht im Sinne von, ich halte alle Dinge fest und banne sie in Sprache, und dann können sie nicht mehr verschwinden, sondern ich verfolge und beobachte das Verschwinden und schaue, wozu es dient, was dadurch entsteht."
"Ich habe mich nicht in ihre Hälfte unserer Bettes gelegt, ganz gleich, wie sehr ich mich danach gesehnt habe, mein Gesicht in ihrem Kissen zu vergraben. Erika war von den Rändern her durchsichtig geworden und schließlich ganz vor meinen Augen verschwommen, aber sie war immer an meiner Seite geblieben, immer. Da fällt es schwer zu glauben, sie sei nicht mehr da, nur weil ich sie nicht mehr sehen konnte. Auf die Augen eines alten Mannes ist kein Verlass."
In dem Erzählband "Buch gegen das Verschwinden", im Jahr 2015 herausgekommen, findet sich Ulrike Almut Sandigs Erzählung "Weit unter uns die flüssigen Felsen". Wer sie liest, sollte sich darauf einstellen, die Lektüre möglicherweise unterbrechen zu müssen, denn sie behandelt existentielle Fragen des Menschseins, die unter die Haut gehen. In der Novelle weigert sich ein alter Mann, den Tod seiner Frau zu akzeptieren. Dieser Endgültigkeit begegnet er mit hartnäckiger Fantasie, die das Verschwinden durch den Tod ganz einfach ignoriert. Ein Thema, dass sich mit der Situation einer Schriftstellerin deckt, wie Ulrike Almut Sandig sagt:
"Literarisches Schreiben ist auch eine Möglichkeit, sich Themen und Gebiete vom Halse zu schreiben obwohl ich weiß, dass es natürlich vollkommener Quatsch ist, sich gegen das Verschwinden zu wehren, und stur und naiv ist und auch destruktiv, sich dagegen zu wehren, weil das Verschwinden natürlich auch die Bedingung dafür ist, dass Dinge entstehen können."
Ein Junge taucht nach Jahren wieder auf - oder doch nicht?
Im Angesicht des endgültigen Verschwindens schafft sich der Mensch alle möglichen Konstrukte. Dabei spielt es oft keine Rolle, ob diese Gestaltung einer Prüfung durch die Realität standhält. In ihrem Roman "Der Dieb in der Nacht" aus dem Jahr 2015 verfolgt die Autorin Katharina Hartwell die Art und Weise, wie wir versuchen, den Tatsachen des Lebens ein Schnippchen zu schlagen. Am Beginn ihrer Erzählung steht eine Polizeimeldung:
"Seit Donnerstagnachmittag wird der 19-jährige Felix Heller vermisst. Felix verließ am 22. August gegen 17 Uhr die Tankstelle am Ortseingang Dornheim. Felix hat blondes, gelocktes Haar, ist etwa 1,85 m groß und schlank. Als er zuletzt gesehen wurde, trug er khakifarbene Shorts, ein dunkelblaues Polohemd und weiße Turnschuhe der Marke Asics. Hinweise nimmt der Kriminaldienst der Dornheimer Polizei entgegen."
Hartwell: "Ich finde, das Verschwinden ist ein interessantes Thema, weil es eigentlich gegenläufig ist zu dem, was ich als Autorin mache. Also, ich versuche, als Autorin die ganze Zeit anzuhäufen. Ich sammle. Ich sammle Figuren, ich sammle Ereignisse, ich sammle Erklärungen. Ich häufe Buchstaben an. Und das Verschwinden ist ja wie so eine gegenläufige Kraft. Also, es ist genau das Gegenteil. Es ist eine fehlende Erklärung erst mal. Ein Mensch ist weg, oder ein Gegenstand ist weg. Und wenn man schreibt, ist es ein interessantes Spiel, wie man damit umgeht, also mit dieser Leerstelle, die entsteht."
Zehn Jahre, nachdem Felix verschwunden ist, sitzt sein bester Freund Paul in einer Prager Kneipe und glaubt, ihn wiederzusehen. Genauer gesagt, ist er bereit, das anzunehmen. Hinzu kommt, dass der junge Mann, den er dort trifft und der Felix ähnlich sieht, behauptet, sich an die letzten Jahre seines Lebens nicht erinnern zu können. Und auch nicht zu wissen, wer er ist und wo er herkommt, da er bewusstlos aus der Moldau gefischt wurde. Es beginnt ein spannendes Rätselraten: Ist die Prager Zufallsbekanntschaft tatsächlich der Verschollene? Oder nur ein raffinierter Betrüger, der sich schmarotzend in die Familie der Vermissten einschleicht?
Hartwell: "Da gibt es tatsächlich den Fall, dokumentiert allerdings, aus den USA, in dem ein Junge verschwindet und angeblich zehn Jahre später wieder auftaucht. Und diese Dokumentation schwebt auch ganz lange. Also, man hört, wie diese Familienmitglieder erzählen, was passiert ist. Und man wundert sich die ganze Zeit. Also man wundert sich, dass die jemanden bei sich aufnehmen und man selbst als Zuschauer denkt, aber das ist der doch nicht. Das müsst ihr doch sehen. Und die sind aber irgendwie überzeugt davon. Und dieses Schweben, also dass man das so fassungslos mit ansieht und halt irgendwie nicht richtig versteht und die ganze Zeit aber weiterguckt, weil man es halt verstehen will, das fand ich sehr interessant."
Wie in diesem dokumentierten Fall, so verhalten sich auch Freunde und Familienmitglieder in Katharina Hartwells Roman. Immer wieder gibt es Fakten, die gegen ein Wiederauftauchen von Felix sprechen. Doch genauso oft folgen diejenigen, die an ein Weiterleben des jungen Mannes glauben wollen, Spuren, die sie selber gelegt haben. Der Clou des Romans ist sein Anachronismus: Denn im 21. Jahrhundert scheint es schwerer geworden zu sein, sang- und klanglos zu verschwinden, so Katharina Hartwell:
"Ich glaube, das Verschwinden gestaltet sich anders. Vielleicht war es früher leichter, zu verschwinden. Dass wir medial so vernetzt sind, ändert ja, glaube ich, sehr, wie leicht oder wie schwer es ist, zu verschwinden. Ich stelle mir vor früher konntest du ja viel leichter aus dem Netz austreten, indem du die Stadt oder dein Dorf gewechselt hast. Und jetzt musst du halt auch deine medialen Spuren ja verwischen."
Oder neue legen, die Illusion einer Präsenz erzeugen, die nichts anderes ist als eine Netzidentität. So kann man sich in den sozialen Netzwerken eine Fülle von sogenannten Fake-Accounts zulegen, hinter deren wahren Gehalt niemand kommen kann und soll. Für Nora Bossong, Autorin der Romane "Gesellschaft mit beschränkter Haftung" und "36,9 Grad" eine zeitgenössische Form des Verschwindens:
"Diese absolute Inszenierung einer falschen Identität, die noch irgendwie an gewissen Schnittstellen mit der realen Identität zu tun hat, sodass man sie noch als die eigene verkaufen kann und ausgeben kann, das ist natürlich auch eine Art des Verschwindens - eine Möglichkeit, hinter einer Imagination zurückzutreten und die Selbstinszenierung als die eigene Identität auszugeben."
Norbert Scheuers Held muss verschwinden, um erzählen zu können
"Unser Feldlager ist eine umfriedete Siedlung mit Zeltunterkünften, Schlaf- und Verwaltungscontainern, einer Bar, einer Pizzeria, einem Einkaufszentrum und einer Poststelle, sogar ein Kapellchen gibt es. Soldaten aus vier Nationen sind im Lager stationiert. Als ich ankomme, scheint das Camp bereits überfüllt, denn monatlich kommen neue Kontingente."
Eine geradezu traditionelle Form des Verschwindens wählt der Held aus Norbert Scheuers Erzählung "Die Sprache der Vögel", publiziert im Jahr 2015. Paul Arimond, ein junger Mann aus Kall in der Eifel, meldet sich freiwillig als Sanitäter der Bundeswehr nach Afghanistan. Er begibt sich in diese Gefahr, weil er sich schuldig fühlt an einem Verkehrsunfall, den er mit verursacht hat. Und noch etwas spielt eine Rolle: Paul Arimond versucht, die Sprache der Vögel zu entschlüsseln. Indem er schreibt, will er darüber hinaus Rechenschaft über sein Leben ablegen. Norbert Scheuer erläutert die Motivation seines Helden - an dem Ort, von dem aus auch sein Protagonist die Reise in eine gefährliche Zukunft antritt, dem Bahnhofscafé des Eifelstädtchens Kall:
"Er hat überhaupt keine andere Möglichkeit. Er muss verschwinden, um in einen Zustand zu kommen, aus dem er die Geschichte schreiben kann diese Welt kann man nur adäquat beschreiben, indem man sich sozusagen aus der normalen Welt, in der er sonst lebt, heraus begibt. Das heißt, man läuft als Schriftsteller dann durch die Gegend und ist doch nicht da. Das kann zu Verwirrungen mal im Jetzt führen. Insofern ist es also tatsächlich so: Es geht nicht ohne das Verschwinden, um Literatur zu produzieren."
Und auch nicht, so Norbert Scheuer, wenn man sein Leben ganz unliterarisch selbst in die Hand nehmen will. Denn wegzugehen, kann gerade für junge Menschen der Beginn des Lebens sein.
Scheuer: "Es gibt die Protagonisten, die hier in Kall, in dem kleinen Eifelstädtchen leben. Und sie gehen weg, sie verlassen diesen Ort, weil sie hier nicht zufrieden sind, weil sie Probleme hier haben oder weil sie einfach ihr Glück woanders suchen wollen und verschwinden und kehren dann irgendwann wieder. Und im Grunde ist es, meine ich, bei uns allen so, dass in dem Moment, wo wir uns irgendwo fest etabliert haben, wo alles ganz klar ist, erscheint plötzlich der Ort, an dem wir leben, weniger attraktiv. Und dann wollen wir weg."
Unser Dasein ist bestimmt von dem Hintergrundrauschen des Verschwindens. Sei es dadurch, dass wir einen geliebten Menschen verlieren, Lebensumstände sich komplett ändern oder die Angst vor dem Ungewissen so bedrückend wird, dass nur noch die Flucht bleibt. In ihren Erzählungen können Schriftsteller das Potential einer solchen völligen Absonderung ausloten. Von Homer und Sophokles bis zu Nora Bossong, Norbert Scheuer, Katharina Hartwell oder Ulrike Almut Sandig versuchen Autoren, dem Verschwinden eine literarische Gestalt zu geben. Und Mirko Bonné schreibt in seinem Camus-Roman "Wie wir verschwinden":
"Der Tod setzte allem eine Grenze, nicht aber dem Erzählen."