"Das Erinnern erschöpft sich bisweilen in leeren Gedenkritualen"
Auch wenn die Holocaust-Forschung in Deutschland eine lange Tradition hat, eine eigene Professur dafür gibt es erst seit dem 1. Mai. Inhaberin Sybille Steinbacher hält es für wichtig, neue Wege zu finden, um Wissen über den Holocaust zu vermitteln.
Zwar wird die Holocaust-Forschung in Deutschland schon lange betrieben, aber nun gibt es in Frankfurt am Main auch einen eigenen Lehrstuhl dafür. "Die Forschung hat sich seit Mitte der 90er-Jahre, der Öffnung der osteuropäischen Archive enorm diversifiziert", sagte die Lehrstuhlinhaberin Sybille Steinbacher im Deutschlandfunk Kultur. Es seien neue Disziplinen dazu gekommen. Die Historikerin nannte als Beispiel die vergleichende Genozidforschung und die Kolonialismusforschung, die neuen Aufschwung genommen hätten.
"Vor diesem Hintergrund ist es durchaus richtig, die Holocaust-Forschung als eigenes Feld zu konturieren und sie nicht nur zu subsumieren unter die neuere und neueste Geschichte oder die Zeitgeschichte, sondern ihr tatsächlich auch einen eigenen Namen und damit auch einen eigenen Lehrstuhl zu geben."
"Wichtiges Signal"
Die renommierte Forscherin, zuletzt Professorin für Vergleichende Diktatur-, Gewalt- und Genozidforschung an der Universität Wien, ist seit dem 1. Mai auch Direktorin des an die Universität Frankfurt angegliederten Fritz Bauer Instituts. Dieses Institut, benannt nach dem jüdischen Generalstaatsanwalt und Initiator der Auschwitz-Prozesse, widmet sich seit 1995 ausschließlich der Geschichte und Wirkung des Genozids an den Juden. "Ich denke, es ist auch ein wichtiges Signal. Solche Lehrstühle gibt es in anderen Ländern", sagte Steinbacher. Dass auch Deutschland jetzt so einen Lehrstuhl einrichte, zeige dass die Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen ein Teil der politischen Kultur Deutschlands sei.
Erinnern - mehr als "etwas leere Gedenkrituale"
"Das Erinnern erschöpft sich ja leider bisweilen im Moralisieren und auch in etwas leeren Gedenkritualen", sagte Steinbauer. "Das ist sicher der falsche Weg der Auseinandersetzung oder jedenfalls nur ein Teil eines Weges." Sie halte die Frage der Vermittlung für sehr wichtig. "Die historische Forschung kann beitragen, weil sie Wissen vermitteln kann", sagte Steinbacher. Es gehe in der zeithistorischen Forschung darum, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen.
Das Interview im Wortlaut:
Dieter Kassel: Ich glaube, ganz viele Menschen würden die Frage, seit wann es eigentlich an einer deutschen Universität eine Professur für Holocaust-Forschung gibt, spontan eher falsch beantworten. Wenn man darüber nachdenkt, fragt man sich dann, Fünfziger sind es sicher noch nicht gewesen, 60er-, 70er- könnte – vielleicht war es sogar erst in den Achtzigern – denken Sie nicht weiter nach. All diese Antworten sind falsch. Es gibt eine solche Professur seit knapp drei Wochen, seit dem 1. Mai dieses Jahres ist Sibylle Steinbacher Professorin für Geschichte und Folgen des Holocaust, und zwar an der Goethe-Universität in Frankfurt am Main. Schönen guten Morgen, Frau Steinbacher!
Sibylle Steinbacher: Guten Morgen, Herr Kassel!
Kassel: Man könnte fragen, warum erst jetzt eine solche Professur, man könnte auch fragen, warum jetzt eigentlich noch, wo es schon so viele etablierte Holocaust-Forschung gibt in Deutschland. Das ist am Ende aber dieselbe Frage. Also warum jetzt diese Professur?
Teil der politischen Kultur Deutschlands
Steinbacher: Man muss sagen, die Holocaust-Forschung muss in Deutschland nicht erfunden werden, die wird, wie Sie auch sagen, schon lange betrieben, sowohl an Universitäten als auch an außeruniversitären Einrichtungen, an vielen Orten auf sehr hohem Niveau. Die Forschung hat sich seit Mitte der 90er-Jahre, nach der Öffnung der osteuropäischen Archive enorm diversifiziert, hat sich sehr spezialisiert auch, und es sind ja auch neue Disziplinen im Lauf der 90er-Jahre erst entstanden.
Wenn man denkt an die vergleichende Genozidforschung, oder auch die Kolonialismusforschung hat neuen Aufschwung genommen. Vor diesem Hintergrund ist es durchaus richtig, die Holocaust-Forschung als eigenes Feld zu konturieren und sie nicht nur zu subsummieren unter die neuere und neueste Geschichte oder die Zeitgeschichte, sondern ihr tatsächlich auch einen eigenen Namen und damit auch einen eigenen Lehrstuhl zu geben. Und wenn Sie fragen, warum jetzt überhaupt noch: Ich denke, es ist auch ein wichtiges Signal. Solche Lehrstühle gibt es in anderen Ländern, und dass jetzt auch Deutschland eine solche Denomination führt, zeigt, dass dieses Themenfeld und die Auseinandersetzung damit, die kritische und selbstkritische Auseinandersetzung mit Nationalsozialismus und den Verbrechen eben ein Teil der politischen Kultur Deutschlands ist. Und das ist, glaube ich, eine wichtige Errungenschaft.
Kassel: Aber rein wissenschaftlich gesehen, gibt es wirklich noch Dinge auf diesem Feld, die noch komplett erforscht werden müssen, also Sachen, wo auch Sie sagen würden, das wissen wir einfach noch nicht?
Steinbacher: Ja, in der Tat. Das erstaunt einen, weil man oft glaubt, eigentlich wisse man schon alles. Nur diese Annahme, die gab es auch schon in den 60er-Jahren und in den 80er-Jahren. Man denke an den Historikerstreit '86/'87, der wurde geführt auf ganz dünner empirischer Basis, aber in der Annahme, dass sowieso längst alles bekannt sei. Und es ist zwar heute vieles bekannt, aber wir wissen so manches immer noch nicht. Wenn man denkt an Auschwitz, wissen wir zum Beispiel immer noch nicht, wie Auschwitz letztlich dann zum Zentrum des Massenmords an den europäischen Juden geworden ist im Lauf der Jahre '42/'43. Hier gibt es durchaus noch so manches zu erforschen. Oder wenn man denkt an die Leidtragenden selbst. Auf sie wurde der Blick der Forschung ja erst sehr spät gerichtet, im Grunde genommen erst Ende der 90er-Jahre, Anfang der 2000er-Jahre. Auch über sie gibt es noch viel zu sagen.
Die Frage nach der gesellschaftlichen Verantwortung
Kassel: Das ist ein Lehrstuhl für die Geschichte und die Wirkung des Holocaust, den Sie seit Anfang des Monats innehaben, und Sie haben sich ja auch vorher an anderen Universitäten, anderen Standorten immer auch mit der Nachkriegszeit beschäftigt. Schon aus dem Namen des Lehrstuhls darf ich schließen, das wird auch so bleiben?
Steinbacher: Ja, ganz genau. Die Wirkung des Holocaust, die reicht ja bis in unsere Gegenwart, und es ist mir auch wichtig, diesen Fragen nachzugehen. Am Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt ist von Beginn an – das Institut ist Mitte der 90er-Jahre gegründet worden –, von Beginn an ist die institutionelle Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen hier ein wichtiges Thema. Das möchte ich gern fortsetzen und überhaupt die Frage stellen nach gesellschaftlichem Umgang, gesellschaftlicher Verantwortung für die Verbrechen thematisieren. Und natürlich ist ein anhaltend und für uns aktuell auch wieder wichtiges Thema die Frage nach Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus, die Frage nach Holocaust-Leugnung. Dieses Thema verliert nicht an Aktualität.
Kassel: Tut es überhaupt nicht. Heute Morgen gibt es neue Meldungen zu einem möglichen – ich formuliere das ganz vorsichtig – zu einem möglichen rechtsradikalen Netzwerk sogar an der Hochschule der Bundeswehr in München. In der Bundeswehr gab es inzwischen viele Ereignisse und vieles ist diskutiert worden. Es gibt Rechtspopulismus in Deutschland, eine sehr erfolgreiche rechtspopulistische Partei. Gestern gab es eine neue Studie zur Anfälligkeit für rechtsradikale Tendenzen in Ostdeutschland, und, und, und. Die Liste ist, selbst wenn wir über ein paar Wochen reden wollen, nicht vollständig. Ist man da nicht manchmal auch als Historikerin ein bisschen hilflos? Haben Sie wirklich das Gefühl, die historische Forschung kann in der Gegenwart überhaupt etwas dazu beitragen, so etwas zu verhindern?
Wie wird das Erinnern vermitteln
Steinbacher: Die historische Forschung kann beitragen, weil sie Wissen vermitteln kann. Und ich denke, es ist ganz entscheidend, überhaupt Wissen herzustellen, und dann geht es natürlich in der Zeitgeschichtsforschung darum, ein kritisches Geschichtsbewusstsein zu schaffen. Das erschöpft sich nicht im Erinnern und ganz sicher nicht im Moralisieren, sondern in einer kritischen Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen und damit auch eben über den Gegenwartsbezug nachzudenken. Ja, in der Tat, ich glaube daran, dass hier vonseiten der Zeitgeschichtsforschung, der Holocaust-Forschung durchaus einiges zu machen ist.
Kassel: Aber gehört es auch zu Ihren Aufgaben und denen Ihrer Kollegen, auch über vielleicht neue Formen der Vermittlung nachzudenken? Denn eine gewisse Ermüdung ist ja bei vielen Menschen doch feststellbar, was dieses, wie manche – ich nenne es jetzt in Anführungszeichen – ständige Erinnern angeht.
Steinbacher: Ja, ganz sicher. Das Erinnern erschöpft sich ja leider bisweilen im Moralisieren und auch in etwas leeren Gedenkritualen. Das ist sicher der falsche Weg der Auseinandersetzung oder jedenfalls nur Teil eines Weges. Ja, die Vermittlungsfrage halte ich in der Tat für wichtig, und das ist auch ein Feld, mit dem sich die Pädagogen, die KZ-Gedenkstätten, die Lehrer weiterhin werden auseinandersetzen müssen, gerade auch im Kontext einer Migrations- oder Postmigrationsgesellschaft in Deutschland.
Kassel: Es gibt ganz viele Fragen, und ich freue mich schon jetzt sehr darauf, vielleicht in ein, zwei Jahren mit Ihnen über die ersten Erfahrungen auf diesem Lehrstuhl zu sprechen. Nach drei Wochen kann man die Frage ja noch nicht ernsthaft stellen, wie die aussieht. Frau Steinbacher, ich danke Ihnen sehr für das Gespräch heute Morgen!
Steinbacher: Ich danke Ihnen!
Kassel: Sibylle Steinbacher war das, die erste Professorin in Deutschland für die Geschichte und die Wirkung des Holocaust.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandfunk Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.