Umdenken in der medizinischen Forschung
Tierversuche sind in der medizinischen Forschung nach wie vor Standard. Doch das wird an der Berliner Charité nun hinterfragt. Die Forscher sind überzeugt, dass andere Ansätze zu besseren Behandlungsmöglichkeiten führen können.
"Letzte Wiese" sagen Ärzte zu dieser Intensivstation an der Berliner Charité. Stefan Hippenstiel, Professor für Infektiologie und Pneumologie, steht am Bett einer Patientin mit Multiorganversagen. Sie ist nicht bei Bewusstsein, wird wohl bald sterben. Überall Schläuche, Geräte piepen und röcheln.
"Also wir stehen jetzt hier am Bett eines Patienten, bei dem die normale, klassische Beatmung schon nicht mehr wirksam ist, der durch eine Vielzahl von Geräten am Leben gehalten wird."
"Also wir stehen jetzt hier am Bett eines Patienten, bei dem die normale, klassische Beatmung schon nicht mehr wirksam ist, der durch eine Vielzahl von Geräten am Leben gehalten wird."
Hippenstiel nimmt seine Studenten immer mal hier mit hin, um zu zeigen, worum es in der Medizin am Ende geht: Um die Entwicklung guter Therapien für den Menschen. Diese Verantwortung treibt den Leiter der Experimentellen Infektiologie um. Darum hinterfragt er das bestehende System der Medizin, das wesentlich auf Erkenntnissen aus Tierversuchen beruht.
Näher an den echten Menschen
"Also zunächst einmal ist klar, dass Tierversuche sehr zu unserem heutigen Wissensstand von Krankheiten beigetragen haben. Gleichzeitig sehen wir aber auch, dass viele dieser Modelle uns auch in die Irre geführt haben beziehungsweise dass sich die Ergebnisse aus den Laboren nicht an den Menschen übertragen ließen. Deswegen brauchen wir dringend neue, auf menschlichen Zellen und Geweben basierende Methoden, die es uns erlauben, näher an den echten Menschen und an diese komplizierte Krankheitssituation heranzurücken."
Die Charité will ein Umdenken anstoßen. Ein interdisziplinäres Zentrum, das Alternativen zu Tierversuchen fördern will, befindet sich in Gründung – in Kooperation mit anderen Berliner Forschungseinrichtungen und der Landespolitik. Forschungsstaatssekretär Steffen Krach:
"Wir sind der Meinung, dass es dann auch zu unserer Verantwortung gehört. Und das haben wir im Koalitionsvertrag festgehalten, das war Konsens zwischen allen drei Koalitionspartnern. Und wir wollen Berlin zu einem Zentrum für die Erforschung zu Alternativen zu Tierversuchen machen."
Der Vordenker dieser Initiative ist kein geringerer als der Dekan der Charité, Axel Radlach Pries:
"Die Scientifc Community muss umdenken. Muss diesen Punkt sehr viel stärker in den Fokus nehmen. Um wirklich Alternativen so stark und so schnell zu entwickeln, wie es möglich ist. Also ein Punkt ist technische Schwierigkeiten, aber die kann man überwinden. Der andere Punkt ist: Strukturelle Hemmnisse, weil man nicht energisch genug in dieses Gebiet reingeht."
Tierversuch als Goldstandard
Der Dekan will die Tierversuche nicht abschaffen, sondern Alternativen konkurrenzfähig machen, um damit Tierversuche nachhaltig zu reduzieren. Und um bessere Therapien entwickeln zu können. Warum das so schwierig ist? Pries vergleicht es mit der Windkraft, die im Atomkraftzeitalter ein Nischendasein führte:
"Große Firmen haben große Kraftwerke und investieren Geld und sorgen dafür, dass das auch so bleibt. Genauso ist das in der Wissenschaft natürlich so, dass die Personen, die im Moment Drittmittelanträge begutachten, die im Moment Publikationen in den Journals begutachten, sind überwiegend Menschen, die einen Hintergrund haben in hochwertigen Tierversuchen. Und selbstverständlich erzeugt das – völlig ohne jeden bösen Willen dahinter - eine gewisse Priorisierung. Viele von diesen Leuten werden sagen: Ja, was du da vorhast, ist ein sehr, sehr spannendes Projekt, Wirkung von Krebsmitteln, ähnlichem – aber du müsstest das doch mal in einem Tiermodell testen."
Ein kleines Labor. Die Maschine, die hier steht, ist wenig größer als ein Staubsauger, aber teurer als ein Einfamilienhaus. Es ist eine Wasserstrahl-Schneidemaschine, die menschliche Gewebeproben für die alternativen Versuche in 0,1 Millimeter große Scheiben schneidet. Die Fördergelder dafür haben die Forscher nur auf Umwegen erhalten.
Hippenstiel: "Der Trick ist immer der gleiche. Sie treten nicht an, um eine Alternativmethode zu entwickeln, sondern sie treten mit einer hochwissenschaftlichen inhaltlichen Fragestellung an. Und in dieser Fragestellung verstecken sie dann, quasi, diese Anwendung, die sie eigentlich im Sinne haben. Das heißt, sie argumentieren, die Aufgabe ist es, ein menschliches Lungengewebe besser lebend mikroskopieren zu können, um diesen oder jenen Inhalt erforschen zu können. Und dafür müssen sie diesen lebenden Schwamm, möglichst ohne ihn zu zerstören, in 0,1 Millimeter dünne Scheiben schneiden. Das war die Herausforderung, vor der wir standen."
Fördergelder über Umwege
Die Deutsche Forschungsgemeinschaft, DFG, hat zwar die Maschine gefördert – die Weiterentwicklung der Maschine ist jedoch unsicher, weil es, so Hippenstiel, für solche "Methodenentwicklung" kaum Geld gibt. Brigitte Vollmar, die Vorsitzende der Senatskommission für tierexperimentelle Forschung an der DFG, bestreitet jedoch, dass Tierversuche bei der Förderung bevorzugt werden:
"Also es ist nicht der Fall, dass Tierversuche eher gefördert werden. Nochmal: Die Priorität liegt immer an der Originalität der Fragestellung, an der Adäquatheit der Methodik, an der Performance auch des Antragstellers. Und das ist ein Konglomerat an Kriterien, die herangezogen werden in der Begutachtung von Projektvorhaben, und es ist sicherlich nicht ein grundlegendes Kriterium, ist es eine Alternativmethode: Ja, nein."
Grundsätzlich begrüße die DFG das Engagement der Berliner ausdrücklich, sagt Vollmar. Dennoch seien Tierversuche nach wie vor der Goldstandard, an dem sich die Alternativenforschung messen müsse. Forscher wie Hippenstiel kritisieren das und nehmen ihr Engagement zudem als Karrierehemmnis wahr:
"Wir hatten vor kurzem eine Publikation in einem sehr hochwertigen Journal, die Studie war rein an menschlichem Material erfolgt. Und zwei der drei Gutachter wollten unbedingt, dass diese Sachen in der Maus nachvollzogen werden. Sie zweifelten unsere Ergebnisse nicht an, aber sie wollten gezeigt haben, dass es auch in der Maus funktioniert. Und das haben wir dann nicht gemacht und nicht gewollt. Und deswegen konnten wir in diesem Journal auch nicht publizieren."
"Wieso haben sie das nicht gemacht?"
"Warum sollen wir etwas gegen das Tier validieren, wenn wir am Menschen interessiert sind? Zumal wir in diesem Fall Bakterien hätten einsetzen müssen, in diesen Versuchen, die rein menschpathogen sind. Sie gibt es im Tier einfach nicht. Wo ist dann der Nutzen?"
Bleiben Tierversuche unersetzbar?
Tierversuche seien zwar auf absehbare Zeit nach wie vor oft notwendig, betont Hippenstiel. Für die Erforschung mancher Krankheiten sind sie aber ohnehin nicht die beste Wahl.
Im Verbund mit der Berliner Politik will die Charité die Barrieren eines sich selbst stabilisierenden Prozesses durchbrechen. Das ist ambitioniert und wird dauern. Aber es ist – das Hauptargument der Forscher – für eine bessere Wissenschaft und neue Therapien unvermeidlich. Der Erfolg ist allerdings auch davon abhängig, ob Förderinstitutionen und Stiftungen sich am Umdenken beteiligen.
Hinweis: In einer früheren Version dieses Beitrags stand ein Aspekt einseitig im Fokus. Wir haben daher Überschrift, Vorspann und Foto geändert.