Christoph Joseph Ahlers, Michael Lissek: Himmel auf Erden und Hölle im Kopf
Goldmann Verlag, München 2015
448 Seiten, 19,99 Euro
Was Sex für uns bedeutet
In seinem Buch "Himmel auf Erden und Hölle im Kopf" erzählt Sexualtherapeut Christoph Ahlers verstörende, erstaunliche und anrührende Geschichten aus seinem Berufsleben. Er meint: Beim Sex geht es um viel mehr als um erregte Genitalien.
Jahrelang beugte sich eine Frau den sexuellen Wünschen ihres Mannes. Er wollte ständig seinen Penis zwischen ihren Brüsten reiben – ihr war das zuwider. Weil sie sich nicht anders zu helfen wusste, entschied sich die Frau schließlich zu einer Amputation beider Brüste. Verstörende, erstaunliche, anrührende Geschichten präsentiert Christoph Ahlers in dem neuen Buch "Himmel auf Erden und Hölle im Kopf". In zwölf Kapiteln spannt der Sexualtherapeut einen weiten Bogen vom ersten Kuss und der ersten Liebe über das Sexleben in langjährigen Beziehungen, den Konsum von Internetpornografie oder erstaunliche sexuelle Präferenzen bis hin zu dem, was eine Sexualtherapie im Schmerzfall anzubieten hat.
Christoph Ahlers kennt Geschichten von Menschen, die sich lieber drastischen Operationen unterziehen, als einmal offen miteinander zu sprechen oder sich ihrer eigenen Bedürfnisse gewahr zu werden. Geschichten von Jugendlichen, in deren Köpfen schon die härtesten Pornofilme flirren, bevor sie ein erstes Mal Händchen gehalten haben. Geschichten von Bilderbuch-Ehemännern, die hier und heute und obwohl Schwule und Lesben längst Regenbogenfahnen auf Rathäusern hissen ihre Wochenenden auf schmutzigen osteuropäischen Bahnhöfen mit Strichern verbringen, sich dort mit Syphilis anstecken und es hinbekommen, die Krankheit bis zum psychotischen Endstadium geheim zu halten. Geschichten aber auch von den vielen langen Beziehungen und Ehen, in denen es zur allmählichen Erosion der sexuellen Begegnungen kommt und, vielleicht, eine Sexualtherapie helfen kann, sich menschlich wie sexuell wieder füreinander zu interessieren.
Sehnsucht nach leiblicher Erfüllung
Doch was ist das für ein "Himmel auf Erden", der in der Sexualität zu finden sein könnte und von dem der Buchtitel spricht? Das Atemberaubende am Sex ist nicht die Erregung der Genitalien, betont Christoph Ahlers immer wieder, sondern es lassen sich dabei innig und intensiv psychosoziale Grundbedürfnisse stillen. Menschen möchten sich gewollt, gemeint und bestätigt fühlen. Im Sex erfährt diese Sehnsucht eine überzeugende leibliche Erfüllung. Hier aber liegt die Crux, arbeitet das Buch eindringlich heraus, denn unsere Kultur reduziert Intimität immer zwanghafter auf einen rein biologischen Akt, inzwischen mit dem Segen einer modisch um sich greifenden, reduktionistischen Populärbiologie. Hier möchte das Buch aufklären und das sexuelle Geschehen wieder in seiner ganzen Komplexität in den Blick rücken, was ihm überzeugend gelingt.
Seine Arbeit sei auf Kommunikation ausgerichtet, erklärt Christoph Ahlers, deshalb habe auch das Buch nur im Gespräch entstehen können. Als Koautor und Gesprächspartner fungiert der Journalist Michael Lissek. Mitunter wirkt die Dialogform gekünstelt, doch über die größten Strecken des Buches bleibt es eine Freude, Christoph Ahlers beim Erzählen zuzuhören, zeigt er doch, wie das gehen kann: schamfrei, herzhaft, völlig vorurteilsfrei über Sex in seinen hunderten von Varianten zu sprechen und dabei immer nur das Eine im Sinn zu haben – das seelische Wohl des einzelnen Menschen.