Claudia Tieschky: "Engele"

Drei Frauen, drei Generationen, eine Geschichte

Buchcover Claudia Tieschky: "Engele"
Die Großmutter Ruth ist stark und selbstbewusst und muss damit fertig werden, dass ihr Mann wegen sexuellen Missbrauchs verurteilt wurde. © Rowohlt Berlin Verlag / Hintergrund: picture-alliance / Ursula Röhnert
Von Rainer Moritz |
Claudia Tieschky erzählt in "Engele" die Geschichte dreier Frauen von den 1930er-Jahren bis heute. Es geht um Liebe, Unabhängigkeit und die Folgen eines Skandals. Ein schnörkelloses, vielschichtiges und erfreuliches Debüt.
Ein spätes Debüt, ein berührendes Debüt: Claudia Tieschky, Jahrgang 1968, hat sich einen Namen als Medienpublizistin gemacht und betritt mit ihrem Roman "Engele" nun erstmals das literarische Feld. Was sie dabei angeht, wirkt auf den ersten Blick beinahe konventionell: Sie erzählt, was man aus vielen Büchern zu kennen meint, die Geschichte dreier Frauen, die von den 1930er-Jahren bis in unsere Gegenwart reicht.
Die jüngste, die Journalistin Lotte, trifft sich in Berlin regelmäßig mit ihrem Liebhaber Frieder, auf "neutralem Terrain". Ungewissheit verspürend, was aus dieser "nicht öffentlichen Liebe" werden soll, setzt sie – als Bett- oder Telefongeflüster – dazu an, von ihrer Großmutter Ruth zu erzählen. Es ist die "Geschichte einer grandios unabhängigen Frau, einer männermordenden Schönheit", die in Rückblenden und Vorausgriffen ausgebreitet wird und Zeitgeschichte mit Einzelschicksalen verschränkt.
Als 17-Jährige kehrt Ruth 1936 Beuthen, ihrer polnischen Heimat, den Rücken und macht sich voller Sehnsüchte ins legendenumwobene Berlin auf, wo sie im Krankenhaus Arbeit findet und nicht wenigen Männern den Kopf verdreht. Von diesen goldenen Tagen wird Ruth später ihrer Enkelin Lotte en détail berichten, ohne dass sich eindeutig sagen ließe, inwieweit dieser Erzählerin zu trauen ist.

Aus dem "Kinderversteher" wird der "Kinderverderber"

Ruths Leben nimmt 1942 seine entscheidende Wendung, als sie den fast ein Vierteljahrhundert älteren Siegfried Engele kennenlernt – einen Offizier, der sich mitten im Krieg dazu entschließt, seinen musikalischen Neigungen nachzugeben und Kompositionslehre zu studieren. Die beiden heiraten, und nach dem Krieg folgt Ruth ihrem Mann in dessen Heimat nach Süddeutschland, wo alle Frauen "rote Apfelbäckchen" haben und Siegfried als Musiklehrer arbeitet. Doch das geordnete Leben in der Kleinstadt fällt ein paar Jahre später jäh in sich zusammen, als Siegfried des Missbrauchs seiner jungen Schülerinnen überführt und zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt wird.
Wie aus dem "Kinderversteher" Siegfried ein "Kinderverderber" werden konnte, bleibt ein Rätsel. Ruth freilich trotzt der gesellschaftlichen Ächtung, die sie mit voller Wucht trifft, lässt sich nicht vertreiben und vom Zeitgeist der scheinbar biederen 1950er-Jahre nicht vereinnahmen. Sie erweist sich erneut als starke, selbstbewusste Frau, doch verzeihen wird sie Siegfried seine Schuld nie. Der unversöhnliche Hass, den sie zeigt, als dieser aus der Haft entlassen wird, macht sie zu einer aufregend zerrissenen Figur und nimmt dem Text alles vermeintlich Konventionelle.

Schnörkellos Porträt dreier Frauen

In Claudia Tieschkys Figurengeflecht spielen Ruth und ihre Enkelin Lotte die zentralen Rollen. Deren Mutter Clara, die ein unaufgeregtes Leben anstrebt, gewinnt erst gegen Ende des Romans an Kontur, als Lotte sie hartnäckig nach Ruth und nach dem Skandal um Siegfried befragt.
So ist "Engele" das schnörkellos geschriebene Porträt dreier Frauen – und nicht zuletzt eine feine Liebesgeschichte, für die das Erzählen der Vergangenheit entscheidendes Gewicht erlangt. Denn Lotte erkennt in dem Maße, wie sie sich Ruths Leben annähert, dass sie selbst vor Entscheidungen steht. Ruths Ratschlag, sich nie von Männern abhängig zu machen, beherzigt sie gern, doch sie weiß auch, dass der mit ihr Berliner Hotelmatratzen teilende Frieder vielleicht der Mann ist, zu dem sie sich bekennen muss. Auch diese Wende am Schluss des Romans macht "Engele" zu einem so erfreulichen, vielschichtigen Buch.
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