Colin Ellard: "Psychogeografie" - Wie die Umgebung unser Verhalten und unsere Entscheidungen beeinflusst
Aus dem Amerikanischen von Sigrid Ruschmeier
btb, Mai 2017
352 Seiten, 22 Euro
Wie der Raum unser Verhalten bestimmt
Warum sind im Café die Tische am Rand schneller besetzt als in der Mitte? Weshalb werden Krankenhauspatienten schneller gesund, wenn sie ins Grüne blicken? Wieso schüchtern uns Kirchen ein? Der kanadische Neurowissenschaftler und Psychologe Colin Ellard gibt Antworten.
Für die meisten Tiere ist es überlebenswichtig, die Umgebung gut zu überblicken und gleichzeitig selbst möglichst unsichtbar zu bleiben. Gute Sicht in einem geschützten Raum mögen auch wir Menschen. Restaurantbesucher sitzen lieber an der Wand oder in einer Ecke als in der Mitte. Intuitiv fühlen wir uns auf einem Präsentierteller weniger sicher.
Ebenso empfinden die meisten Menschen eine grüne Umgebung als beruhigend und wohltuend. Draußen zu sein in der Natur entspannt und trägt zur seelischen wie körperlichen Gesundheit bei. Es kann auch schon beruhigend wirken, sich einen Wald oder eine Wiese auch nur auf einem Foto oder Video anzuschauen. Das hat der Neurowissenschaftler Colin Ellard in Experimenten herausgefunden. Vielleicht wären solche künstlichen Natureindrücke unter bestimmten Umständen realen sogar vorzuziehen, zumindest in einer Stadt wie Kuala Lumpur, wo der umgebende Dschungel manche Gefahren bereithält, meint Ellard:
"Nun will ich mitnichten dafür plädieren, dass man Naturschauplätze oder Bäume in Städten durch Simulakren auf Bildschirmen ersetzt. (…) Alle Vorschläge, Naturszenen durch technisch erzeugte Bilder zu ersetzen, sind mit Vorsicht zu genießen. Letztere mögen manchmal die gleiche Wirkung hervorbringen wie das Eintauchen in die Natur selbst, aber eben nur unter sehr speziellen Bedingungen – wenn es nämlich keine Alternative gibt."
Schachmatte Argumentation
Das Grundmuster eines lauwarmen "einerseits – andererseits" prägt den Ton des Buches und ist zugleich sein Webfehler. So sehr Ausgewogenheit zur umfassenden Information beitragen kann: Bei Colin Ellard fängt sie schnell an zu nerven, weil er auf diese Weise seine eigene Argumentation immer wieder schachmatt setzt.
So preist er seitenlang die Vorzüge von vernetzten, internetgesteuerten Wohnhäusern. In leuchtenden Farben malt er die schöne, smarte Welt aus und prophezeit, dass wir unsere Wohnung künftig lieben werden wie einen Partner und unser Zuhause "diese Liebe erwidern" wird: "ein Zukunftsversprechen der responsiven Architektur". Um dann wenige Seiten später doch skeptisch zu fragen, was wir dadurch eigentlich gewinnen?
"Science-Fiction-Filme lehren uns nämlich, dass intelligente Computerschnittstellen Fehler machen, Anweisungen missverstehen oder zu üblen Zwecken gehackt werden können – die typischen Risiken und Nebenwirkungen jeder Technologie, von der unser Wohl und Überleben abhängt. Wirklich überlegen sollten wir vielleicht, welche Risiken es birgt, wenn unsere Technologie Aufgaben erledigt, die essenziell zu dem gehören, was menschlich ist und uns als Menschen auszeichnet."
Orte der Lust und Räume der Angst
Diesen Ratschlag sollte der Autor zunächst selbst beherzigen, bevor er erneut von der Technologie zu schwärmen beginnt. Dabei hat er sein Buch durchaus interessant gegliedert: "Orte der Zuneigung, Orte der Lust, Orte der Langeweile. Räume der Angst und Räume der Ehrfurcht." Das klingt alles zunächst einmal vielversprechend.
Unter "Räumen der Lust" versteht der Autor Einkaufszentren und Spielkasinos, die im Sinne ihrer Betreiber so klug konstruiert seien, dass sie den Besuchern möglichst viel Geld aus der Tasche ziehen. "Orte der Langweile" sind für ihn eintönige Vorstädte und gleichbleibende Fassaden, die dem Auge keine Abwechslung bieten.
"Solche Bauten funktionieren auf psychologischer Ebene eben deshalb nicht, weil wir uns von Natur aus gern an Orten aufhalten, die ein wenig komplex sind und ein wenig spannend, an Orten also, die uns Informationen der einen oder anderen Art geben. (…) So sehr wir uns in endlos langen Null-Bit-Straßen in städtischen Vororten oder im Bankenviertel großer Städte langweilen, sind wir doch auch schnell überlastet, wenn wir zu viel des Guten erleben."
Soll uns das Smartphone vor stressigen Orten warnen?
So pendelt der Autor weiter zwischen zarter Kritik und heller Euphorie: Man könnte doch, spekuliert er, in seinem Smartphone eine individuelle Karte von stressenden Orten anlegen, so dass das Telefon einen rechtzeitig warnt, bevor man seine tägliche Belastungsgrenze erreicht hat. Dann sollte man, seiner Gesundheit zuliebe, eine ruhigere Region oder eine erholsame Grünfläche aufsuchen. Wer allerdings ein Smartphone braucht, um zu spüren, was ihm guttut, hat wohl ein echtes Problem.
Wirklich anrührende Beobachtungen gelingen dem Autor in seinem Kapitel "Räume der Ehrfurcht", wenn er sich zum Beispiel an einen Besuch im Petersdom erinnert.
Wirklich anrührende Beobachtungen gelingen dem Autor in seinem Kapitel "Räume der Ehrfurcht", wenn er sich zum Beispiel an einen Besuch im Petersdom erinnert.
"Außer meinen Gefühlen von Größe und Weite (…) verspürte ich nicht nur mit meinen Mitbesuchern, sondern eigentlich mit allen, die in den Jahrhunderten zuvor in dieser Kirche gewesen waren, ein Gefühl der Einheit. (…) Ehrfurchtserfahrungen katapultieren uns über die engen Grenzen unseres Körpers hinaus und bringen uns auf Gedanken, dass unsere Existenz vielleicht aus mehr als einem schlagenden Herzen in einer fragilen organischen Hülle besteht. Wir empfinden Grenzenlosigkeit, weil die Grenzen von Zeit und Raum, die uns normalerweise am Boden halten, plötzlich wie weggewischt sind."
Verplätscherte Beobachtungen
Aber kaum hat der Experimentalpsychologe diese differenzierten Empfindungen formuliert, fragt er sich und seine Leser auch schon, wie man sie wohl am besten messen könnte? Bei aller Liebe zur empirischen Forschung – eine ziemlich absurde Frage.
Und so verplätschern seine stärksten Beobachtungen und Überlegungen. Sein Forscherherz "hüpft vor Begeisterung" in Anbetracht der neuen Technologien. Als "Bürger" zeigt er sich skeptisch. Vielleicht wäre ein Ausweg, den inneren Forscher und den inneren Staatsbürger miteinander zu versöhnen und in Einklang zu bringen.