Comic "Der Sommer ihres Lebens"

Lichtreflexe der Erinnerungen

Buchcover "Der Sommer ihres Lebens"
In "Sommer ihres Lebens" blickt die 85-jährige Gerda zurück. © Reprodukt Verlag / dpa
Von Frank Meyer |
Die 85-jährige Gerda lebt im Altersheim. Ihre große Zeit als Physikerin ist längst vorbei - doch die Erinnerungen an ein erfülltes Leben zwischen Karriere und großer Liebe flackern immer wieder auf: In "Der Sommer ihres Lebens" treffen starke Bilder und intensive Gefühle aufeinander.
Diese junge Frau ist Physikerin, sie kann deshalb womöglich die Zeit anhalten. Sie tut es, als sie neben ihrem Geliebten liegt, ihr Bett und der ganze Raum drumherum beginnen zu schweben, abzuheben, zu fliegen in einem Schneeschauer sich auflösender Zeit. Diese Bilderfolge von Barbara Yelin ist von unheimlicher Schönheit, so wie ekstatische Verliebtheit etwas Unheimliches hat.
Die Zeichnerin Barbara Yelin und der Autor Thomas von Steinaecker erzählen gemeinsam von der Physikerin Gerda und vom "Sommer ihres Lebens". Man lernt Gerda als 85-Jährige in einem Altersheim kennen, langsam verblasst in ihr sogar das, was sie immer am besten konnte, der Umgang mit Zahlen. Sie vergisst hier die einstelligen Nummern der Stockwerke, während sie früher lässig mit den komplexen Gleichungen der Astrophysik jonglierte. Ganz gegenwärtig sind ihr aber die emotionalen Tiefschläge und Höhepunkte ihrer Vergangenheit. In ihrer Schulzeit in den 1960er-Jahren wurde sie als Alien verlacht, weil sie alle Jungs im Mathematikunterricht ausgestochen hat. "Früher war ich unsichtbar" sagt Gerda über ihre Wahrnehmung als Frau. Das ändert sich erst, als sie ihre große Liebe trifft, den Mann, mit dem für Momente die Zeit aufgehoben scheint. Lange dauerte diese Gemeinsamkeit nicht, Gerda wird schließlich als Wissenschaftlerin glücklicher als als Liebende.

Entstanden aus einer Online-Erzählung

"Der Sommer ihres Lebens" ist ursprünglich für ein literarisches Online-Magazin entstanden, für die Buchausgabe haben Thomas von Steinaecker und Barbara Yelin die Geschichte überarbeitet und erweitert. Thomas von Steinaecker ist Romanautor, in seinen Büchern arbeitet er immer wieder mit Bildern als Teil der Erzählung, und er ist einer der besten Kritiker für Graphic Novels und Comics. Die Zeichnerin und Autorin Barbara Yelin ist mit ihrem Buch "Irmina" bekannt geworden, der Geschichte einer Mitläuferin in Nazi-Deutschland. Mit dem Buch hat sie mehrere Preise gewonnen, 2016 wurde sie beim Internationalen Comic-Salon Erlangen als "Beste deutschsprachige Comic-Künstlerin" ausgezeichnet.
Graphische Erzählungen können starke Bilder schaffen, intensive Verdichtungen von Wahrnehmungen, Gefühlen, Erinnerungen, die keine geschlossene Erzählung brauchen. "Der Sommer ihres Lebens" erzeugt solche Bilder, ohne Gerdas Leben auszuerzählen. Einzelne Punkte ihrer Biografie reichen aus, um die Vielfalt ihrer Erfahrungen aufzurufen. Wenn Gerda am Fenster ihres Altersheims steht, dann sieht man ihr diesen Reichtum an und das traurige Glück der Erinnerung. Barbara Yelins Bilder machen das möglich. Sie kommt mit wenigen gelben und blauen Farbtönen aus in ihren Tuschzeichnungen, sie kann damit impressionistische Lichtgewitter genauso erzeugen wie dunkle Nachtgesichter. In den Bildern vermischen sich die Zeiten, das Mädchen Gerda geht Hand in Hand mit der alten Frau, die Grenzen zwischen Ich und Welt lösen sich auf. 80 Seiten hat dieses Buch nur, eine kurze, aber weit ausgreifende Erzählung von all dem, was in einem einzigen Leben steckt.

Thomas von Steinaecker und Barbara Yelin: Der Sommer ihres Lebens
Reprodukt Verlag, Berlin 2017
80 Seiten, 20 Euro

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