"Sowas habe ich noch nie geschrieben"
Daniel Kehlmanns neuer Roman "Tyll" spielt im Dreißigjährigen Krieg. Einem Krieg, der mehr Opfer gefordert und mehr Zerstörung angerichtet habe als der Zweite Weltkrieg. Die Herausforderung, über diese Gewalt zu schreiben, habe ihn gereizt, sagt Kehlmann.
Liane von Billerbeck: Daniel Kehlmann ist bei uns zu Gast. Man muss ihn eigentlich gar nicht mehr vorstellen. Er hat gestern in Berlin seinen neuen Roman "Tyll" vorgestellt, der bereits ausgiebig gefeiert wurde. Ein Roman über den Dreißigjährigen Krieg mit vielen Protagonisten und der tollste darunter Tyll Ulenspiegel, der kluge, traurige Narr, der alles durchschaut und vieles auch ausspricht und dessen Lebenszeit Kehlmann hier kurzerhand um zwei Jahrhunderte verlegt hat, weil er irgendwie auch der Narr schlechthin ist und man sich einen solchen Mahner und Spötter in einer Zeit des Zerfalls wünscht.
Daniel Kehlmann, Jahrgang 75 – jetzt mache ich es doch noch mal, die Vorstellung –, für sein Werk vielfach preisgekrönt: mit dem Kleist- und dem Thomas-Mann-Preis unter anderem, und sein Roman "Die Vermessung der Welt" haben bestimmte viele von Ihnen auch gelesen, ist ja einer der erfolgreichsten deutschen Romane nach 1945. Zurzeit unterrichtet er in New York an der Universität und war da auch Fellow an der New York Public Library. Herr Kehlmann, ich grüße Sie!
Daniel Kehlmann: Guten Tag!
Der eigentliche Protagonist ist der Krieg
Billerbeck: Ihr neuer Roman heißt zwar "Tyll", wir wollen aber mit Ihnen über einen Protagonisten reden, der der eigentliche ist in dem Buch, nämlich der Krieg, der Dreißigjährige Krieg, wie der Krieg überhaupt. Das ist ja kein angenehmes Thema. Was hat Sie so fasziniert an diesem Dreißigjährigen Krieg, und warum genau haben Sie sich diesen ausgesucht?
Kehlmann: Was mich dran fasziniert hat war eben, dass er mich so erschreckt hat. Er ist dieser dunkle, merkwürdige Untergrund, den man so oft im Hintergrund bemerkt, wenn man deutsche Literatur liest oder wenn man sich mit deutscher Geschichte beschäftigt. Er spielt irgendwie in alles hinein, aber es wird dann doch auch nicht so viel direkt über ihn geredet, und ich wollte zunächst einfach so genauer wissen, was damals eigentlich passiert ist, und die Zerstörung hatte wirklich ungeheuerliche Ausmaße, mehr als im Zweiten Weltkrieg, was ja kaum vorstellbar ist, aber tatsächlich der Fall ist.
Die Opferzahlen bei der Zivilbevölkerung waren viel höher als im Zweiten Weltkrieg. Es war ein so vollkommener Zerfall von allem, und ich habe dann schnell den Moment erreicht, wo ich dachte, sowas habe ich zwar noch nie gemacht, ein Buch, das eben ein Kriegsbuch ist und das auch ganz wesentlich von Gewalt handelt, nicht im übertragenen Sinne, sondern echte physische, brutale Gewalt, sowas habe ich noch nie geschrieben, aber dann dachte ich auch, das ist eine Herausforderung, die mich auf eine komische Art anlockt.
Der erste Krieg, in dem Propaganda eingesetzt wurde
Billerbeck: Sie haben schon gesagt, die Opferzahlen waren viel höher als im Zweiten Weltkrieg. Wie haben Sie dann das alles recherchiert, um danach dann einen Roman draus zu machen?
Kehlmann: Es gibt ja eine Geschichtswissenschaft, die sehr gut gearbeitet hat. Das heißt, es gibt sehr gute Bücher über diesen chaotischen Verlauf des Krieges. Das heißt, selbst wenn man mit großer Aufmerksamkeit in der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges liest, verliert man irgendwann den Faden und den Fokus, weil es einfach auch so ein unendliches Chaos ist, aber trotzdem, das gibt es. Was noch interessanter ist, sind die Quellensammlungen aus der Zeit, die auch sehr gut verfügbar sind, wo es auch vieles gibt. Das war ja der erste Krieg in diesem Sinne, wo auf allen Seiten von sehr effektiv arbeitenden Propagandaprofis begleitet wurde, Unmengen an Flugblättern, Unmengen an Fehlinformation.
Ich will jetzt nicht auch schon wieder diesen heute viel genutzten Begriff Fake News verwenden, aber ich meine, unter dem Namen Propaganda ist das etwas sehr Altes und hat damals wirklich schon einen frühen Höhepunkt erlebt. Das Alltagsleben in der frühen Neuzeit wird auch seit Kurzem sehr stark von Historikern aufgearbeitet. Also diese Frage, mit der sich früher die Historiker kaum beschäftigt haben, nämlich wie haben die einfachen Leute eigentlich gelebt, darüber kann man heute viel mehr wissen als noch vor 20, 30 Jahren, und das habe ich natürlich auch sehr gerne genutzt als Schriftsteller.
Im Mittelpunkt stehen die einfachen Leute
Billerbeck: Ihr Roman ist natürlich kein Geschichtsbuch. Also ich habe den auch gelesen eigentlich auch als ein Roman über das Wesen des Krieges, natürlich in literarischer Form. Wenn Sie sagen, Sie haben auch beschrieben das Schicksal, das Leben der einfachen Leute. Ging es Ihnen vor allem auch darum, was so ein Krieg mit dem Leben der ganz normalen Menschen macht?
Kehlmann: Ja, auf jeden Fall. Man kann Krieg nicht mehr erzählen nur als Geschichte von Fürsten und Königen. Es gibt zwar einen König in meinem Buch und eine Königin, den Winterkönig und seine Frau, die überhaupt den Dreißigjährigen Krieg ins Laufen gebracht haben. Also es kommt ein König bei mir vor, der aber eine Parodie des Königtums ist, weil er vollkommen machtlos ist und nur noch diesen Titel hat, und sonst geht es genau darum: was tut das mit den einfachen Leuten, die sich eben nicht aussuchen dürfen und aussuchen können, ob sie sich an so einem Konflikt beteiligen. Das ist eigentlich das Hauptthema.
Billerbeck: Es gibt eine Passage in dem Buch, in der es darum geht, dass man den Krieg ja eigentlich gar nicht beschreiben kann, dass jene, die Teil oder Zeugen einer Schlacht waren, hinterher einfach keine Worte finden, und Sie beschreiben den Krieg ja durch das ganze Buch hindurch in verschiedenen Rollen, in verschiedenen Perspektiven und Figuren. Ist das Ihre Lösung, für die Unbeschreiblichkeit des Krieges oder Unbeschreibbarkeit des Krieges den Einzelnen sehen?
"Den Einzelnen sehen und das Chaos, das ihn umgibt"
Kehlmann: Ja, den Einzelnen sehen und das Chaos, das ihn umgibt. Es gibt sozusagen nicht die Vogelperspektive im Krieg. Das ist ja auch – in einem ganz anderen Medium – das große Verdienst von Steven Spielberg als er damals diesen Kriegsfilm "Saving Private Ryan" gedreht hat, dass er das Schlachtfeld immer aus der Sicht einzelner Soldaten zeigt und damit als absolutes Chaos. Wir sind von unseren Sehgewohnheiten ja gewöhnt, dass es nach einigen Einstellungen aus der Einzelsicht immer eine Vogelperspektive gibt, und man kennt sich wieder aus.
Die Wahrheit des Krieges ist aber die Abwesenheit dieser Vogelperspektive. Keiner kennt sich aus. Das war mir schon auch wichtig: Es gibt nicht diese überschauende Perspektive. Mein Roman erzählt eben auch nicht, man erfährt daraus nicht die großen Linien des Dreißigjährigen Krieges, sondern der Roman, er ist nicht über den Krieg sondern er spielt in diesem Krieg, und alle Figuren erleben den Krieg als absolut chaotisch.
Billerbeck: Ist das auch eine Warnung vor einem trügerischen Sicherheitsgefühl, das wir heute haben?
Kehlmann: Na ja, man kann gar nicht von dieser Zeit erzählen, ohne diese Warnung mitzudenken, und ich glaube, man kann wahrscheinlich auch das Buch nicht lesen, ohne es als Warnung dann zu erleben, egal, ob ich das jetzt so geplant habe oder nicht, weil der Dreißigjährige Krieg eben ein vollkommener Zusammenbruch aller ordnungsgebenden Mächte auf allen Seiten war. Da ist man ja auch immer mehr hineingeschlittert, und dann, nachdem man hineingeschlittert war, konnte man nicht mehr raus.
Es gab erst mal überhaupt keine Diplomatie. Diplomatie in dem Sinne war noch nicht erfunden. Die musste überhaupt erst erfunden werden. Also wie fragil eigentlich Ordnung ist. Wir alle unterschätzen immer, wie leicht Ordnung zusammenbrechen kann. Wir alle überschätzen immer die Tragfähigkeit der Ordnungssysteme, in denen wir leben, und wenn man sich mit so einer Zeit beschäftigt, wo alles zusammengebrochen ist, dann wird einem das wieder sehr klar.
"Religion kommt immer gemischt mit Machtinteressen einher"
Billerbeck: Herfried Münkler, der zieht ja in seinem heute erscheinenden Buch "Der Dreißigjährige Krieg" durchaus vorsichtige Parallelen zur Gegenwart. Also so wie der Dreißigjährige Krieg aus vielen Konflikten bestand, werden wir vielleicht auch in der Rückschau auf die aktuellen Konflikte, also Syrien, Nordirak, Libyen, irgendwann von einem Krieg sprechen. Haben Sie, wenn Sie die Vergangenheit betrachten, etwas aus Ihrer Beschäftigung mit dem Dreißigjährigen Krieg gelernt, das mit dem Heute zu tun hat?
Kehlmann: Nun ja, das allererste, was man lernt, ist nichts Abstraktes, sondern das erste, was man lernt, ist Mitleid. Wenn man sich damit beschäftigt, wie furchtbar es den Menschen ging und wie schrecklich sie in Mitleidenschaft gezogen wurden, dann lernt man vor allem daraus, es ist eine Schulung in Mitleid, also dass man sagt, hilf den Menschen, zum Beispiel auch ganz konkret in Bezug auf die Flüchtlingskrise. Auf einer abstrakteren Ebene, bei sogenannten religiösen Konflikten, wie viel Prozent davon ist eigentlich Religion, und wie viel Prozent ist Machtpolitik. Das konnte man damals so schwer beantworten, wie man das heute beantworten kann. Religion kommt immer gemischt mit Machtinteressen einher, und Machtinteressen haben immer auch ideologische Unterfütterungen, vor allem aber eben, wie fragil Ordnung sein kann, dass man einfach vorsichtig ist, also auch politisch vorsichtig ist mit dem, was wir an Stabilität erreicht haben.
Billerbeck: Daniel Kehlmann war das, mit dem ich über seinen Roman "Tyll" gesprochen habe, bei Rowohlt erschienen. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Kehlmann: Sehr gern!
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