"Das ist in meinen Augen eindeutig rassistisch"

Raed Saleh im Gespräch mit Hanns Ostermann |
Der frühere Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin schüre Vorurteile, sagt der integrationspolitische Sprecher der Berliner SPD, Raed Saleh. Sarrazin bediene sich Pauschalisierungen und vertrete "im Grunde Gedanken der NPD und von 'Pro Deutschland', nicht mehr und nicht weniger."
Hanns Ostermann: Wie das so ist, wenn sich Thilo Sarrazin zur Integrationspolitik in Deutschland äußert – mit seinen Thesen sorgt das Vorstandsmitglied der Bundesbank und frühere Berliner Finanzsenator ein ums andere Mal für Schlagzeilen. Er pflegt sein Image als Tabubrecher, als Provokateur. "Deutschland schafft sich ab", so der Titel seines Buches, das Ende August auf den Markt kommt. Hier bei uns im Deutschlandradio Kultur nannte er gestern ein Beispiel für die Misere, in der wir uns seiner Einschätzung nach befinden:

Thilo Sarrazin: "Es geht nicht an, dass wir es zulassen, dass etwa 40 Prozent der also muslimischen Migranten bei uns von Transferleistungen leben mit Einkommen, die also viel höher sind als es Arbeitseinkommen da bei sich zu Hause wären, und denen von daher jede Integration erspart wird. Und bei den Migranten, die künftig noch kommen – da schließe ich den Familienzuzug ausdrücklich ein –, müssen wir wesentlich schärfere Maßstäbe anlegen. Für die Gesamtheit der also muslimischen Einwanderung in Deutschland gilt die statistische Wahrheit: In der Summe haben sie uns da sozial und auch finanziell wesentlich mehr gekostet, als sie uns wirtschaftlich gebracht haben. Das ist einfach ein also nüchterner Saldo, was den einzelnen Menschen nicht auf seinen wirtschaftlichen Wert reduziert."

Ostermann: Am Telefon von Deutschlandradio Kultur begrüße ich jetzt den integrationspolitischen Sprecher der Berliner SPD, Raed Saleh. Guten Morgen, Herr Saleh!

Raed Saleh: Guten Morgen!

Ostermann: Trifft Sarrazin nicht einen wunden Punkt, wenn er sagt, unqualifizierten Familiennachwuchs können wir uns schlichtweg nicht leisten?

Saleh: Nein. Das, was Dr. Sarrazin da macht, ist reine Pauschalisierung und auch bewusstes Vorurteilsschüren. Das, was wir in Deutschland haben zum Thema Nachzug oder auch zum Thema Einwanderung, ist bereits sehr stark geregelt, und es findet im Grunde genommen kein Nachzug in Transferleistungen statt, weil heutzutage, wenn jemand nachziehen will, man über ein Einkommen verfügen muss. Das heißt, man muss nachweisen, dass man genug Einkommen hat, um nicht mehr auf Transferleistungen angewiesen zu sein. Erst dann darf man Familienmitglieder auch nachziehen lassen aus dem Ausland.

Insgesamt ist die Zuwanderungsregelung in Deutschland sehr, sehr stark begrenzt. Es gibt natürlich auch Bereiche, die auch Dr. Thilo Sarrazin einschränken möchte, aber wo es keine Einschränkung geben darf, das ist zum Beispiel das Recht auf Asyl und die Frage von Flüchtlingen, und da gibt es natürlich keine Diskussionsgrundlage. Das sind Rechte, die für die Menschen gelten, die Unterstützung brauchen, die vor politischen Systemen flüchten etwa.

Ostermann: Zum Asyl hat sich Sarrazin aber auch nicht geäußert. Ganz generell: Leugnen wir nicht noch immer Parallelgesellschaften bei uns? Denn die gibt es doch, oder gibt es sie nicht mehr?

Saleh: Es gibt in verschiedenen Orten in Berlin etwa auch Gegenden mit einem hohen Anteil von Menschen einer bestimmten Herkunftsgruppe. Das hat man in der Geschichte Deutschlands immer wieder gehabt, etwa damals beim Zuzug der Hugenotten zum Beispiel in die Gesellschaft. Da sind manche Formulierungen von Parallelgesellschaften, andere sagen, da sind Menschen hingezogen, weil damals der Wohnraum in dieser Gegend billig war, weil damals auch der Wohnraum für die Menschen, die zum Beispiel als billige Fließbandarbeiter nach Deutschland kamen, einfach in den Gegenden von Moabit, Wedding und Neukölln damals günstig waren und man deshalb auch ganz bewusst in den billigen Wohnraum gezogen ist.

Da gibt es aber eine Menge Entwicklungspotenzial. Von Parallelgesellschaften zu reden, etwa dass man sagt, da bildet sich extra eine parallele Welt zu der normalen Welt, sehe ich nicht. Ganz im Gegenteil: Das, was da gerade passiert, ist ein sehr starkes Entwicklungspotenzial für die gesamte Berliner Gesellschaft.

Ostermann: Aber, Herr Saleh, fehlt nicht doch in Teilbereichen die Bereitschaft, sich einzuordnen? Ich denke da nur an Probleme des Sportunterrichts in der Schule oder an Elternabende, wo Schüler für Eltern übersetzen müssen, weil die kein Wort Deutsch können. Das heißt, hier gibt es doch ganz deutliche Signale, dass ein Teil nicht bereit ist, zum Beispiel die deutsche Sprache zu lernen.

Saleh: Das haben Sie immer. Sie haben immer bei einer Integration Menschen, eine große Masse an Menschen, wo die Integration wunderbar gelingt. Wir haben in Deutschland eine Integration, die millionenfach gelungen ist, und auch in Berlin eine Integration, die hunderttausendfach gelungen ist. Sie werden immer, bei jeder Frage von Integration, bei jeder Frage von Integration, von Einbindung von Menschen, Leute haben, die sagen: Wir wollen nicht und wir können nicht.

Aber was Dr. Thilo Sarrazin macht – und darum geht es ja: Er spricht ja den Menschen, und zwar 90 Prozent der arabischstämmigen und 70 Prozent der türkischstämmigen, von vornherein jede Integrationsfähigkeit und jede Integrationswilligkeit ab. Und das ist eine Pauschalisierung und Zahlenordnungen, dass es nicht akzeptabel ist. Sarrazin macht ja nicht den Fehler, dass er Sachen anspricht. Sarrazin macht den Fehler, dass er Sachen pauschalisiert, dass er Sachen nicht nur provoziert, denn Provokation ist schön und gut, aber Provokation rechtfertigt keinen Rassismus. Er gibt manchen Gruppen …

Ostermann: Sie würden sogar soweit gehen, von Rassismus zu sprechen?

Saleh: Sarrazins Aussagen sind, das hat auch ein Gutachter vom Mendelssohn-Zentrum, Gideon Botsch, klar bewiesen, sind eindeutig in den zentralen Passagen als rassistisch zu bezeichnen. Er gibt manchen Bevölkerungsgruppen oder auch Religionsgemeinschaften pauschal Charakterzüge … ordnet er zu, und er sagt, das ändert sich nicht, weil das genetisch bedingt ist. Das heißt, er redet auch von der genetisch bedingten Dummheit oder von der genetisch bedingten Intelligenz.

Und das ist in meinen Augen eindeutig rassistisch, und da werden Sie auch keinen anderen Gutachter finden, der was anderes bescheinigt. Das, was Sarrazin vertritt, ist in den zentralen Passagen eindeutig rassistisch, und ich denke mir, das wird auch die Debatte jetzt zeigen, dass auch im Buch die wesentlichen Kriterien, wenn er von den Türken spricht, den Arabern spricht, den Moslems spricht, im Grunde genommen nur als rassistisch deklariert werden kann.

Ostermann: Herr Saleh, Sarrazin redet zugleich bei der Integration von einer Bringschuld. Was stört Sie eigentlich an dieser Aussage?

Saleh: Mich stört gar nichts an der Bringschuld, die Bringschuld wird jeden Tag gemacht, die Bringschuld findet tagtäglich statt. Sarrazin scheint auch die eigentliche Wirklichkeit gar nicht zu kennen. Ich würde sagen, er hat einen Urteilskraftmangel. Wer die Situation kennt in Berlin etwa oder auch in anderen Großstädten Deutschlands, der weiß, dass die Bringschuld tagtäglich passiert. Der Integrationsprozess ist ein Prozess, der nicht von heute auf morgen quasi ausgewertet werden kann an irgendeiner Statistik, die gerne Sarrazin ausführt, sondern die Bringschuld findet im Grunde genommen statt, wenn man sagt, man muss Sprache erlernen.

Es gibt die Pflicht zur Sprache erlernen, es gibt die Notwendigkeit, wenn jemand nachzieht, dass man vorher im Heimatland im Grunde genommen bereits über Deutschkenntnisse verfügt. Es gibt die Bringschuld, dass Leute sagen, sie müssen auch Jobs annehmen etwa, dass das Jobcenter sagt, wenn jemand arbeitslos ist, ob deutsch oder Migrant, das spielt ja keine Rolle, dass man auch Jobs annehmen muss, dass man sich fortbilden muss, dass man Weiterbildungskurse auch besucht.

Ostermann: Herr Saleh, bitte nur ganz kurz: Was ist mit der Gleichberechtigung zwischen Frau und Mann?

Saleh: Auch das ist ein Prozess, der diskutiert werden muss. In der großen Mehrzahl der Fälle der Menschen muslimischen Glaubens hier in Deutschland funktioniert die Gleichberechtigung von Mann und Frau genau so wie bei den deutschstämmigen: Wenn es da Defizite gibt, dann muss man es ganz knallhart ansprechen, aber nicht das Ganze pauschalisieren, als wäre es ein Problem einer gewissen Gruppe, dass man sagen kann: Die Türkischstämmigen, die Arabischstämmigen, da gibt es ein Defizit.

Wenn es die Defizite gibt, muss man sie ansprechen, aber ich sage mal eins: Man braucht eine Diskussion, die hilfreich ist, und Rassismus und Intoleranz – und ich sage mal auch, im Grunde genommen Sozialdarwinismus – hilft in der Debatte nicht weiter. Dr. Sarrazin vertritt im Grunde Gedanken der NPD oder von Pro Deutschland, nicht mehr und nicht weniger.

Ostermann: Raed Saleh, der integrationspolitische Sprecher der Berliner SPD. Herr Saleh, danke Ihnen für das Gespräch heute früh!

Saleh: Ich danke Ihnen!
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