Hören Sie hier auch ein ausführliches Gespräch mit Deborah Feldman:
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Ein mutiges Buch über eine ungewisse Zukunft
In ihrem Bestseller "Unorthodox" schilderte Deborah Feldman ihren Ausstieg aus einer orthodoxen jüdischen Gemeinde. Im Nachfolger "Überbitten" stehen nun die Jahre danach im Mittelpunkt: Ein Zeugnis der Kraft der Schriftstellerin auf der Suche nach dem eigenen Ich.
Sie hat immer wieder diesen Traum, in dem sie mit ihrer Großmutter in Auschwitz ist und von einem gesichtslosen Mann mit weißen Handschuhen in den Tod gewinkt wird, während ihre Bubby zur anderen Seite in eine Zukunft geht. Tatsächlich hat ihre Großmutter Auschwitz überlebt. Sie dagegen – davon ist sie überzeugt - hätte diese Kraft nicht gehabt und hat es deshalb nicht verdient, heute am Leben zu sein.
Überlebensschuld der Nachgeborenen – Irene Dische und andere haben sich schon früher mit dem Thema auseinandergesetzt. Doch die junge amerikanische Autorin Deborah Feldman muss nicht nur damit leben, das Erbe ihrer Großmutter in sich zu tragen, sie hat ein eigenes prekäres Schicksal zu meistern. Mit 23 Jahren und ihrem kleinen Sohn an der Hand, ist sie aus der ultraorthodoxen chassidischen Gemeinschaft der Satmarer in Williamsburg (Brooklyn) geflohen. Ist aus der eingemauerten Geborgenheit ihrer Herkunft in eine bedrohliche Freiheit aufgebrochen.
Beharrliches Fremdheitsgefühl
Deborah Feldman hat über ihr Leben in der fundamentalistischen Gemeinschaft ein so bewegendes wie aufsehenerregendes Buch geschrieben. "Unorthodox" heisst es und wurde in Amerika und auch in Deutschland ein Bestseller. Jetzt erzählt sie ihr Leben danach, erzählt den langen Weg in eine ungewisse Zukunft. Wie lebt man allein, wie verdient man Geld, wie verteidigt man seinen Sohn gegen Angriffe von Schulkameraden. Wie verteidigt man sich gegen die Ängste, die einen von innen zu zernagen drohen.
Es ist ein komplexes, aufrüttelndes Buch über einen brennenden Zweifel, Einsamkeit und lebensrettende Lektüre, über Existenznot und einen auch verheerenden Ruhm - und über ein Fremdheitsgefühl, das beharrlich und bösartig nistet in ihr. Es ist eine mäandernde, oft qualvolle, penibel aufgezeichnete Suche nach einem eigenen Ich. Sie will die Fäden der Vergangenheit nicht kappen, sondern sie verknüpfen mit sich und ihrer Gegenwart. Wie kann man leben als aufgeklärte, als "globale" Jüdin?
Sie reist, lernt Amerika kennen und fühlt sich doch nicht als Amerikanerin. Sie fährt nach Ungarn, woher die Großmutter stammt, und schliesslich nach Deutschland, woher ein Urgroßvater kam. Und ausgerechnet hier, in diesem Land, beginnt sie sich heimisch zu fühlen - und zieht nach Berlin.
Kein Versöhnungskitsch
Nein, Feldman erzählt keine kitschige Versöhnungsgeschichte. Dazu ist sie viel zu intelligent. Sie schließt nicht die Augen vor Philo- oder Antisemitismus. Aber sie findet Freunde, Nähe. Sie, die mit Jiddisch aufgewachsen ist, findet eine Sprache, die ihr vertraut ist.
Es ist ein Buch voller Mut und Schmerz und vor allem ein Zeugnis der Kraft und der widerständigen Eigenwilligkeit der Autorin. Vor sieben Jahren ist sie den Ultraorthodoxen entkommen, in sieben Kapiteln auf über 700 Seiten erzählt sie den Weg in ihre "Selbst-Behausung", wie sie es nennt. Das mag in manchen Passagen zu lang geraten sein. Weil nicht jede Begegnung - so essentiell sie für die Autorin gewesen sein mag - auch für den Leser unentbehrlich ist.
Doch Feldman hat nicht nur eine narrative Struktur für ihr Buch gefunden, sondern auch für sich. Sie schreibt nicht über ihr Leben, sie schreibt sich ihr Leben.
Deborah Feldman: Überbitten
Eine autobiografische Erzählung
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Christian Ruzicska
Secession Verlag, Zürich 2017
704 Seiten, 28,80 Euro