Ambivalent? - Estland und die Deutschbalten - Wie werden die Deutschen und Deutschbalten heute in Estland gesehen? Als Faschisten und Verbrecher oder als Partner im Kampf gegen das heutige Russland? Dazu ein Gespräch mit unserem Korrespondenten Carsten Schmiester.
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Das Comeback der Herrenhäuser
22:57 Minuten
Für die Esten waren sie lange Symbol der Knechtschaft: die über 1000 Herrenhäuser im Land. Ein Erbe der Deutschbalten, einer bis 1918 wichtigen Elite in Estland. Bis vor wenigen Jahren wurde ihre Geschichte totgeschwiegen.
"Das deutsch-baltische Erbe interessiert mich sehr, ich habe dazu eine gute Büchersammlung."
Eeric Kross, Anfang 50, ist Abgeordneter im estnischen Parlament und eine schillernde Figur. Er war der erste und jüngste Botschafter Estlands in London, Chef des Geheimdienstes, Sicherheitsberater. Nicht nur das: Der Historiker, Sohn des berühmten estnischen Schriftstellers Jan Kross, ist auch Besitzer eines Herrenhauses: Kao ist eines der ältesten Estlands und liegt eine gute Stunde südöstlich der Hauptstadt Tallinn.
"In gewisser Weise soll dieses Herrenhaus für die Gemeinde das sein, was es auch schon früher war: eine Art Kulturzentrum. Die Leute aus der Umgebung kommen zu Konzerten, arbeiten hier. Es ist allerdings nichts, womit man viel Geld verdienen kann, eher das Gegenteil. Aber es gibt einem auf andere Art etwas zurück."
Mehrfach hat Eeric Kross dort deutsch-estnische Tagungen zu dem seinerzeit erfolgreichen Dramatiker August von Kotzebue veranstaltet – einem Zeitgenossen Goethes. Sein Sohn, Otto von Kotzebue, mehrfacher Weltumsegler und Forschungsreisender im Dienste des russischen Zaren, kaufte Kao 1830 als Alterssitz und starb auch dort. Nach mehrfachen Besitzerwechseln und Leerstand erwarb es Eeric Kross. Seit 2012 ist die Renovierung abgeschlossen.
"Wir sind historisch sehr interessiert"
"Das Haus hat eine lange Geschichte, und wir sind historisch sehr interessiert und möchten das auch gern vermitteln. So hat es hier einige Aspekte eines Museums. Aber wir möchten es nicht so, dass man gar nichts berühren darf und sich fremd fühlt. Man kann die Möbel alle benutzen und sich zu Hause fühlen.
Kao ist eines der gut 1200 Herrenhäuser, die es bis 1918, als Estland unabhängig wurde, im Land gab. Die meisten gehörten Deutschbalten, deren Vorfahren vor 700 Jahren als Kreuzritter in das baltische Land gekommen waren, erklärt Riin Alatalu vom estnischen Denkmalschutz.
"Die Geschichte der Herrenhäuser ist ziemlich komplex. Für uns Esten waren sie das Symbol der Knechtschaft, fast einer Art Sklaverei. Das Leben für die Esten war ausgesprochen hart, und so gab es viele Spannungen zwischen Deutschbalten und Esten."
Die estnische Geschichtsschreibung hat die Rolle der Deutschbalten häufig negativ beschrieben. Heute, sagt der Schriftsteller Rein Raud aus Tallinn, in dessen neuem Roman ein Herrenhaus Schauplatz der Handlung ist, würde man deren Erbe der Deutschbalten differenzierter betrachten.
"Eigentlich sollte man sagen, dass der offizielle Blick auf estnische Geschichte in den 20er- und 30er-Jahren das baltisch-deutsche Erbe aus unserer Geschichte verdrängt hat. Ich glaube, es ist jetzt Zeit, dass wir ehrlich gestehen sollen, dass auch die deutsche Kultur ein Teil der estnischen Kultur ist."
Familie von Ramms – seit 1622 in Estland
Ortswechsel: Padise - eine Klosterruine und ein frisch saniertes Herrenhaus - liegt eine knappe Autostunde westlich von Kao. Ein junger Mann öffnet die Tür.
"Ich bin Karl von Ramm, ich bin 33 Jahre alt und ein Amerikaner mit deutschbaltischen Wurzeln in Estland."
Wurzeln, die nach Padise reichen, wo die von Ramms ab 1622 lebten – der schwedische König hatte ihnen das Anwesen geschenkt. 1939, mit dem Einmarsch der Sowjetarmee in Estland, endete die Ära der von Ramms im Baltikum – jedenfalls vorläufig. Sie flohen nach Polen, zogen dann nach Deutschland, Kanada und schließlich in die USA.
Nun ist Karl von Ramm, der International Business und Hotelwesen in Philadelphia studiert hat, in das Land seiner Vorfahren zurückgekehrt. "Familienbande" sagt er und zuckt mit den Schultern, als sei das eine höhere Gewalt. Vor sieben Jahren kam der Selfmademan nach Estland, lernte die schwierige Sprache mit ihren 14 Fällen und heiratete eine Estin. Das Haus baute er nach alten Plänen originalgetreu wieder auf. Heute ist Padise ein gut laufendes Hotel mit 25 Zimmern, das ganzjährig geöffnet hat.
"Wir haben drei Millionen investiert und sind vermutlich das einzige, komplett selbstständig finanzierte Herrenhaus in Estland. Die meisten werden mit EU-Geldern gefördert. Wir nicht. Ich kenne das als Amerikaner nicht, dass man immer bei der Regierung um Geld anfragt. In den USA nimmt man sein Eigenes oder sucht Investoren. Es wäre das Letzte, die Regierung zu fragen. Der traut man eh nicht über den Weg. Also, wir haben nie etwas bekommen, weil wir auch nie daran gedacht haben. Aber so konnten wir schneller handeln, und es so machen, wie wir wollten. Damit sind wir sehr zufrieden."
Er würde sich gern vergrößern, weitere Gebäude und Land des ehemaligen Besitzes der von Ramms kaufen. Aber bisher sind die Behörden auf diesem Ohr taub.
"Die Moral ist jetzt besser als in den 1990er-Jahren"
Es sei durchaus möglich, dass Ausländer in Estland Grundbesitz erwerben könnten, erklärt Riin Alatalu vom estnischen Denkmalschutz:
"Aber Anfang der 90er-Jahre, als alles im Auf- und Umbruch war, gab es einige Probleme. Viele Ausländer und auch vermögende Einheimische kauften Häuser, weil sie billig waren. Aber dann gab es finanzielle Probleme bei der aufwendigen Renovierung, und viele gaben auf. Jetzt ist die Lage anders. Es gibt viel guten Willen, die Häuser langsam wieder aufzubauen. Die Moral ist jetzt besser als in den 90er-Jahren."
Im Bewusstsein der Esten scheinen die ehemaligen Herrenhäuser wieder eine Rolle zu spielen. An der Universität in Tallinn wird über ihre Geschichte und Bedeutung geforscht. Sie sind beliebte Orte für Feste, und Schriftsteller freuen sich über Stipendien in einer der schönen Residenzen. Estnische Reisebüros bieten Touren zu den einstigen Gütern der Deutschbalten an, so Eeric Kross, der Besitzer von Kao.
"Das ist recht beliebt, die Leute schauen sich gerne die Herrenhäuser an. Kao gehört dazu. Gerade Esten mögen das. Manchmal kommen ganze Schulklassen auf Klassenreise oder es sind ältere Leute im Sommer. Es ist ziemlich verbreitet."
Landhaus-Schule im ehemaligen Herrenhaus
Was ein "mois" – ein Gutshaus – ist, weiß in Estland jedes Kind. Historisch und schön, sagt Arthur, neun Jahre alt, einer von 95 Schülern in Vääna.
Vääna liegt knapp 40 Kilometer nördlich von Padise. Obwohl das Dorf nur 250 Einwohner hat, ist es bekannt – durch sein langgestrecktes Herrenhaus im Stil des Spätbarocks. Es liegt in einem zwölf Hektar großen Park. Wo früher die deutschbaltische adlige Upperclass residierte, befinden sich heute Klassenzimmer - eine Landhaus-Schule mit Kindergarten auf dem flachen Land.
Englischlehrerin Anneli Sirp unterrichtet ihre acht Schüler, darunter Arthur, ganz klassisch mit Heften und Büchern – und das im digitalisiertesten Land Europas.
"Diese Schule ist frei, jedes Kind kann kommen. Wir sind eine kleine Schule, wir haben nur wenige Räume. Es gibt in der Umgebung eigentlich viele Kinder, aber es gibt auch viele Schulen, alle zehn Kilometer in jede Richtung eine."
Vääna gehörte ursprünglich der deutschbaltischen Familie von Stackelberg. Berühmt war der Maler, Archäologe und Schriftsteller Otto Magnus von Stackelberg, der im ausgehenden 18. Jahrhundert in Vääna lebte. Im Kuppelsaal, in dem sich einst seine Kunstsammlung befand, unterrichtet Katrin Järvlepp nun Musik.
Die Atmosphäre in der Schule ist angenehm, die Architektur herrschaftlich und großzügig: helle Klassenräume, eine ansprechende Schulküche mit Speisesaal, zahlreiche Laptops im Flurschrank - die natürlich auch neben den Schulbüchern zum Einsatz kommen.
"Estland ist so klein, und prozentual weiß ich nicht, wie viel für Bildung ausgeben wird, aber es ist wichtig. Ich bin einverstanden mit Katrin, dass die Esten die Ausbildung und die Bildung sehr wichtig finden und die Eltern ihre Kinder unterstützen."
Laut einer OECD-Studie gibt Estland mit seinen 1,3 Millionen Einwohnern jährlich fünf Prozent des Bruttoinlandprodukts für Bildung aus – auch die Landhaus-Schulen profitieren davon. Weiterhin werden sie mit EU-Geldern und Subventionen aus Norwegen unterstützt. Die meisten sind staatlich, sagt die Spezialistin für Herrenhäuser Riin Alatalu:
"Die Landhaus-Schulen liegen im ländlichen Raum. Wir möchten, dass die Kinder auch dort bleiben und dafür nutzen wir die historischen, attraktiven Gebäude. Denn wir haben ein großes Problem mit der Urbanisierung."
Comeback der Herrenhäuser
70 solcher Schulen befinden sich inzwischen in diesen sorgfältig restaurierten ehemaligen Herrenhäusern. Eine Landreform hatte 1919, ein Jahr nachdem in Estland die Republik ausgerufen worden war, die vorwiegend deutschbaltischen Besitzer enteignet. Die meisten von ihnen verließen ihre Heimat in Richtung Deutschland oder Schweden.
Damals standen viele ihrer Häuser leer, etliche verfielen, einige fanden eine neue Nutzung: In jedem vierten der verlassenen Herrenhäuser wurde damals eine Schule eingerichtet. Durch den Zweiten Weltkrieg mussten viele schließen, weitere dann im Zuge der Urbanisierung in den 1960er-Jahren.
Jetzt scheinen sie ein Comeback zu erleben. 300 der einst 1200 Herrenhäuser sind inzwischen wieder hergerichtet - eben als Schulen, aber auch als Hotels, Privathäuser, Museen oder Schriftstellerresidenzen.
"Wir fahren jetzt von der Hauptstadt Tallinn in den Südwesten und erreichen hoffentlich die Küste in einer guten Stunde. Wir sind auf dem Weg zur Insel Muhu, eine der 2222 estnischen Inseln."
Muhu liegt gut 150 km südwestlich von Vääna. In den frühen Morgenstunden steuert Martin Breuer seinen schweren Tesla-PKW über die Landstraße.
Beim Anleger in Virtsu fährt er den Wagen auf die hochmoderne Fähre, die ihn nach Muhu bringen wird, der drittgrößten Insel Estlands. Auf jeder Seite des Ufers kann der Tesla an Aufladestationen angeschlossen werden und Strom "tanken".
"Ich bin Holländer und bin hier in Estland hängengeblieben – mit großer Freude."
Und zwar in Pädaste. Martin Breuer kaufte das alte Herrenhaus auf Muhu vor 20 Jahren zusammen mit einem estnischen Freund, der ihn Anfang der 90er-Jahre nach Estland gelockt hatte.
"Die Esten haben mich beeindruckt"
"Das Land hat mich wegen seiner Schönheit und seiner Leere sehr beeindruckt, aber vor allem wegen seiner Bewohner. Sie hatten so unglaublich viel Energie für den Wechsel und auch Stolz, ihr Land wieder aufzubauen, das Jahrzehnte von der Sowjetunion besetzt war. Das war total anregend, es war eine wunderbare Erfahrung."
Pädaste, ein Paradies, in das viel Geld und Arbeit gesteckt wurde.
"Von Anfang Mai bis Mitte September ist es hier einfach fabelhaft. Die Landschaft ist wunderschön, sie ist Teil des Projekts natura 2000. Man ist hier in einem Naturreservat: Kein Haus weit und breit, es gibt weder Licht- noch Luftverschmutzung."
Vor einhundert Jahren war Pädaste noch im Besitz einer einflussreichen baltendeutschen Familie – der letzte Eigentümer, Alexander von Buxthoeveden, wurde 1919 auf Muhu von den Kommunisten brutal ermordet. Später, während des Zweiten Weltkriegs hatte erst das deutsche, ab 1941 das sowjetische Heereskommando dort sein Hauptquartier. Nach dem Krieg lagerten in den Kellern von Pädaste Fische und später war es Sitz eines Altersheims – bis 1980 das Dach einstürzte.
"Anstatt das Dach zu reparieren, wurden die Alten umgesetzt. Eine traurige Geschichte, denn man brachte sie in ein Heim für psychisch Kranke, circa 60 km von hier. Wahrscheinlich hat sie da niemand mehr besucht. Dann stand das Haus leer, bis wir es kauften."
Das ist jetzt 22 Jahre her. Heute ist Pädaste ein kleines Luxusresort. Die einsame Lage direkt an der Ostsee ist wunderbar, die Geschichte des Hauses präsent und in Erinnerung an den einstigen Buxthoeveden‘schen Besitzer trägt das Gourmetrestaurant den Namen "Alexander" – auch eine Möglichkeit, die deutschbaltische Geschichte mit der estnischen zu verknüpfen.