Was von Dichtern bleibt
Angekommen im Olymp der Literaten: Schriftsteller, deren Nachlässe im Deutschen Literaturarchiv in Marbach aufbewahrt werden, zählen zu den ganz Großen. Rund 1400 Arbeitsarchive von Autoren lagern dort – übrigens auch von solchen, die noch sehr lebendig sind.
Das Literaturarchiv in Marbach am Neckar ist so etwas wie das Gedächtnis der deutschen Literatur. Texte und Dokumente der neueren deutschen Literatur, von der Aufklärung bis zur Gegenwart, werden dort gesammelt und für die Nachwelt wissenschaftlich erschlossen. Darunter finden sich Handschriften von Friedrich Schiller, der 1759 in Marbach zur Welt kam, Manuskripte des Philosophen Martin Heidegger oder auch Briefe des Schriftstellers Wilhelm Genazino, der in Frankfurt am Main lebt. Er hat Teile seines literarischen Vermächtnisses schon zu Lebzeiten in die schwäbische Kleinstadt Marbach gegeben.
"Die haben, zu meinem eigenen Erstaunen irgendwann angerufen und zeigten sich interessiert. Und dann war ich erst gerührt, dann auch angetan, weil das ja sozusagen für den Nachlass die beste Adresse ist", erzählte Genazino dem Zeitfragen-Autor Ulrich Rüdenauer.
Der Sammlungsschwerpunkt des Literaturarchivs liegt im 20. Jahrhundert. Mittlerweile bemühen sich die Marbacher Bibliothekare und Wissenschaftler oft schon dann um die Arbeitsunterlagen von Autoren, wenn diese noch leben – sie sprechen dann vom Vorlass, ein Begriff, der in Marbach als Pendant zum Nachlass geprägt wurde.
40.000 Archivboxen in kilometerlangen Regalreihen
Das Literaturarchiv, das auf einem Hügel, der Schillerhöhe, residiert, platzt inzwischen aus allen Nähten. Unterlagen von rund 1400 Schriftstellerinnen und Schriftstellern lagern in 40.000 grünen Archivboxen in kilometerlangen Regalreihen. Aufbewahrt werden sie bei einer Temperatur von 18 Grad. Darunter befinden sich auch die Leitz-Ordner von Wilhelm Genazino, die er in 30 Jahren gefüllt hat und die er als Herz seiner Sammlung versteht.
"Das ist eben meine Arbeitsmethode, das mache ich bis heute. Also, wenn ich irgendeinen Einfall habe oder eine Entdeckung mache oder eine Beobachtung, dann tippe ich die aus der Lameng heraus auf ein Blatt Papier, und die kriegen eine laufende Nummer und werden mit einer laufenden Fortsetzungsnummer eingeklemmt und aufbewahrt", sagte Genazino.
Für die Nachwelt verwahrt werden insbesondere schriftliche Unikate. Im klassischen Fall sind das Autografen, also eigenhändige Niederschriften, oder Typoskripte, das sind an der Schreibmaschine oder am Rechner verfasste Texte, manchmal auch Dateien. Hinzu kommen zuweilen ganze Bibliotheken, denn die Autoren haben mit ihren Büchern gearbeitet, haben Anstreichungen gemacht und Texte mit Anmerkungen versehen.
Katalogisiert und schließlich der Forschung zugänglich gemacht werden zudem Fotografien, Gemälde, Zeichnungen, Totenmasken, Medaillen, Grafiken, Skulpturen oder Erinnerungsstücke der Autoren, wenn sie Aussagekraft über deren Leben und Werk haben.
Spektakulär war der Ankauf des Suhrkamp-Archivs
Einsehen kann man zudem ganze Verlagsarchive. Spektakulär war etwa der Ankauf des Suhrkamp-Archivs im Jahr 2009, denn der Suhrkamp-Bestand gilt als eine Art Bernsteinzimmer der Nachkriegsliteratur: Mit ihm lässt sich die bundesrepublikanische Geistesgeschichte seit 1950 nachvollziehen.
Da auch Autoren mittlerweile am Computer arbeiten, ändern sich die Arbeitsweisen der Archivare. "Wir haben schon manchmal im Scherz gedacht, wir müssten die Autoren doch mal bitten, dass sie ihre E-Mails gleich cc an uns schicken, ans Literaturarchiv. Aber das ist natürlich nicht machbar", sagt Ulrich von Bülow, der Leiter der Marbacher Handschriftenabteilung.
Autoren, die sich ihres Rangs bewusst oder gewiss sind, schreiben – insgeheim – ohnehin CC ans Literaturarchiv, meint Zeitfragen-Autor Ulrich Rüdenauer in seinem Feature. Er geht davon aus, dass auch die heutigen Autoren des digitalen Zeitalters ihre alten Manuskripte, Briefdurchschläge, Notizbücher und Computerausdrucke aufbewahren – durchaus in der Hoffnung, irgendwann in einem großen Literaturarchiv aufgenommen zu werden. Und um dann mehr zu sein als nur eine kleine Fußnote in der Literaturgeschichte.
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