Die Entdeckung der Lust
Entdecken wir das Begehren oder entdeckt das Begehren uns? In ihrem so persönlichen wie analytischen Text schildert Carolin Emcke das Suchen und die allmähliche Entdeckung der Sexualität. Auch der eigenen. Eine atemberaubend ehrliche Erzählung, die gleichermaßen intim wie politisch ist.
Über dieses Buch zu schreiben, ist wie über Musik zu schreiben. Das hat viel mit Gefühl zu tun, aber auch mit Gehör. Es gilt, die Variationen herauszuhören, die falschen und richtigen Töne wahrzunehmen, genauso wie die Modulationen, die Übergänge von einer Tonart in eine andere. Denn hier wird etwas verhandelt, was den Menschen nie mehr loslässt. Sein Leben lang. Die Frage nach dem Begehren, nach der eigenen Sexualität, nach dem richtigen Umgang mit den Gefühlen und der Sehnsucht nach Liebe und Anerkennung. Verpackt in eine "Coming of age"-Geschichte, wird genau das hier sprachgewaltig verhandelt. Nichts lässt Carolin Emcke dabei aus. Schonungslos offen und dabei wunderbar literarisch schreibt sie über die Entdeckung ihrer eigenen Lust, ihrer Lust auf Frauen, für die sie sich erst mit 25 Jahren entscheidet - und die seitdem genussvoll begehrt. Körpersäfte, Blut, Schleim und Schweiß: Auch davon erzählt dieses Buch.
Alles beginnt mit der Pubertät, folgerichtig also auch dieses autobiographische Buch. Es erzählt von Carolin Emckes eigenem Großwerden, ihrer Zeit in der Schule, beim Handball, draußen im Wald und später von den Partys mit den Freunden, von den ersten Küssen, den ersten Berührungen, aber auch von Gruppenritualen, Ausgrenzungen und von kleinen und großen Gemeinheiten. Und es mündet in ein großes Plädoyer für die freie Wahl in der Liebe, die sich immer wider neu erfindet, ändert und uns nicht loslässt. Verwebt mit ihrer eigenen Geschichte, erzählt sie dabei auch von der Not eines Mitschülers, Daniel, der ausgestoßen wird, ohne Grund, und sich am Ende das Leben nimmt. Warum, weiß keiner.
Dennoch ist dies Buch zunächst die typische Geschichte über das Erwachsenwerden mit all seinen Sehnsüchten, Ängsten, der Scham und den Abenteuern. Hier spielt sie in den 80er Jahren in Westdeutschland, doch es haftet ihr etwas Universelles an. Denn im Großen und Ganzen geht es nie um etwas anderes. Und genau das ist das große Potential dieses Buches. Wie eine Klarsichtfolie kann man es über jede Pubertät legen, auch die eigene, und sich wiederfinden in dieser Zeit des Umbruchs, wenn man von verwirrenden Gefühlen heimgesucht wird. Gefühle, die man oft selbst noch gar nicht benennen kann, denen man aber ausgeliefert ist und hinter denen sich die aufkeimende Sexualität verbirgt. Eine Sexualität, über die aber nicht gesprochen wird und die deshalb immer wieder Konflikte birgt. Darüber was man will, wen man liebt und wie?
Entdeckt man die Sexualität nur einmal oder immer wieder neu? Verändert sich das Begehren im Laufe des Lebens? Was, wenn die eigene Sexualität abweicht von herkömmlichen Bildern und Geschichten? Das sind die Fragen, die Carolin Emcke umtreiben, wenn sie sich auf die Spurensuche danach begibt, wie Homosexualität in der Bundesrepublik beurteilt und beschrieben wurde - und wird. Detailliert berichtet sie über Verbote, Schwulenparagraphen, Rechtsfragen und Konventionen, die angeblich dazu dienten, die heterosexuelle Gesellschaft zu schützen, aber letztendlich Homophobie, Leid und Ausgrenzung mit sich brachten – und in den Ländern, in denen Homosexualität noch heute verboten ist, mit sich bringen. Darüber hinaus erzählt sie von Aids, von der Unmöglichkeit, als Homosexuelle ein Kind zu adoptieren und von einer Hochzeitsfeier, wo es einen Extratisch für alle schwulen Frauen und Männer gab.
Dabei zeigt sich immer wieder, dass Carolin Emcke eine grandiose Beobachterin ist. Ihr Buch wird da besonders stark, wo es weh tut. Etwa wenn sie von Ibrahim erzählt, der in Gaza nicht leben kann, weil er schwul ist und in Europa, wohin er schließlich flieht, als Muslim wieder neue diskriminierende Zuschreibungen erleben muss. Und so geht es in diesem Buch vor allem darum: Rollenklischees aufzubrechen, Konventionen zu hinterfragen, Ausgrenzung abzulehnen und sich immer daran zu erinnern, die Achtung vor anderen Gedanken, Überzeugungen und Gefühlen nicht zu verlieren. Selten wurden Begehren und Sexualität so radikal gefeiert wie hier: "Ich bin auch homosexuell, weil ich mich nun einmal gerne in Frauenkörper hineinliebe, weil sie mich erregen, weil es mir Lust bereitet, sie zu erregen."
Besprochen von Kim Kindermann
Carolin Emcke: "Wie wir begehren"
S. Fischer, Frankfurt am Main 2012
256 Seiten, 19,99 Euro
Alles beginnt mit der Pubertät, folgerichtig also auch dieses autobiographische Buch. Es erzählt von Carolin Emckes eigenem Großwerden, ihrer Zeit in der Schule, beim Handball, draußen im Wald und später von den Partys mit den Freunden, von den ersten Küssen, den ersten Berührungen, aber auch von Gruppenritualen, Ausgrenzungen und von kleinen und großen Gemeinheiten. Und es mündet in ein großes Plädoyer für die freie Wahl in der Liebe, die sich immer wider neu erfindet, ändert und uns nicht loslässt. Verwebt mit ihrer eigenen Geschichte, erzählt sie dabei auch von der Not eines Mitschülers, Daniel, der ausgestoßen wird, ohne Grund, und sich am Ende das Leben nimmt. Warum, weiß keiner.
Dennoch ist dies Buch zunächst die typische Geschichte über das Erwachsenwerden mit all seinen Sehnsüchten, Ängsten, der Scham und den Abenteuern. Hier spielt sie in den 80er Jahren in Westdeutschland, doch es haftet ihr etwas Universelles an. Denn im Großen und Ganzen geht es nie um etwas anderes. Und genau das ist das große Potential dieses Buches. Wie eine Klarsichtfolie kann man es über jede Pubertät legen, auch die eigene, und sich wiederfinden in dieser Zeit des Umbruchs, wenn man von verwirrenden Gefühlen heimgesucht wird. Gefühle, die man oft selbst noch gar nicht benennen kann, denen man aber ausgeliefert ist und hinter denen sich die aufkeimende Sexualität verbirgt. Eine Sexualität, über die aber nicht gesprochen wird und die deshalb immer wieder Konflikte birgt. Darüber was man will, wen man liebt und wie?
Entdeckt man die Sexualität nur einmal oder immer wieder neu? Verändert sich das Begehren im Laufe des Lebens? Was, wenn die eigene Sexualität abweicht von herkömmlichen Bildern und Geschichten? Das sind die Fragen, die Carolin Emcke umtreiben, wenn sie sich auf die Spurensuche danach begibt, wie Homosexualität in der Bundesrepublik beurteilt und beschrieben wurde - und wird. Detailliert berichtet sie über Verbote, Schwulenparagraphen, Rechtsfragen und Konventionen, die angeblich dazu dienten, die heterosexuelle Gesellschaft zu schützen, aber letztendlich Homophobie, Leid und Ausgrenzung mit sich brachten – und in den Ländern, in denen Homosexualität noch heute verboten ist, mit sich bringen. Darüber hinaus erzählt sie von Aids, von der Unmöglichkeit, als Homosexuelle ein Kind zu adoptieren und von einer Hochzeitsfeier, wo es einen Extratisch für alle schwulen Frauen und Männer gab.
Dabei zeigt sich immer wieder, dass Carolin Emcke eine grandiose Beobachterin ist. Ihr Buch wird da besonders stark, wo es weh tut. Etwa wenn sie von Ibrahim erzählt, der in Gaza nicht leben kann, weil er schwul ist und in Europa, wohin er schließlich flieht, als Muslim wieder neue diskriminierende Zuschreibungen erleben muss. Und so geht es in diesem Buch vor allem darum: Rollenklischees aufzubrechen, Konventionen zu hinterfragen, Ausgrenzung abzulehnen und sich immer daran zu erinnern, die Achtung vor anderen Gedanken, Überzeugungen und Gefühlen nicht zu verlieren. Selten wurden Begehren und Sexualität so radikal gefeiert wie hier: "Ich bin auch homosexuell, weil ich mich nun einmal gerne in Frauenkörper hineinliebe, weil sie mich erregen, weil es mir Lust bereitet, sie zu erregen."
Besprochen von Kim Kindermann
Carolin Emcke: "Wie wir begehren"
S. Fischer, Frankfurt am Main 2012
256 Seiten, 19,99 Euro