Von der Revolution zur One-Man-Show
Die Chancen stehen gut, dass die FDP nach vier Jahren Abstinenz wieder in den Bundestag einzieht. Doch ein Blick in die Geschichte des Liberalismus in Deutschland macht deutlich: Ein Wahlsieg bedeutet noch lange nicht die Überwindung der grundlegenden Probleme der Liberalen.
So frei reden andere Politiker nicht.
Christian Lindner: "Es gibt immer eine Möglichkeit."
Der Redner bewegt sich mit Headset frei auf offener Bühne, ohne Pult und Papier. Er beschwört einen neuen Anfang, einen neuen Aufbruch, ein neues liberales Selbstbewusstsein.
Lindner: "Wir sind Freie Demokraten. Stolz darauf. Unabhängig im Urteil und wieder bereit, auch in Deutschland Verantwortung zu übernehmen."
Christian Lindner, der FDP-Vorsitzende, beim Dreikönigstreffen der Liberalen 2015 in Stuttgart. Die Partei des politischen Liberalismus in Deutschland hat manche Krise erlebt nach 1945 – so dicht am Abgrund allerdings stand sie noch nie.
Lindner: "Liebe Freunde, ehe dass ein anderer das Fähnlein der FDP einrollt, gehen wir lieber mit wehenden Fahnen und stolz selbst von Bord, die Selbstachtung, das ist die Lektion der außerparlamentarischen Opposition, die Selbstachtung lassen sich Freie Demokraten niemals mehr nehmen."
Sie war die Regierungspartei der Bonner Republik. Fast immer waren die beiden Volksparteien auf die FDP angewiesen, wenn sie regieren wollten.
Die Wiedervereinigung hat diese Konstante des politischen Systems der Nachkriegsjahrzehnte beiseite gefegt. Seit dem rot-grünen Wahlsieg von 1998 ist die FDP kaum noch an der Macht gewesen, in der Berliner Republik nur vier Jahre lang, 2009 bis 2013.
Lindner: "Warum gehört die FDP in den Deutschen Bundestag?"
Warum? Bei der Bundestagswahl 2013 wussten das die Wähler nicht mehr so recht.
"Keine Sau braucht die FDP"
Große gelbe Wahlplakate 2014 − vor der Landtagswahl in Brandenburg. FDP-Plakate. Was witzig gemeint war, wirkte wie ein sarkastischer Kommentar auf den Zustand der Partei des deutschen Liberalismus. Die brandenburgischen Wähler nahmen den Spruch ernst und ließen die FDP bei der Landtagswahl durchfallen.
Hamm-Brücher: "Alle Parteien sind liberal geworden. Die Gesellschaft ist überliberal geworden."
- sagte die 2016 gestorbene Hildegard Hamm-Brücher, die "Grande Dame" des deutschen Liberalismus nach 1945. Sie war Mitglied der FDP seit 1958 – bis sie nach 54 Jahren aus der Partei austrat.
"Wenn ich mir noch vorstelle, in den ersten Jahrzehnten – der Klerikalismus und das Konservative und der obrigkeitsstaatliche Umgang miteinander gegen heute: Dann sind wir eine so wahnsinnig liberale Gesellschaft geworden, dass die Leute auch nicht mehr unsere Funktion genau wissen.
Früher haben wir gegen Konfessionsschulen und gegen Einfluss der Kirchen in Ämterbesetzungen ... da hatten wir noch eine echte Existenzberechtigung. Aber heute sagen viele, nee, liberal, das sind sie alle, sogar die CSU erlaubt ihrem Vorsitzenden, ein uneheliches Kind zu haben, also was soll's, wir brauchen keine FDP mehr."
Wenn man sich die Wahlergebnisse der FDP seit den 1960er-Jahren ansieht, scheint die Wählerschaft mit diesem Gedanken zu spielen: Brauchen wir diese Partei des Liberalismus überhaupt noch?
Schaut man weiter zurück, ins 19. Jahrhundert, war neben dem Sozialismus der Liberalismus jene Kraft, die das alte Deutschland erneuern wollte, die von Fürsten und Königen regierte Vielstaaterei.
Winkler: "Die deutschen Liberalen, das sind diejenigen, die einen Verfassungsstaat wollen, darum geht es in allererster Linie, um einen Staat, der Grundrechte und parlamentarische Mitbestimmung verankert und insoweit sich dem modernen Westen anpasst."
Sagt der Historiker Heinrich August Winkler, Autor der vierbändigen Reihe "Geschichte des Westens".
"Und es kommt sehr bald dazu der Ruf nach der deutschen Einheit, also Einheit und Freiheit, wobei gerade im deutschen Südwesten die Freiheit noch Vorrang vor der Einheit hat."
Deutschland in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts: Das ist Preußen als dominante Macht; das ist das Habsburger Reich, das allerdings über Österreich hinaus ein südosteuropäischer Vielvölkerstaat ist; und das sind die deutschen Kleinstaaten. Mit dem Sieg über Napoleon und dem Wiener Kongress 1815 legt sich über sie der Mehltau der Restauration.
"Der Mensch wird frei geboren, und überall ist er in Ketten."
Was Jean-Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert geschrieben hatte, gilt in deutschen Landen ungebrochen. Die feudalen Gewalten verteidigen ihre Macht, aber das liberale Gedankengut breitet sich aus. Herrschaft muss sich neu legitimieren, sie soll vom Volk ausgehen.
"Wir sind gegen jede Form elitärer Herrschaft"
Aus den Freiburger Thesen der FDP, S. 28: "Mit einem Schlage sind die größten Geister jener Zeit erfüllt von dem revolutionären Gedanken einer Freiheit in Gleichheit. Eine neue politische Epoche bricht an in den Köpfen auch unserer aus der bürgerlichen Aufklärung herkommenden Denker, bei Kant, bei Fichte, ja selbst bei Hegel; geistige Vorkämpfer der demokratischen Revolution, Klassiker des Liberalismus, deren Fortwirkungen und Nachwirkungen bis heute nicht zum Abschluss gekommen sind."
Dieses Zitat stammt aus der Schrift "Die Freiburger Thesen der Liberalen", die im März 1972 erschienen ist – nach dem Freiburger Parteitag von 1971, auf dem sich die FDP programmatisch neu aufgestellt hat. Mit größerem Enthusiasmus ist wohl selten das Aufblühen liberalen Geistes in Deutschland beschrieben worden.
Karl-Hermann Flach, der damalige Generalsekretär der FDP und einer der Urheber des liberalen Freiburger Programms, kommentiert dessen Philosophie auf dem FDP-Parteitag 1972 so:
"Wir sind gegen jede Form elitärer Herrschaft, ob sie im Gewand konservativer Machtansprüche oder in Gestalt linker Funktionärsinteressen droht. Gesellschaftliche Machtkonzentrationen sind immer schädlich, von welcher Seite sie auch ausgehen."
Die Freiburger Denkschrift beschreibt den Liberalismus als Grundlage freiheitlich-demokratischer Gesellschaften so überzeugend und emphatisch, dass man verwundert ist, wie sehr die liberale Partei auch damals um ihren Platz im politischen Gefüge kämpfen musste. Die Gründe dafür reichen zurück in die Frühzeit des Liberalismus – in jene Zeit, als der Liberalismus zur vorherrschenden politischen Strömung wurde, in die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Freies Spiel der Kräfte
Es ist die Zeit, in der sich die Ideen der Aufklärer verbreiten. Freiheit und Selbstbestimmung für die Bürger, Rechtstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Pluralismus. Es ist auch die Zeit, in der liberale Vordenker wie Adam Smith die geistigen Grundlagen für die Befreiung der Wirtschaftstätigkeit von den Zwängen der mittelalterlich-feudalen Ordnungen geschaffen haben: die Grundlagen für eine freie Marktwirtschaft.
"Der Staat soll sich aus dem Markt heraushalten. Der Markt regelt sich allein. Die Konkurrenz und das freie Spiel der Kräfte sind Garant für das allgemeine Wohlergehen – den Wohlstand der Nationen."
Die Liberalisierung der Wirtschaft, die Befreiung von staatlicher Bevormundung ist die welthistorisch folgenreichste der europäischen Revolutionen des 19. Jahrhunderts. Denn ihr folgt das, was als industrielle Revolution bezeichnet wird − die Umwälzung aller Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in Europa und der Welt.
Christian Lindner: "Der einzelne hat es in der Hand: Chancen, Aufbruch, Perspektive und Veränderung. Stärken wir also den Glauben der Menschen an die eigenen Fähigkeiten und stärken wir den Glauben der Gesellschaft an ihre Möglichkeiten."
Freiheit und Initiative des Einzelnen, Fortschritt der Allgemeinheit: Was Christian Lindner 2015 verkündet, ist das urliberale Credo. Als die Liberalen im frühen 19. Jahrhundert für ihre Freiheitsideen werben, haben sie jedoch zwei große Probleme, die den Liberalismus in Deutschland frühzeitig schwächen. Das eine ist die Französische Revolution:
"Ein solches Phänomen vergisst sich nicht mehr, weil es eine Anlage und ein Vermögen in der menschlichen Natur zum Besseren aufgedeckt hat, dergleichen kein Politiker aus dem bisherigen Lauf der Dinge herausgeklügelt hätte."
So schwärmt zwar Immanuel Kant in Königsberg, aber die düstere Kehrseite der Revolution ist der vorherrschende Eindruck für das Gros der Deutschen: der Terror, die napoleonischen Kriege, die französische Besatzung. Die deutschen Untertanen verbünden sich nicht gegen ihre feudalen Herren, sondern mit den Fürsten gegen die französische Fremdherrschaft.
Ein Verhängnis für den deutschen Liberalismus, der fortan zwischen Freiheitsidee und Königstreue hin- und hergerissen ist. Hier liegen die Wurzeln für die spätere Aufsplitterung des Liberalismus in konkurrierende Parteien. Und es ist ein Verhängnis für die deutsche Nationalbewegung, die eigentlich Teil des liberalen Aufbruchs ist. Denn in die emanzipatorische Idee der Nation als freiheitliche Bürgergesellschaft mischt sich von Anfang an das Gift des Franzosenhasses, des völkischen Nationalismus.
Liberalismus von oben
Das zweite große Problem erwächst den Liberalen in Preußen, dem Staat, der die deutsche Entwicklung bestimmen wird. Denn in Preußen blüht der wirtschaftliche Liberalismus auf, ohne dass die Liberalen einen Anteil daran haben. Der Historiker Heinrich August Winkler:
"In Preußen gibt es eine Tradition, die Bismarck in den 1860er-Jahren einmal auf die Formel gebracht hat: In Preußen machen nur die Könige Revolution. Das ist das Erbe des aufgeklärten Absolutismus. Und wenige Jahre nach der Französischen Revolution von 1789 hat der preußische Minister von Struensee einem Franzosen gesagt, das, was ihr Franzosen von unten gemacht habt, werden wir von oben machen, wir werden die großen Reformen durchführen, die Bauernbefreiung, und so kam es in gewisser Weise auch in der Zeit der Stein-Hardenbergschen Reformen, kommunale Selbstverwaltung, Gewerbefreiheit, also alles Dinge, die den Geboten des Liberalismus entsprachen, aber ohne die Mitbestimmung des Bürgertums, es ist also die Tradition der Revolution von oben. Liberalismus von oben."
Mit dieser Strategie setzt der preußische Staat die Kräfte für eine ungeahnte wirtschaftliche Dynamik frei. Die wiederum stärkt Preußen politisch und damit: das preußische Königtum. Denn die wirtschaftliche Entwicklung wird zu einem Kernanliegen der preußischen Liberalen.
Mit dem unternehmerischen Erfolg wächst eine neue Schicht von Liberalen heran, denen die unternehmerische Freiheit über alles geht. Sie verdanken ihren Erfolg nicht der liberalen Emanzipationsbewegung, sondern der Politik des königlichen Kabinetts. Das prägt das entspannte Verhältnis zur Monarchie.
Winkler: "Während im deutschen Südwesten, zumal in Baden, die Wirtschaftsverfassung eher konservativ ist, zünftlerisch, protektionistisch, aber die politische Freiheitsbewegung des Bürgertums sehr viel stärker im Sinne der Forderung nach einer konstitutionellen Monarchie, wo das Parlament entscheidende Mitbestimmungsrechte hat."
Die bürgerliche Revolution von 1848 scheitert
Nach dem Vormärz kommt es im März, in der bürgerlichen Revolution von 1848, zur Stunde der Wahrheit. Der schwarz-rot-goldene Traum der Liberalen, ein deutscher Nationalstaat mit freiheitlicher Verfassung und allgemeinem Wahlrecht, scheint zum Greifen nahe. Scheint. In Wirklichkeit ist das Ziel kaum zu erreichen. Denn die Umrisse des deutschen Nationalstaats sind überhaupt nicht klar: Gehört Österreich dazu oder nicht?
"Dieses Doppelziel Einheit und Freiheit war insoweit viel ehrgeiziger als das Ziel der französischen Revolutionäre von 1789, als die letzteren den Nationalstaat, wenn auch in einer vormodernen Form, bereist vorfanden, den sie auf eine völlig neue gesellschaftliche Grundlage stellen wollten – der Verfassungsstaat innerhalb des Nationalstaates, das war vergleichsweise einfacher herzustellen als die simultane Herausbildung eines Verfassungs- und Nationalstaates."
... konstatiert Heinrich August Winkler. Schon bevor in Frankfurt am Main die Nationalversammlung zusammenkommt, um den deutschen Nationalstaat zu begründen, kommt es zum Bruch zwischen den radikalen Demokraten (vornehmlich aus dem Südwesten) und den gemäßigten Liberalen. Friedrich Hecker und Gustav Struve, die beiden linken Vorkämpfer der freiheitlichen Revolution, verlassen das Frankfurter Vorparlament und stürzen sich ins revolutionäre Gefecht, das sie am Ende verlieren werden.
Die gescheiterte 1848er-Revolution ist nicht der Knock-out für den politischen Liberalismus in Deutschland, aber eine Wasserscheide. Denn nun haben die Liberalen ein Problem, das sie nicht in den Griff kriegen − das sie zerkleinert und phasenweise sogar atomisiert. Sie schaffen es nicht, das gesamte Spektrum des Liberalismus unter einen Hut zu bringen: wirtschaftliche Freiheit, bürgerliche Freiheit und gesamtgesellschaftliche Verantwortung. Das ist, spätestens seit 1848, die Schwäche des Liberalismus in Deutschland.
Lindner: "Wir als Freie Demokraten haben im vergangenen Jahr unser Selbstverständnis geklärt."
Der FDP-Vorsitzende Christian Lindner weiß, dass seine Partei in der tiefsten Krise die Frage nach ihrem Selbstverständnis neu beantworten muss.
Im 19. Jahrhundert hätten die Liberalen in Preußen fast noch eine zweite Chance gehabt, sich doch noch als stärkste politische Kraft zu profilieren. Um 1860 ist ihre parlamentarische Stärke derart angewachsen, dass es auch ohne Revolution nur eine Frage der Zeit scheint, bis der preußische König nachgeben und nach britischem Vorbild eine Verfassung zugestehen muss – mit der Perspektive eines liberalen deutschen Verfassungsstaates.
Bismarck spaltet den deutschen Liberalismus
In dieser hoffnungsvollen Situation haben die Liberalen das Pech, das ihnen mit Bismarck ein überlegener Politiker des alten Regimes entgegentritt. Bismarck gewinnt den Machtkampf zwischen der Monarchie und den liberalen Parlamentariern und nutzt gnadenlos die Begeisterungsfähigkeit eines Teils der Liberalen für seine erfolgreiche Machtpolitik aus. 1864, 1866, 1871 – drei erfolgreiche Kriege, Hurra-Patriotismus und die Einheit der Nation: da schlägt sich ein Teil der Liberalen willig auf die Seite Bismarcks, obwohl der Nationalstaat nichts mit dem freiheitlichen Rechtsstaat zu tun hat, den die Liberalen eigentlich angestrebt haben.
Derart gespalten werden sie zum politischen Spielball Bismarcks, und es zeigt sich, dass die Fliehkräfte im liberalen Lager viel größer sind als die Bindekräfte der liberalen Ideale.
Winkler: "1866 spaltet sich die Deutsche Fortschrittspartei, der rechte Flügel bildet die Nationalliberale Partei und der linke Flügel nennt sich weiterhin Deutsche Fortschrittspartei, dann kommt nach 1878/79, nach der sogenannten konservativen Wende Bismarcks, Stichworte: Sozialistengesetz und Schutzzölle, die Spaltung der Nationalliberalen in einen linken und rechten Flügel. Der rechte Flügel geht mit den Konservativen taktisch zusammen, das sogenannte Kartell, mit dem Bismarck zeitweilig regierte.
Der linke Flügel, das sind die Freihändler der Nationalliberalen, die bilden die sogenannte Sezession um Ludwig Bamberger, einen der großen, heute weithin vergessenen deutschen Liberalen, diese Sezession schließt sich wenige Jahre später, Mitte der 80er-Jahre, mit den Fortschrittlern zur Freisinnigen Partei zusammen, die spaltet sich später auch noch mehrfach, aber was dann als Muster wieder in Erscheinung tritt, die quasi ewige Spaltung in einen linken und rechten Flügel."
Gespaltene Existenz ohne Anziehungskraft
Von da aus betrachtet ist es heute fast ein Wunder, dass es mit der FDP nur eine liberale Partei gibt. Die vielberedete Spaltung der Arbeiterbewegung ist nichts gegen die Spaltung des deutschen Liberalismus. In der Weimarer Republik hätte der Liberalismus noch einmal eine Chance haben können, aber der Graben zwischen Links- und Rechtsliberalen ist zu tief. Mit ihrer gespaltenen Existenz verlieren die Liberalen vollends an Anziehungskraft.
Winkler: "Die Wähler wandern in hellen Scharen ab, Ende der Weimarer Republik, so um 1932, haben beide liberalen Parteien, die Deutsche Volkspartei und die Deutsche Staatspartei, jeweils nur etwa ein Prozent Wähleranteil. Das heißt, es sind Splitterparteien geworden, hätte es eine Fünf-Prozent-Hürde gegeben in der Weimarer Zeit, wären diese Parteien gar nicht vertreten gewesen im Reichstag − da erlöscht eine Flamme, die im 19. Jahrhundert einmal stark war, weil es an den starken inneren liberalen Überzeugungen mangelt und diese sich im Zweifelsfall als schwächer erweisen als das nationale Sentiment und Ressentiment."
Die Zustimmung zu Hitlers Ermächtigungsgesetz ist der Endpunkt eines dramatischen Niedergangs. Auch die verbliebenen liberalen Reichstagsabgeordneten, unter ihnen Theodor Heuß, beugen sich dem Willen Hitlers und stimmen 1933 für die Entmachtung des Parlaments.
"Geläuterte Nazis wollte man aufnehmen"
Nach 1945 bekommt die Bundesrepublik Deutschland eine gemäßigt liberale Wirtschaftsordnung, die soziale Marktwirtschaft, einen konservativen Bundeskanzler, und mit Theodor Heuß einen liberalen Bundespräsidenten, der eine wichtige Rolle bei der Entwicklung demokratischer Gesinnung im neuen Staat spielt.
Theodor Heuß (1949): "Das demokratische Verfahren war nie glatt und bequem. Mit seinen Bremsvorrichtungen verteilt es die Verantwortung und im tiefsten Ziel will es den Bürger dazu erziehen, selber Verantwortungen zu übernehmen."
Die Liberalen gründen eine neue Partei, aber diese Nachkriegs-FDP ist ein merkwürdiges Sammelbecken sehr verschiedener Gesinnungen. Hildegard Hamm-Brücher hat sich in dieser Partei lange Zeit fremd gefühlt:
"Zum Teil bestand die FDP ja aus Leuten, die aus der früheren DDP, das waren die Linksliberalen. Heuß kam aus der DDP, Dehler und noch ein paar Leute. Aber das Gros kam aus der DVP, der Deutschen Volkspartei, die am Schluss auch nur noch zwei Reichstagsabgeordnete hatte, die schon das Parteibuch der Nazis in der Tasche hatten, das muss man wissen. Und das waren reine Nazis.
Ich sage Ihnen, im Anfang – ich war ja ein kleines Würstchen in München, als ich merkte: Wo bist du denn da hingeraten?! Und dann hatten wir einen Parteitag, das war ein sehr unrühmlicher, der Emser Parteitag 1952/53. Da prallten die beiden Flügel aufeinander.
Und der rechte Flügel hatte ein Programm, dass man sich rechts von der CDU verorten wollte. Um die ehemaligen Nazis aufzufangen. Das stand da ganz offen drin. Geläuterte Nazis wollte man aufnehmen."
Plötzlich kluge Köpfe bei der FDP
Ein Sammelbecken von Liberalen und Altnazis − dass sich die FDP aus diesen Verhältnissen befreit hat und eine wirkliche liberale Kraft in der Bundesrepublik wurde, ist erstaunlich. Ideell hat wohl keine Partei stärker von der intellektuellen Unruhe der 1960er-Jahre und der Studentenbewegung profitiert als die FDP.
Plötzlich zog sie kluge Köpfe an, die das alte Dilemma des deutschen Liberalismus überwinden wollten: die Dominanz der Wirtschaftsliberalen und die Marginalisierung der Bürgerrechtsliberalen. Beides zusammen denken: Mit diesem Anspruch traten die neuen liberalen Intellektuellen auf, Ralf Dahrendorf, Werner Maihofer, Karl-Hermann Flach, mit denen Walter Scheel 1969 den Wechsel zur sozialliberalen Koalition organisierte.
Auf dem Freiburger Programmparteitag 1971 wurde Flach zum ersten Generalsekretär gewählt. Danach sagte er:
"Es ist richtig, dass die FDP mit ihrem Freiburger Parteitag die Hinwendung zu einer modernen sozialliberalen Partei vollzogen hat. Aber gerade das ist eigentlich klassische liberale Haltung. Das war nur zeitweilig ein wenig verschüttet. Unsere liberalen Urväter, Friedrich Naumann zum Beispiel, haben ja sehr früh die soziale Verpflichtung des Liberalismus erkannt, haben sie postuliert in unzähligen Schriften und haben eigentlich schon, das haben wir mit Freude, Überraschung und Erstaunen entdeckt, haben sie die Vorarbeit schon für das geleistet, was wir jetzt in Freiburg vollzogen haben. Dass das, was wir tun, im Grunde ein Stück Rückbesinnung auf die geistigen Wurzeln des Liberalismus in Deutschland ist."
Kern dieses liberalen Selbstverständnisses war ein Eigentumsbegriff, der auch die gesamtgesellschaftliche Verantwortung einbezog. Der nordrhein-westfälische FDP-Politiker Willi Weyer 1971:
"Die FDP hält am Privateigentum fest. Sie glaubt, dass das Privateigentum eine der Grundlagen einer freiheitlichen Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung ist. Dieses Privateigentum soll der Sicherheit und Unabhängigkeit des Einzelnen dienen, aber nicht nur für einige wenige da sein. Daher fordert die FDP eine weite Streuung und breite Streuung des Eigentums. Sie betont auch die Sozialpflichtigkeit des Eigentums aus Artikel 14 des Grundgesetzes."
Karl-Hermann Flach: "Eigentum ist für die FDP nicht mehr tabu, Eigentum ist nicht Selbstzweck, Eigentum ist für die FDP heute Mittel zum Zweck, zur Mehrung und Erhaltung menschlicher Freiheit. Sie leitet jetzt ihren Eigentumsbegriff aus dem klassischen liberalen Freiheitsbegriff ab, und Eigentum schafft Freiheit, das ist ganz klar, ohne persönliches Eigentum gibt es auch keine persönliche Freiheit, aber Eigentum kann auch Freiheit beschränken, vor allen Dingen, wenn es in den Händen Weniger konzentriert ist. Und für diesen Fall muss sich das Eigentum selbst auch Beschränkungen gefallen lassen."
Konzeptionell den großen Parteien überlegen
Mehr noch als der große Koalitionspartner SPD war die FDP treibende Kraft bei den überfälligen gesellschaftlichen Reformen.
Flach: "Es gibt eine spießig-kleinbürgerliche Komponente in der SPD, die wir zurückdrängen müssen."
Mit dem Anspruch, den Bürgern Freiheit sowohl gegen staatliche Bevormundung als auch gegen wirtschaftliche Übermacht zu erkämpfen, war die FDP die Partei eines modernen Bürgertums, konzeptionell den beiden großen Parteien überlegen. Es ist kein Zufall, dass die Liberalen in dieser Zeit als erste erkannten, dass ein unterschätztes Thema auf die politische Tagesordnung gehörte: Umweltschutz.
Die Blütezeit des politischen Liberalismus in Deutschland dauerte allerdings nicht allzu lange. Dahrendorf und Maihofer waren in der praktischen Politik überfordert, Karl-Hermann Flach war gesundheitlich angeschlagen und starb bereits 1973 im Alter von nur 43 Jahren.
Bevor die sozialliberale Synthese des Liberalismus Wurzeln schlagen konnte, bereitete der wirtschaftsliberale Flügel der Partei mit dem Kieler Programm 1977 die Kehrtwende vor, die in den Koalitionswechsel von 1982 mündete.
Entfesselung der Märkte
Die FDP war noch mehr als die großen Volksparteien empfänglich für die radikalliberale Wende, die sich Ende der 70er-Jahre anbahnte: die Deregulierung und Entfesselung der Märkte nach den Lehren des Chicagoer Ökonomen Milton Friedman. Diese neoliberalen Ideen verdrängten in der FDP nach 1977 die Freiburger Thesen; die bürgerrechtliche Seite des Liberalismus geriet wieder ins Hintertreffen.
1991, 20 Jahre nach den Freiburger Thesen, sinnierte der damalige FDP-Vorsitzende Otto Graf Lambsdorff, der maßgeblich an der liberalen Kehrtwende ab 1977 beteiligt war:
"Das haben die Freien Demokraten gerade auch in Westdeutschland seit der Verabschiedung der Freiburger Thesen erkannt: dass die gesellschaftlichen Freiheiten, die bürgerlichen Freiheiten alleine nichts nutzen, wenn die Menschen nicht materiell in die Lage versetzt werden, diese Freiheiten auch zu genießen, diese Freiheiten auch zu gebrauchen."
In der politischen Rhetorik waren die Freiburger Thesen noch präsent, aber sie waren nur noch eine leere programmatische Hülle. Der Herausforderung, den Begriff der bürgerlichen Freiheit gegenüber staatlicher und wirtschaftlicher Macht in einer globalisierten Welt neu zu bestimmen, stellte sich die liberale Partei nicht.
Das rächte sich 2013: Der Absturz bei der Bundestagswahl nach dem Höhenflug von 2009 war auch ein Beweis dafür, wie wenig der politische Liberalismus in Deutschland verankert ist.
Flach: "Auf, Kameraden, die Nacht ist kühl. Für den Liberalismus taucht die Morgendämmerung erst schemenhaft am Horizont auf."
So klang das beim damaligen Generalsekretär Karl-Hermann Flach 1972. Als die Liberalen damals in der Versenkung zu verschwinden drohten, unternahmen sie eine beispiellose intellektuelle Anstrengung, um den Bundesbürgern deutlich zu machen, warum der Liberalismus für die deutsche Gesellschaft unverzichtbar ist.
Lindners One-Man-Show
Heute hat Christian Lindner mit einer beispiellosen persönlichen Anstrengung die FDP wiederbelebt, sodass sie 2017 in den Bundestag zurückkehren wird. Doch die Kehrseite wird schon in der Wahlkampagne sichtbar: die One-Man-Show des Spitzenkandidaten, der seine Partei in den Schatten stellt.
Lindner: "Die ganze FDP hat sich verändert, außerparlamentarische Opposition ist ein wahrlich raues Geschäft, die FDP ist jetzt eine wettergegerbte Partei, und unseren politischen Wettbewerbern darf ich ankündigen und unseren Unterstützern versichern, nach 1.315 Tagen außerparlamentarischer Opposition haut diese Partei so leicht gar nichts mehr um."
Die Antwort auf die Frage, wie bürgerliche Freiheit gegenüber staatlicher und wirtschaftlicher Macht in einer globalisierten Welt neu bestimmt werden kann, bleibt so offen wie die Zukunft der FDP nach ihrem Wahlerfolg am kommenden Sonntag.