"Die Tötung Geisteskranker in Deutschland"
Am 9. Dezember 1946 begann vor dem Ersten Amerikanischen Militärgerichtshof in Nürnberg der so genannte Ärzteprozess. Einer der Hauptanklagepunkte gegen die 20 führenden Mediziner und drei Nicht-Ärzte war das Euthanasieprogramm während der NS-Diktatur. Eine junge Ärztin beobachtete damals den Prozess, studierte Dokumente und schrieb über die während des Prozesses offen gelegten Verbrechen einen Bericht.
Ricciardi: "Sie können sich wahrscheinlich Nürnberg damals nicht vorstellen. Es war eine Trümmerstadt und wir bekamen einen Haufen Dokumente nachmittags eben, was am Vortag verhandelt worden war, und so haben wir gearbeitet, und so haben wir die Auszüge gemacht, so haben wir versucht, 23 Angeklagte, die uns gegenüber saßen mit sturen Gesichtern, etwas zu verstehen, aber das Verstehen war absolut unmöglich, denn wir waren unter Schock von den Sachen, die wir dort erfuhren."
Damals war sie eine junge Ärztin vom Land: Dr. Alice von Platen-Hallermund, Tochter aus einem alten Hannoveraner Adelsgeschlecht. Sie spricht vom Nürnberger Ärzteprozess 1946, den sie als Beobachterin verfolgte. Damals standen dort NS-Mediziner unter der Anklage, entweder in Konzentrationslagern mit Häftlingen zum Teil tödliche Versuche angestellt oder in Kliniken psychiatrische Patienten umgebracht zu haben.
Entsetzt über die Abgründe, die sich dabei auftaten, schrieb Alice von Platen darüber einen Bericht. Sie wollte der Öffentlichkeit vorführen, wie willige Mediziner des braunen Regimes jahrelang hinter verschlossenen Türen Hunderttausende psychisch Kranker vergasten, tot spritzten oder systematisch verhungern ließen. Erschienen ist das Buch 1948 mit dem Titel "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland". Ein Titel, der vielleicht ein wenig zu groß angelegt ist. Tatsächlich geht es ausschließlich um die sog. Euthanasie in der NS-Zeit.
Ricciardi: "Es sind Idealisten, die behaupten, dass die nach ärztlichen Gesichtspunkten streng durchgeführte Euthanasie Tausende von Geisteskranken von einem menschenunwürdigen Leben erlösen könnte. In der Wirklichkeit sind die bedauernswerten "Menschenhülsen", die aus Mitleid von ihren Qualen erlöst werden müssen, nicht zu finden. Sie sind eine Fiktion des biologischen Utilitarismus, für den der Kranke, der nicht arbeitet, kein Mensch ist."
Das schrieb Alice von Platen im Vorwort zu ihrem Buch, in das erschütternde Details einflossen, die sie als Beobachterin in dem Prozess erfahren hatte:
Ricciardi: "Unter den Toten sind nur sehr wenige Kranke, deren Leben als erloschen bezeichnet werden könnte, denen kein Lebensfunke zu entlocken gewesen wäre. Viele arbeitsfähige, völlig über ihr Schicksal orientierte Menschen sind neben mehr oder minder geistig Gestörten und Schwachsinnigen damals in den Euthanasie-Anstalten vergast worden."
Hier waren Ärzten offenbar die grundlegende ethische Verbindung zu ihren Patienten entglitten. Das im Prozess zu erfahren, hatte Alice von Platen fassungslos gemacht. Ihr Buch ist erst 1993 – nach knapp 45 Jahren - neu herausgekommen. Klaus Dörner, ehemals Psychiatrie-Professor an der Universität Witten-Hérdecke, schrieb dazu in seinem Geleitwort:
"Sie beschreibt, dass die – in Anführungszeichen - Freigabe auch nur eines Menschen an den sog. Gnadentod alle Grenzen sprengt und, jetzt wörtlich ‚das Verhältnis zwischen Arzt und Patient auf der ganzen Welt in Frage stellt’."
Helmut Sörgel, Psychiater in Nürnberg, notierte zu dem neu erschienenen Buch in der "Nürnberger Zeitung":
"Sie empfand das Hinmorden psychisch kranker Menschen als Ausdruck einer Systemkriminalität, in die die Psychiatrie tief verstrickt war und von der die gesamte deutsche Ärzteschaft gewusst hatte."
1948, als von Platens Buch erstmals auf den Markt kam, reagierte die Ärzteschaft, konfrontiert mit den Ungeheuerlichkeiten ihrer Kollegen, so wie viele andere, die die NS-Zeit mehr oder weniger aktiv erlebt hatten: Sie wollte davon nichts wissen. Damit war das Schicksal des Buch für Jahrzehnte besiegelt.
Alice von Platen, heute verheiratete Ricciardi, hat nach den Nürnberger Prozessen lange in Deutschland und Italien als Psychoanalytikerin und Psychiaterin praktiziert. Heute lebt sie, 96-jährig in der Toskana. Der Autor traf sie in einem noblen Hotel in Nürnberg, also in der Stadt, in der mit dem Ärzteprozess ihre berufliche Laufbahn so eindrücklich begonnen hatte. Ihn empfing eine charmante alte Dame; vor dem Interview hatte sie noch rasch etwas Rouge aufgelegt und die Lippen nachgezogen. Das Gehen an den beiden Krückstöcken war etwas mühsam, aber ihr Geist war klar und hell und leidenschaftlich wie bei einer jungen Frau. Sie erzählte so lebendig von 1946, als hätte sie den schauerlichen Prozess erst gestern verlassen.
In das Gerichtsverfahren hineingelotst wurde Alice von Platen durch Professor Viktor von Weizsäcker von der Psychosomatischen Klinik an der Universität Heidelberg. Bei ihm war sie ab 1945 Assistentin gewesen.
Ricciardi: "Er interessierte sich sehr für das Publikmachen dieses Prozesses, der im Oktober anfangen sollte und machte Propaganda dafür, dass Beobachter da wären, fand auch Widerhall beim Leiter Dr. Oehlemann der hessischen Ärztekammer, ich glaube, nur beim Leiter, ich fürchte, dass seine Untergebenen eher dagegen waren. Aber jedenfalls, er setzte durch, dass eine Beobachterkommission gebildet würde, fand dazu den Leiter Dr. Alexander Mitscherlich, der auch historisch und journalistisch gearbeitet hatte, der auch unter den Nazis eine Zeit lang im Gefängnis gewesen war. Diese kleine Gruppe bekam den Auftrag und die Erlaubnis von den Amerikanern und den "documents centre", nach Nürnberg zu kommen.
Doch der später weltweit angesehene Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hatte damals nicht viel Zeit für den Ärzteprozess. Er gründete gerade das Institut für Psychoanalyse und war zudem dabei, eine Fachzeitschrift ins Leben zu rufen. So blieben als Beobachter in Nürnberg nur Alice von Platen und der Student Fred Mielke.
Ricciardi: ""Wir kamen also im Dezember 1946 im zerbombten, kalten Nürnberg an und wurden im Gasthof "Zum Schlachthof" untergebracht – ein düsterer Ort in düsterer Umgebung. Da wir oft nur zu zweit waren, hatten wir genug zu tun: Am Morgen wohnten wir den Gerichtsverhandlungen auf der Empore des Schwurgerichtssaals 600 im Nürnberger Justizgebäude bei. Abends arbeiteten wir unter ungünstigen Bedingungen an den Berichten und Dokumenten. Da wir keine geheizten Arbeitsräume hatten, mussten wir in der Gaststätte arbeiten."
"Ihr Interesse galt dem Aufbau der Tötungsorganisation, dem Schicksal der Opfer, aber auch dem Widerstand gegen die Euthanasie von Seiten der Angehörigen und des medizinischen Personals."
So Helmut Sörgel in seiner Rezension des Buches. Alice von Platen beobachtete 1947 auch den Hadamar-Prozess in Frankfurt. Hadamar war eine von den sechs psychiatrischen Kliniken, in die zentral für ganz Deutschland die Patienten zur Tötung geschickt wurden. Mit solchen Einsichten hatte von Platen die gesamte Mordmaschinerie vor Augen – von der Auswahl der zu tötenden Patienten bis zu ihrer Vergasung in speziellen Anstalten.
In ihrem Buch schätzt die Autorin, dass insgesamt 70.000 psychiatrische Patienten umgebracht worden sind. Diese Zahl wurde von der späteren Forschung nach oben korrigiert, unter anderen von Prof. Hans Walter Schmuhl, der sich als Wissenschaftshistoriker an der Universität Bielefeld auf dieses Thema spezialisiert hat.
Schmuhl: ""Der Heinz Faulstich hat in den letzten Jahren sehr akribische Forschungen angestellt zur Zahl der Opfer der "Euthanasie", und seine jüngste Schätzung besagt, dass in den Heil- und Pflegeanstalten innerhalb des Deutschen Reiches einschließlich der annektierten Gebiete insgesamt 196.000 Menschen ums Leben gekommen sind; und wenn man die 80.000 Toten hinzurechnet, die es in französischen, polnischen und sowjetischen Anstalten gegeben hat, und die 20.000 KZ-Häftlinge, die im Rahmen der sog Sonderbehandlung "14F13" vergast worden sind, dann kommt man auf eine Zahl von annähernd 300.000 Opfern."
Hitler hatte in einem geheimen Erlass von 1939 dem Chef seiner Kanzlei Philipp Bouhler und seinem Leibarzt Karl Brandt den folgenden Befehl erteilt:
"Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."
Erst in den achtziger Jahren führten Untersuchungen wie die von Michael von Cranach, selbst Arzt, zu einem konkreten Bild über den Ablauf der Tötungsmaschinerie. Von Cranach, von 1980 bis Sommer 2006 Chef im bayerisch-schwäbischen Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren, war der Geschichte seines Hauses während der NS-Zeit nachgegangen. Nach seinen Recherchen hatten die einzelnen Kliniken ihre Kranken nach Berlin zu melden. Dort saßen Gutachter, die zwischen "arbeitsfähig" und "lebensunwert" entschieden.
Cranach: "Die Patienten, die positiv beurteilt wurden, wurden mit Bussen abgeholt, sogenannte graue Busse im Jargon, aus den Kliniken und in sechs eigens eingerichtete Tötungsanstalten gebracht. Man hatte sechs psychiatrische Krankenhäuser geleert von Patienten, die wurden in andere Einrichtungen geschickt und dort hat man dann Räume eingerichtet, die so vielleicht 30, 40 Quadratmeter waren. In diese hat man dann Duschköpfe eingebaut. Die Patienten sollten das Gefühl haben, dass sie geduscht wurden, und in diese Räume wurde Kohlenmonoxid eingeleitet. Der Arzt beobachtete durch ein Fenster das Sterben der Patienten und dann wurden sie im Krematorium verbrannt."
Bis 1941 wurden auf diese Weise 70.000 Patienten umgebracht. Auf mündlichen Befehl Hitlers hörte dann das Morden auf, vorerst. Familien, denen das plötzliche Sterben ihres vorher körperlich kerngesunden Nächsten merkwürdig vorkam, schrieben Protestbriefe, katholische Kardinäle griffen die Machthaber öffentlich an, und selbst SS-Reichsleiter Heinrich Himmler hielt es bei der Stimmung in der Bevölkerung für wenig opportun, mit dem Töten, das sich offenbar doch nicht hatte verheimlichen lassen, fortzufahren.
Mit diesem Kenntnisstand verhandelten die Richter den Ärzteprozess 1946. Daher ist in von Platens Buch nur von den genannten 70.000 Toten die Rede. Erst später kam in Nachforschungen folgendes heraus:
Die Euthanasie-Organisation arbeitete gegen Hitlers Order weiter und zwar bis Kriegsende. Dabei wurden drei Mal mehr Patienten umgebracht als bis 1941.
Hitler hatte in seinem Euthanasie-Erlass von der Tötung "nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranker" geschrieben und zwar nach "kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes". Doch dabei blieb es nicht.
Ricciardi: "Man wusste, dass es keineswegs hoffnungslos Kranke am Ende waren, sondern relativ leicht gestörte Menschen, dass die schwer gestörten, nicht heilbaren, höchstens ein Drittel, wahrscheinlich noch weniger waren, dass diese Menschen, die zum Tode verurteilt waren, abtransportiert waren, genau wussten, was ihnen bevorstand, war die große Tragödie."
Die Angeklagten des Ärzteprozesses waren sich keiner Schuld bewusst. Hedy Epstein, damals Dolmetscherin in Nürnberg, erinnert sich:
"Die haben sich natürlich alle als nicht schuldig erklärt. Reue habe ich nie gesehen oder gefunden. Was tief in ihrem Inneren ist, weiß ich nicht. Ich habe gestern Abend kurz mit Robert Lifton gesprochen…"
Robert Lifton ist Psychiater in Cambridge, USA und hat das Buch "Ärzte im Dritten Reich" geschrieben, das vor acht Jahren auch auf deutsch erschienen ist.
Epstein: "Und er sagt, er glaubt, dass ganz tief innen in ihnen vielleicht nicht alle aber für manche das Gefühl war, sie haben etwas getan, was nicht richtig war, aber wer weiß."
Der langjährige Chef des Krankenhauses Kaufbeuren Michael von Cranach fand in seinen Nachforschungen heraus, dass in seinem Haus 2200 Patienten umgebracht worden sind, die letzten sogar noch im Juli 1945. Die amerikanische Besatzung vor Ort war ahnungslos. Die Soldaten wussten von der Euthanasie nichts und hätten es nicht für möglich gehalten, dass quasi unter ihren Augen die letzten Zeugen der Mordaktion beiseite geschafft wurden. Die verantwortlichen Ärzte mussten sich wohl bewusst gewesen sein, dass sie Verbrechen begangen und nicht nur so genannten "Menschenhülsen" mildtätig den Gnadentod geschenkt hatten.
In ihrem Buch "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" blickt Alice von Platen auch auf die Psychiatrie vor dem "Dritten Reich" zurück, denn erst damit wird erkennbar, warum Ärzte zu Mördern wurden. Danach bekamen angehende Psychiater in der Universität Vorlesungen zu hören, in denen der Wert des menschlichen Lebens unter biologistischem Aspekt bewertet wurde. Dazu fand der Medizinhistoriker Walter Schmuhl später heraus:
Schmuhl: "In den Zwanziger Jahren gibt es eine kleine Revolution in der Anstaltspsychiatrie. Es ist zum ersten Mal, dass Therapieformen entwickelt werden, die greifbare Effekte erzielen. Das ist die Arbeitstherapie wie auch die offene Fürsorge als auch somatische Behandlungsverfahren wie die "Malariakur" und ein Schock- und Krampfverfahren; und da gibt es so etwas wie eine therapeutische Aufbruchstimmung. Aber man kann natürlich nur die frisch Erkrankten erreichen. Die chronisch Erkrankten, gerade die Schizophrenen, die lange Zeit schon in Anstalten sind, dann auch die Menschen mit geistiger Behinderung, die entziehen sich dem Zugriff; und dieser therapeutische Impetus ist so stark, weil er sich auch nicht mehr auf das Individuum richtet, sondern auch auf den Volkskörper, den man reinigen will, da kann man den Einfluss von eugenischem Gedankengut beobachten. Der führt dazu, dass man um den Preis der Vernichtung Heilung herbeiführen will."
Die Psychiatriezukunft sollte sich weiterhin nach dem Reformkonzept der zwanziger Jahre richten. Und die Kliniken sollten dem entsprechend nur jene Patienten behalten, bei denen die neuen Therapien anschlügen. Der unbehandelbare Rest müsste per so genannter Euthanasie ausgelöscht werden.
So genügte vielen Ärzten ein vager Hitler-Erlass, um die Tötungsmaschinerie in Gang setzen zu helfen, die in ihren Köpfen offenbar schon längst vorbereitet war. Davon hatten die US-Ankläger beim Ärzteprozess aber keine Ahnung:
Ricciardi: "Interessant ist in diesem Sinne, dass die Amerikaner immer eine Verantwortungskette konstruieren wollten; sie fragten immer bei jedem Angeklagten: Von wem hatten sie den direkten Befehl? Und die Antwort war immer dieselbe: ’Ja, Befehl war es eigentlich nicht, denn man wusste doch, was gewollt war.’"
Alice von Platen schrieb "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" nach dem Ende des Prozesses. Das Buch erschien 1948, aber es erreichte die Buchhandlungen nicht.
Ricciardi: "Irgendwie ist es vernichtet worden, ob es aufgekauft oder einfach beschlagnahmt war, jedenfalls es ist sicher vernichtet worden, aber nicht ganz so gründlich wie Mitscherlichs erstes Buch, denn immer wieder taucht im Internet ein Exemplar auf. Interessierte Menschen können sich das Original immer noch besorgen, also es müssen an die 100 Exemplare oder vielleicht sogar etwas mehr überlebt haben."
Später hat Rezensent Helmut Sörgel nachrecherchiert:
"Die 3000 Exemplare – der Erstausgabe – wurden sehr schnell eingezogen, etwa zwanzig Exemplare überdauerten in Bibliotheken."
Alexander Mitscherlich, der Leiter der Beobachtergruppe im Ärzteprozess, hatte ebenfalls zwei Dokumentationen zum Thema herausgebracht, "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" und "Das Diktat der Menschenverachtung". Beide Bücher waren ebenfalls in hoher Auflage gedruckt worden.
Ricciardi: "Das erste Buch von Mitscherlich, schon 1947 herausgekommen in einer großen Zahl, ist nie unter die Ärzte gekommen. Die Redakteure der ärztlichen Zeitschriften haben sich geweigert, geschichtliche Fragen zu bearbeiten: "Wir sind für die Forschung und die neuen Dinge da und nicht für alte gewesene Situationen". Mitscherlich hat es in einigen Zeitschriften in der Schweiz untergebracht, in deutschen Zeitschriften war es beinahe unmöglich."
Unter dem Titel "Ärzte ohne Gewissen" konnte Mitscherlich die Dokumentationen schließlich 1960 veröffentlichen, dann auch mit großem Erfolg. Aber 1947 wollte vor allem in der organisierten Ärzteschaft niemand etwas davon wissen, im Gegenteil, Mitscherlich wurde als Nestbeschmutzer und "unbotmäßiger Privatdozent" beschimpft. Zum Beispiel auch und gerade von dem berühmten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch:
Ricciardi: "Er ist ja auch namentlich in Mitscherlichs Buch zitiert worden, weil er in den amerikanischen Gerichtsdokumenten, er und Heubner, vorkam und dann haben sie Mitscherlich wegen Zitieren ihres Namens gerichtlich verklagt, und da ist es auch zu einem Vergleich gekommen. Heubner und Sauerbruch haben das weiter betrieben: "Nestbeschmutzer" etc.. Das hat es eine lange Geschichte gegeben, bis Mitscherlich endlich freigesprochen wurde, und ein Satz aus seinem Buch musste gestrichen werden."
Nach dem Untergang des NS-Reiches hatten sich die Ärzte auf die folgende Sprachregelung geeinigt: die Euthanasie-Morde gehen auf einige wenige Ärzte zurück, vor allem junge und unerfahrene, die vom Nationalsozialismus fanatisiert gewesen seien. Die große Mehrheit der Mediziner hingegen habe davon nichts gewusst. Dabei hatte damals selbst die blutjunge Ärztin Alice von Platen während ihrer Zeit als Landärztin vom mysteriösen Verschwinden geistig Kranker in den Anstalten Wind bekommen, ohne freilich Näheres darüber zu erfahren. Das wurde ihr erst im Ärzteprozess erschreckend bewusst und war dann das Hauptmotiv für ihr Buch.
Ricciardi: "Ich arbeitete von 1942 bis 45 als Landarzt, zuerst in Bayern und dann in Österreich, und hatte eine Erfahrung über die Landbevölkerung und versuchte, wenn Patienten zu mir kamen, die sagten, die hätten Angehörige, in Instituten für psychisch Kranke, was sollten sie tun, ich nur sagen konnte: Genaues weiß ich nicht, ich habe von Todesfällen gehört, nehmen Sie ihre Verwandten so schnell wie möglich weg und ab und zu habe ich auch Briefe schreiben können: ’Für den und den Patienten wäre Platz bei seiner Familie’. Meistens war es erfolglos, entweder war es zu spät, sie waren schon abtransportiert oder es wurde gesagt, nein, dieser Patient kann nicht entlassen werden, denn die Todesanzahl in den Anstalten, die Prozentzahl, die umgebracht werden sollten, musste erfüllt werden."
Euthanasie als mörderischer bürokratischer Vollzugsakt. Kein Wunder bei einer Ärzteschaft, der von Platen in ihrem Buch nachgewiesen hatte:
Ricciardi: "Die Hälfte der deutschen Ärzte war bis 1945 Mitglied der NSDAP; eine viel höhere Prozentzahl als in anderen staatsnahen Berufen. Von jüngeren Ärzten waren viele in der SS gewesen."
Den Grund dafür findet Alice Ricciardi von Platen einmal darin, dass viele junge Leute völlig desorientiert aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen und danach arbeitslos waren, und zum anderen in dem damals schwelenden Antisemitismus in Deutschland.
Ricciardi: Die jungen Ärzte fanden keine Arbeit. Sie fanden eine Ärzteschaft, wo viele wohl etablierte, glänzende jüdische Kollegen waren, und es war sehr wenig Platz, sie kriegten keine Kassenzulassung, es ging ihnen finanziell sehr schlecht/Da dann die Elimination der jüdischen Rasse und der jüdischen Kollegen gepredigt wurde von den Nationalsozialisten, sahen sie ihre Chance und ergriffen sie auch sehr gerne.
Bei den juristischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus kamen die meisten der Mörder-Ärzte ungeschoren davon. Davon ist im Buch von Platens nichts zu lesen, denn das ist Nachkriegsgeschichte nach dem Erscheinungsjahr 1948.
Ricciardi: "Ab ungefähr der 80er Jahre fing es an, Anfragen: ‚Wo ist Ihr Buch, wie kriegt man Ihr Buch’, und dann habe ich Teile meines Buches, Kapitel fotokopieren lassen, herumgeschickt, und dann schließlich haben sich einige Ärzte zusammengetan: wir werden einen Verlag suchen, bei einem kleinen Kongress, den wir in der Schweiz abhielten. Da sagte ein Schweizer: Wenn Sie 10.000 Fränkli zahlen, dann drucken wir es sofort. Dann sagte ich "nein, die habe ich nicht", und kurz hinterher kam die Möglichkeit, die Wiederauflage im Psychiatrieverlag. Sie sagten, wir wissen, es wird kein Geschäft für uns sein, aber es ist ein Klassiker, das muss wieder aufgelegt werden, und dann wurde es ein Geschäft/ Drei Auflagen hat es im Psychiatrie-Verlag bekommen und dann hat es jetzt der Mabuse-Verlag übernommen, und, wie ich gestern Abend gesehen habe, geht mein Buch ab wie warme Semmeln."
"Von 1980 an wurde dieses Buch nach Form und Inhalt zum Prototyp für eine Flut von Büchern und Aufsätzen, die sich bemühten, insbesondere die NS-Psychiatrie-Verbrechen inzwischen fast jedes psychiatrischen Krankenhauses und fast jeder Einrichtung für geistig Behinderte und fast jeder Region des Deutschen Reiches zu rekonstruieren. Plötzlich war möglich geworden, was jahrzehntelang alle Älteren die Augen geblendet und die Kehle zugeschnürt hatte. Die wenigen Exemplare des Buches wurden jetzt mühsam gesucht, der kollektiven Verdrängung entrissen."
Schrieb Klaus Dörner, der selbst der älteren Generation der Psychiater angehört, zur Neuauflage 1993.
Den Beginn mit der Aufklärung eines der schlimmsten Kapitel der Medizin in Deutschland gemacht zu haben, ist das Verdienst eines Journalisten: Ernst Klee. Mit seinen Büchern "Euthanasie im NS-Staat" und "Dokumente zur Euthanasie" zog er ab 1983 vor allem die Aufmerksamkeit einer jüngeren Generation auf sich, die in den so genannten 1868-er Jahren studiert und als erste gewagt hatte, ihrer Elterngeneration den Spiegel ihrer NS-Vergangenheit vorzuhalten, den die bislang so erfolgreich verdrängt hatte.
Danach kam das verschwiegene Grauen in den Psychiatrieanstalten des "Dritten Reiches" nach und nach zu Tage, befördert auch durch so unerschrockene Ärzte wie Michael von Cranach, der das lastende Schweigen in der Klinik, die er gerade übernommen hatte, spürte. Er hatte das Buch von Alice von Platen wie viele andere erst in den neunziger Jahren in die Hände bekommen. Ein Buch, von dem Klaus Dörner schreibt:
"Die heutige Lektüre des Buches zeigt, dass fast alle grundlegenden Gedanken zur Erklärung der psychiatrischen NS-Verbrechen schon 1948 gedacht und ausgesprochen waren, offenbar historisch zu früh, sodass wir ab 1980 oft dieselben Erklärungsansätze wieder finden mussten – jetzt freilich mit einer größeren Resonanz und Bereitschaft, sich ihnen auszusetzen."
Heute können die Verbrechen der NS-Zeit ziemlich frei der Öffentlichkeit vorgeführt werden. Widerstand rührt sich nicht mehr, denn die Täter liegen mittlerweile alle unter der Erde.
Die so genannte Euthanasie, so schrieb Alice Ricciardi von Platen ins Vorwort zur Neuauflage, ist nicht Geschichte. Sie kehrt heute wieder, wenn auch in anderem Gewand, und damit blickt die 96-Jährige fast seherisch in eine offene Zukunft.
Ricciardi: "Im Kampf gegen Erbkrankheiten wird jetzt oft von der Möglichkeit gesprochen, durch Gen-Manipulation die Betroffenen von ihrer Krankheit zu befreien; es ist sicher verfrüht, über dieses an sich segensreiche Vorgehen zu urteilen. Es erhebt sich aber sofort die Frage, wie weit diese Wissenschaft gehen wird, um den Wunsch nach dem idealen Menschen zu erfüllen. Werden Erbkranke zwangsweise bürokratisch "erfasst"? Welche Aussicht auf Hilfe und Verständnis werden Verkrüppelte haben? Wird ein völlig gesunder Standard-Mensch das neue Ideal werden?"
Damals war sie eine junge Ärztin vom Land: Dr. Alice von Platen-Hallermund, Tochter aus einem alten Hannoveraner Adelsgeschlecht. Sie spricht vom Nürnberger Ärzteprozess 1946, den sie als Beobachterin verfolgte. Damals standen dort NS-Mediziner unter der Anklage, entweder in Konzentrationslagern mit Häftlingen zum Teil tödliche Versuche angestellt oder in Kliniken psychiatrische Patienten umgebracht zu haben.
Entsetzt über die Abgründe, die sich dabei auftaten, schrieb Alice von Platen darüber einen Bericht. Sie wollte der Öffentlichkeit vorführen, wie willige Mediziner des braunen Regimes jahrelang hinter verschlossenen Türen Hunderttausende psychisch Kranker vergasten, tot spritzten oder systematisch verhungern ließen. Erschienen ist das Buch 1948 mit dem Titel "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland". Ein Titel, der vielleicht ein wenig zu groß angelegt ist. Tatsächlich geht es ausschließlich um die sog. Euthanasie in der NS-Zeit.
Ricciardi: "Es sind Idealisten, die behaupten, dass die nach ärztlichen Gesichtspunkten streng durchgeführte Euthanasie Tausende von Geisteskranken von einem menschenunwürdigen Leben erlösen könnte. In der Wirklichkeit sind die bedauernswerten "Menschenhülsen", die aus Mitleid von ihren Qualen erlöst werden müssen, nicht zu finden. Sie sind eine Fiktion des biologischen Utilitarismus, für den der Kranke, der nicht arbeitet, kein Mensch ist."
Das schrieb Alice von Platen im Vorwort zu ihrem Buch, in das erschütternde Details einflossen, die sie als Beobachterin in dem Prozess erfahren hatte:
Ricciardi: "Unter den Toten sind nur sehr wenige Kranke, deren Leben als erloschen bezeichnet werden könnte, denen kein Lebensfunke zu entlocken gewesen wäre. Viele arbeitsfähige, völlig über ihr Schicksal orientierte Menschen sind neben mehr oder minder geistig Gestörten und Schwachsinnigen damals in den Euthanasie-Anstalten vergast worden."
Hier waren Ärzten offenbar die grundlegende ethische Verbindung zu ihren Patienten entglitten. Das im Prozess zu erfahren, hatte Alice von Platen fassungslos gemacht. Ihr Buch ist erst 1993 – nach knapp 45 Jahren - neu herausgekommen. Klaus Dörner, ehemals Psychiatrie-Professor an der Universität Witten-Hérdecke, schrieb dazu in seinem Geleitwort:
"Sie beschreibt, dass die – in Anführungszeichen - Freigabe auch nur eines Menschen an den sog. Gnadentod alle Grenzen sprengt und, jetzt wörtlich ‚das Verhältnis zwischen Arzt und Patient auf der ganzen Welt in Frage stellt’."
Helmut Sörgel, Psychiater in Nürnberg, notierte zu dem neu erschienenen Buch in der "Nürnberger Zeitung":
"Sie empfand das Hinmorden psychisch kranker Menschen als Ausdruck einer Systemkriminalität, in die die Psychiatrie tief verstrickt war und von der die gesamte deutsche Ärzteschaft gewusst hatte."
1948, als von Platens Buch erstmals auf den Markt kam, reagierte die Ärzteschaft, konfrontiert mit den Ungeheuerlichkeiten ihrer Kollegen, so wie viele andere, die die NS-Zeit mehr oder weniger aktiv erlebt hatten: Sie wollte davon nichts wissen. Damit war das Schicksal des Buch für Jahrzehnte besiegelt.
Alice von Platen, heute verheiratete Ricciardi, hat nach den Nürnberger Prozessen lange in Deutschland und Italien als Psychoanalytikerin und Psychiaterin praktiziert. Heute lebt sie, 96-jährig in der Toskana. Der Autor traf sie in einem noblen Hotel in Nürnberg, also in der Stadt, in der mit dem Ärzteprozess ihre berufliche Laufbahn so eindrücklich begonnen hatte. Ihn empfing eine charmante alte Dame; vor dem Interview hatte sie noch rasch etwas Rouge aufgelegt und die Lippen nachgezogen. Das Gehen an den beiden Krückstöcken war etwas mühsam, aber ihr Geist war klar und hell und leidenschaftlich wie bei einer jungen Frau. Sie erzählte so lebendig von 1946, als hätte sie den schauerlichen Prozess erst gestern verlassen.
In das Gerichtsverfahren hineingelotst wurde Alice von Platen durch Professor Viktor von Weizsäcker von der Psychosomatischen Klinik an der Universität Heidelberg. Bei ihm war sie ab 1945 Assistentin gewesen.
Ricciardi: "Er interessierte sich sehr für das Publikmachen dieses Prozesses, der im Oktober anfangen sollte und machte Propaganda dafür, dass Beobachter da wären, fand auch Widerhall beim Leiter Dr. Oehlemann der hessischen Ärztekammer, ich glaube, nur beim Leiter, ich fürchte, dass seine Untergebenen eher dagegen waren. Aber jedenfalls, er setzte durch, dass eine Beobachterkommission gebildet würde, fand dazu den Leiter Dr. Alexander Mitscherlich, der auch historisch und journalistisch gearbeitet hatte, der auch unter den Nazis eine Zeit lang im Gefängnis gewesen war. Diese kleine Gruppe bekam den Auftrag und die Erlaubnis von den Amerikanern und den "documents centre", nach Nürnberg zu kommen.
Doch der später weltweit angesehene Psychoanalytiker Alexander Mitscherlich hatte damals nicht viel Zeit für den Ärzteprozess. Er gründete gerade das Institut für Psychoanalyse und war zudem dabei, eine Fachzeitschrift ins Leben zu rufen. So blieben als Beobachter in Nürnberg nur Alice von Platen und der Student Fred Mielke.
Ricciardi: ""Wir kamen also im Dezember 1946 im zerbombten, kalten Nürnberg an und wurden im Gasthof "Zum Schlachthof" untergebracht – ein düsterer Ort in düsterer Umgebung. Da wir oft nur zu zweit waren, hatten wir genug zu tun: Am Morgen wohnten wir den Gerichtsverhandlungen auf der Empore des Schwurgerichtssaals 600 im Nürnberger Justizgebäude bei. Abends arbeiteten wir unter ungünstigen Bedingungen an den Berichten und Dokumenten. Da wir keine geheizten Arbeitsräume hatten, mussten wir in der Gaststätte arbeiten."
"Ihr Interesse galt dem Aufbau der Tötungsorganisation, dem Schicksal der Opfer, aber auch dem Widerstand gegen die Euthanasie von Seiten der Angehörigen und des medizinischen Personals."
So Helmut Sörgel in seiner Rezension des Buches. Alice von Platen beobachtete 1947 auch den Hadamar-Prozess in Frankfurt. Hadamar war eine von den sechs psychiatrischen Kliniken, in die zentral für ganz Deutschland die Patienten zur Tötung geschickt wurden. Mit solchen Einsichten hatte von Platen die gesamte Mordmaschinerie vor Augen – von der Auswahl der zu tötenden Patienten bis zu ihrer Vergasung in speziellen Anstalten.
In ihrem Buch schätzt die Autorin, dass insgesamt 70.000 psychiatrische Patienten umgebracht worden sind. Diese Zahl wurde von der späteren Forschung nach oben korrigiert, unter anderen von Prof. Hans Walter Schmuhl, der sich als Wissenschaftshistoriker an der Universität Bielefeld auf dieses Thema spezialisiert hat.
Schmuhl: ""Der Heinz Faulstich hat in den letzten Jahren sehr akribische Forschungen angestellt zur Zahl der Opfer der "Euthanasie", und seine jüngste Schätzung besagt, dass in den Heil- und Pflegeanstalten innerhalb des Deutschen Reiches einschließlich der annektierten Gebiete insgesamt 196.000 Menschen ums Leben gekommen sind; und wenn man die 80.000 Toten hinzurechnet, die es in französischen, polnischen und sowjetischen Anstalten gegeben hat, und die 20.000 KZ-Häftlinge, die im Rahmen der sog Sonderbehandlung "14F13" vergast worden sind, dann kommt man auf eine Zahl von annähernd 300.000 Opfern."
Hitler hatte in einem geheimen Erlass von 1939 dem Chef seiner Kanzlei Philipp Bouhler und seinem Leibarzt Karl Brandt den folgenden Befehl erteilt:
"Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, dass nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann."
Erst in den achtziger Jahren führten Untersuchungen wie die von Michael von Cranach, selbst Arzt, zu einem konkreten Bild über den Ablauf der Tötungsmaschinerie. Von Cranach, von 1980 bis Sommer 2006 Chef im bayerisch-schwäbischen Bezirkskrankenhaus Kaufbeuren, war der Geschichte seines Hauses während der NS-Zeit nachgegangen. Nach seinen Recherchen hatten die einzelnen Kliniken ihre Kranken nach Berlin zu melden. Dort saßen Gutachter, die zwischen "arbeitsfähig" und "lebensunwert" entschieden.
Cranach: "Die Patienten, die positiv beurteilt wurden, wurden mit Bussen abgeholt, sogenannte graue Busse im Jargon, aus den Kliniken und in sechs eigens eingerichtete Tötungsanstalten gebracht. Man hatte sechs psychiatrische Krankenhäuser geleert von Patienten, die wurden in andere Einrichtungen geschickt und dort hat man dann Räume eingerichtet, die so vielleicht 30, 40 Quadratmeter waren. In diese hat man dann Duschköpfe eingebaut. Die Patienten sollten das Gefühl haben, dass sie geduscht wurden, und in diese Räume wurde Kohlenmonoxid eingeleitet. Der Arzt beobachtete durch ein Fenster das Sterben der Patienten und dann wurden sie im Krematorium verbrannt."
Bis 1941 wurden auf diese Weise 70.000 Patienten umgebracht. Auf mündlichen Befehl Hitlers hörte dann das Morden auf, vorerst. Familien, denen das plötzliche Sterben ihres vorher körperlich kerngesunden Nächsten merkwürdig vorkam, schrieben Protestbriefe, katholische Kardinäle griffen die Machthaber öffentlich an, und selbst SS-Reichsleiter Heinrich Himmler hielt es bei der Stimmung in der Bevölkerung für wenig opportun, mit dem Töten, das sich offenbar doch nicht hatte verheimlichen lassen, fortzufahren.
Mit diesem Kenntnisstand verhandelten die Richter den Ärzteprozess 1946. Daher ist in von Platens Buch nur von den genannten 70.000 Toten die Rede. Erst später kam in Nachforschungen folgendes heraus:
Die Euthanasie-Organisation arbeitete gegen Hitlers Order weiter und zwar bis Kriegsende. Dabei wurden drei Mal mehr Patienten umgebracht als bis 1941.
Hitler hatte in seinem Euthanasie-Erlass von der Tötung "nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranker" geschrieben und zwar nach "kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes". Doch dabei blieb es nicht.
Ricciardi: "Man wusste, dass es keineswegs hoffnungslos Kranke am Ende waren, sondern relativ leicht gestörte Menschen, dass die schwer gestörten, nicht heilbaren, höchstens ein Drittel, wahrscheinlich noch weniger waren, dass diese Menschen, die zum Tode verurteilt waren, abtransportiert waren, genau wussten, was ihnen bevorstand, war die große Tragödie."
Die Angeklagten des Ärzteprozesses waren sich keiner Schuld bewusst. Hedy Epstein, damals Dolmetscherin in Nürnberg, erinnert sich:
"Die haben sich natürlich alle als nicht schuldig erklärt. Reue habe ich nie gesehen oder gefunden. Was tief in ihrem Inneren ist, weiß ich nicht. Ich habe gestern Abend kurz mit Robert Lifton gesprochen…"
Robert Lifton ist Psychiater in Cambridge, USA und hat das Buch "Ärzte im Dritten Reich" geschrieben, das vor acht Jahren auch auf deutsch erschienen ist.
Epstein: "Und er sagt, er glaubt, dass ganz tief innen in ihnen vielleicht nicht alle aber für manche das Gefühl war, sie haben etwas getan, was nicht richtig war, aber wer weiß."
Der langjährige Chef des Krankenhauses Kaufbeuren Michael von Cranach fand in seinen Nachforschungen heraus, dass in seinem Haus 2200 Patienten umgebracht worden sind, die letzten sogar noch im Juli 1945. Die amerikanische Besatzung vor Ort war ahnungslos. Die Soldaten wussten von der Euthanasie nichts und hätten es nicht für möglich gehalten, dass quasi unter ihren Augen die letzten Zeugen der Mordaktion beiseite geschafft wurden. Die verantwortlichen Ärzte mussten sich wohl bewusst gewesen sein, dass sie Verbrechen begangen und nicht nur so genannten "Menschenhülsen" mildtätig den Gnadentod geschenkt hatten.
In ihrem Buch "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" blickt Alice von Platen auch auf die Psychiatrie vor dem "Dritten Reich" zurück, denn erst damit wird erkennbar, warum Ärzte zu Mördern wurden. Danach bekamen angehende Psychiater in der Universität Vorlesungen zu hören, in denen der Wert des menschlichen Lebens unter biologistischem Aspekt bewertet wurde. Dazu fand der Medizinhistoriker Walter Schmuhl später heraus:
Schmuhl: "In den Zwanziger Jahren gibt es eine kleine Revolution in der Anstaltspsychiatrie. Es ist zum ersten Mal, dass Therapieformen entwickelt werden, die greifbare Effekte erzielen. Das ist die Arbeitstherapie wie auch die offene Fürsorge als auch somatische Behandlungsverfahren wie die "Malariakur" und ein Schock- und Krampfverfahren; und da gibt es so etwas wie eine therapeutische Aufbruchstimmung. Aber man kann natürlich nur die frisch Erkrankten erreichen. Die chronisch Erkrankten, gerade die Schizophrenen, die lange Zeit schon in Anstalten sind, dann auch die Menschen mit geistiger Behinderung, die entziehen sich dem Zugriff; und dieser therapeutische Impetus ist so stark, weil er sich auch nicht mehr auf das Individuum richtet, sondern auch auf den Volkskörper, den man reinigen will, da kann man den Einfluss von eugenischem Gedankengut beobachten. Der führt dazu, dass man um den Preis der Vernichtung Heilung herbeiführen will."
Die Psychiatriezukunft sollte sich weiterhin nach dem Reformkonzept der zwanziger Jahre richten. Und die Kliniken sollten dem entsprechend nur jene Patienten behalten, bei denen die neuen Therapien anschlügen. Der unbehandelbare Rest müsste per so genannter Euthanasie ausgelöscht werden.
So genügte vielen Ärzten ein vager Hitler-Erlass, um die Tötungsmaschinerie in Gang setzen zu helfen, die in ihren Köpfen offenbar schon längst vorbereitet war. Davon hatten die US-Ankläger beim Ärzteprozess aber keine Ahnung:
Ricciardi: "Interessant ist in diesem Sinne, dass die Amerikaner immer eine Verantwortungskette konstruieren wollten; sie fragten immer bei jedem Angeklagten: Von wem hatten sie den direkten Befehl? Und die Antwort war immer dieselbe: ’Ja, Befehl war es eigentlich nicht, denn man wusste doch, was gewollt war.’"
Alice von Platen schrieb "Die Tötung Geisteskranker in Deutschland" nach dem Ende des Prozesses. Das Buch erschien 1948, aber es erreichte die Buchhandlungen nicht.
Ricciardi: "Irgendwie ist es vernichtet worden, ob es aufgekauft oder einfach beschlagnahmt war, jedenfalls es ist sicher vernichtet worden, aber nicht ganz so gründlich wie Mitscherlichs erstes Buch, denn immer wieder taucht im Internet ein Exemplar auf. Interessierte Menschen können sich das Original immer noch besorgen, also es müssen an die 100 Exemplare oder vielleicht sogar etwas mehr überlebt haben."
Später hat Rezensent Helmut Sörgel nachrecherchiert:
"Die 3000 Exemplare – der Erstausgabe – wurden sehr schnell eingezogen, etwa zwanzig Exemplare überdauerten in Bibliotheken."
Alexander Mitscherlich, der Leiter der Beobachtergruppe im Ärzteprozess, hatte ebenfalls zwei Dokumentationen zum Thema herausgebracht, "Wissenschaft ohne Menschlichkeit" und "Das Diktat der Menschenverachtung". Beide Bücher waren ebenfalls in hoher Auflage gedruckt worden.
Ricciardi: "Das erste Buch von Mitscherlich, schon 1947 herausgekommen in einer großen Zahl, ist nie unter die Ärzte gekommen. Die Redakteure der ärztlichen Zeitschriften haben sich geweigert, geschichtliche Fragen zu bearbeiten: "Wir sind für die Forschung und die neuen Dinge da und nicht für alte gewesene Situationen". Mitscherlich hat es in einigen Zeitschriften in der Schweiz untergebracht, in deutschen Zeitschriften war es beinahe unmöglich."
Unter dem Titel "Ärzte ohne Gewissen" konnte Mitscherlich die Dokumentationen schließlich 1960 veröffentlichen, dann auch mit großem Erfolg. Aber 1947 wollte vor allem in der organisierten Ärzteschaft niemand etwas davon wissen, im Gegenteil, Mitscherlich wurde als Nestbeschmutzer und "unbotmäßiger Privatdozent" beschimpft. Zum Beispiel auch und gerade von dem berühmten Chirurgen Ferdinand Sauerbruch:
Ricciardi: "Er ist ja auch namentlich in Mitscherlichs Buch zitiert worden, weil er in den amerikanischen Gerichtsdokumenten, er und Heubner, vorkam und dann haben sie Mitscherlich wegen Zitieren ihres Namens gerichtlich verklagt, und da ist es auch zu einem Vergleich gekommen. Heubner und Sauerbruch haben das weiter betrieben: "Nestbeschmutzer" etc.. Das hat es eine lange Geschichte gegeben, bis Mitscherlich endlich freigesprochen wurde, und ein Satz aus seinem Buch musste gestrichen werden."
Nach dem Untergang des NS-Reiches hatten sich die Ärzte auf die folgende Sprachregelung geeinigt: die Euthanasie-Morde gehen auf einige wenige Ärzte zurück, vor allem junge und unerfahrene, die vom Nationalsozialismus fanatisiert gewesen seien. Die große Mehrheit der Mediziner hingegen habe davon nichts gewusst. Dabei hatte damals selbst die blutjunge Ärztin Alice von Platen während ihrer Zeit als Landärztin vom mysteriösen Verschwinden geistig Kranker in den Anstalten Wind bekommen, ohne freilich Näheres darüber zu erfahren. Das wurde ihr erst im Ärzteprozess erschreckend bewusst und war dann das Hauptmotiv für ihr Buch.
Ricciardi: "Ich arbeitete von 1942 bis 45 als Landarzt, zuerst in Bayern und dann in Österreich, und hatte eine Erfahrung über die Landbevölkerung und versuchte, wenn Patienten zu mir kamen, die sagten, die hätten Angehörige, in Instituten für psychisch Kranke, was sollten sie tun, ich nur sagen konnte: Genaues weiß ich nicht, ich habe von Todesfällen gehört, nehmen Sie ihre Verwandten so schnell wie möglich weg und ab und zu habe ich auch Briefe schreiben können: ’Für den und den Patienten wäre Platz bei seiner Familie’. Meistens war es erfolglos, entweder war es zu spät, sie waren schon abtransportiert oder es wurde gesagt, nein, dieser Patient kann nicht entlassen werden, denn die Todesanzahl in den Anstalten, die Prozentzahl, die umgebracht werden sollten, musste erfüllt werden."
Euthanasie als mörderischer bürokratischer Vollzugsakt. Kein Wunder bei einer Ärzteschaft, der von Platen in ihrem Buch nachgewiesen hatte:
Ricciardi: "Die Hälfte der deutschen Ärzte war bis 1945 Mitglied der NSDAP; eine viel höhere Prozentzahl als in anderen staatsnahen Berufen. Von jüngeren Ärzten waren viele in der SS gewesen."
Den Grund dafür findet Alice Ricciardi von Platen einmal darin, dass viele junge Leute völlig desorientiert aus dem Ersten Weltkrieg zurückgekommen und danach arbeitslos waren, und zum anderen in dem damals schwelenden Antisemitismus in Deutschland.
Ricciardi: Die jungen Ärzte fanden keine Arbeit. Sie fanden eine Ärzteschaft, wo viele wohl etablierte, glänzende jüdische Kollegen waren, und es war sehr wenig Platz, sie kriegten keine Kassenzulassung, es ging ihnen finanziell sehr schlecht/Da dann die Elimination der jüdischen Rasse und der jüdischen Kollegen gepredigt wurde von den Nationalsozialisten, sahen sie ihre Chance und ergriffen sie auch sehr gerne.
Bei den juristischen Aufarbeitung des Nationalsozialismus kamen die meisten der Mörder-Ärzte ungeschoren davon. Davon ist im Buch von Platens nichts zu lesen, denn das ist Nachkriegsgeschichte nach dem Erscheinungsjahr 1948.
Ricciardi: "Ab ungefähr der 80er Jahre fing es an, Anfragen: ‚Wo ist Ihr Buch, wie kriegt man Ihr Buch’, und dann habe ich Teile meines Buches, Kapitel fotokopieren lassen, herumgeschickt, und dann schließlich haben sich einige Ärzte zusammengetan: wir werden einen Verlag suchen, bei einem kleinen Kongress, den wir in der Schweiz abhielten. Da sagte ein Schweizer: Wenn Sie 10.000 Fränkli zahlen, dann drucken wir es sofort. Dann sagte ich "nein, die habe ich nicht", und kurz hinterher kam die Möglichkeit, die Wiederauflage im Psychiatrieverlag. Sie sagten, wir wissen, es wird kein Geschäft für uns sein, aber es ist ein Klassiker, das muss wieder aufgelegt werden, und dann wurde es ein Geschäft/ Drei Auflagen hat es im Psychiatrie-Verlag bekommen und dann hat es jetzt der Mabuse-Verlag übernommen, und, wie ich gestern Abend gesehen habe, geht mein Buch ab wie warme Semmeln."
"Von 1980 an wurde dieses Buch nach Form und Inhalt zum Prototyp für eine Flut von Büchern und Aufsätzen, die sich bemühten, insbesondere die NS-Psychiatrie-Verbrechen inzwischen fast jedes psychiatrischen Krankenhauses und fast jeder Einrichtung für geistig Behinderte und fast jeder Region des Deutschen Reiches zu rekonstruieren. Plötzlich war möglich geworden, was jahrzehntelang alle Älteren die Augen geblendet und die Kehle zugeschnürt hatte. Die wenigen Exemplare des Buches wurden jetzt mühsam gesucht, der kollektiven Verdrängung entrissen."
Schrieb Klaus Dörner, der selbst der älteren Generation der Psychiater angehört, zur Neuauflage 1993.
Den Beginn mit der Aufklärung eines der schlimmsten Kapitel der Medizin in Deutschland gemacht zu haben, ist das Verdienst eines Journalisten: Ernst Klee. Mit seinen Büchern "Euthanasie im NS-Staat" und "Dokumente zur Euthanasie" zog er ab 1983 vor allem die Aufmerksamkeit einer jüngeren Generation auf sich, die in den so genannten 1868-er Jahren studiert und als erste gewagt hatte, ihrer Elterngeneration den Spiegel ihrer NS-Vergangenheit vorzuhalten, den die bislang so erfolgreich verdrängt hatte.
Danach kam das verschwiegene Grauen in den Psychiatrieanstalten des "Dritten Reiches" nach und nach zu Tage, befördert auch durch so unerschrockene Ärzte wie Michael von Cranach, der das lastende Schweigen in der Klinik, die er gerade übernommen hatte, spürte. Er hatte das Buch von Alice von Platen wie viele andere erst in den neunziger Jahren in die Hände bekommen. Ein Buch, von dem Klaus Dörner schreibt:
"Die heutige Lektüre des Buches zeigt, dass fast alle grundlegenden Gedanken zur Erklärung der psychiatrischen NS-Verbrechen schon 1948 gedacht und ausgesprochen waren, offenbar historisch zu früh, sodass wir ab 1980 oft dieselben Erklärungsansätze wieder finden mussten – jetzt freilich mit einer größeren Resonanz und Bereitschaft, sich ihnen auszusetzen."
Heute können die Verbrechen der NS-Zeit ziemlich frei der Öffentlichkeit vorgeführt werden. Widerstand rührt sich nicht mehr, denn die Täter liegen mittlerweile alle unter der Erde.
Die so genannte Euthanasie, so schrieb Alice Ricciardi von Platen ins Vorwort zur Neuauflage, ist nicht Geschichte. Sie kehrt heute wieder, wenn auch in anderem Gewand, und damit blickt die 96-Jährige fast seherisch in eine offene Zukunft.
Ricciardi: "Im Kampf gegen Erbkrankheiten wird jetzt oft von der Möglichkeit gesprochen, durch Gen-Manipulation die Betroffenen von ihrer Krankheit zu befreien; es ist sicher verfrüht, über dieses an sich segensreiche Vorgehen zu urteilen. Es erhebt sich aber sofort die Frage, wie weit diese Wissenschaft gehen wird, um den Wunsch nach dem idealen Menschen zu erfüllen. Werden Erbkranke zwangsweise bürokratisch "erfasst"? Welche Aussicht auf Hilfe und Verständnis werden Verkrüppelte haben? Wird ein völlig gesunder Standard-Mensch das neue Ideal werden?"