Liste der angesprochenen Buchtitel:
"Kaltenbruch" von Michaela Küpper, Droemer Verlag 2018, 368 Seiten, 19,99 Euro.
"Operation Bird Dog" von Jan-Christoph Nüse, Gmeiner Verlag 2018, 420 Seiten, 15,00 Euro.
"Trümmerkind" von Mechthild Borrmann, Droemer Verlag 2017, 304 Seiten, 19,99 Euro.
"Der achte Zwerg" von Thomas Ross, Alexander Verlag 2011, 352 Seiten, 16,00 Euro.
Faszination Nachkriegszeit
Das Interesse an der Nachkriegszeit in der Literatur steigt - auch im Krimi. Genre-Experte Ulrich Noller hat sich durch solche Trümmergeschichten gelesen und ist auf spannende Aspekte gestoßen: Die darin verhandelten Traumatisierungen reichen bis in die Gegenwart.
Frank Meyer: Morgen erscheinen zwei Kriminalromane, die in die deutsche Nachkriegszeit führen. Schon wieder neue Nachkriegsromane, kann man da sagen. Denn solche Bücher, solche Trümmerkrimis, die werden zurzeit viel geschrieben und viel gelesen. Und warum es so ein Interesse gibt an der Nachkriegszeit und wie davon erzählt wird, das schauen wir uns jetzt an, mit meinem Kollegen Ulrich Noller, denn der hat sich durch die Trümmerkrimis gelesen. Hallo Herr Noller!
Ulrich Noller: Guten Morgen!
"Trümmerkrimis" boomen
Meyer: Seit wann gibt es denn überhaupt diesen Boom der Trümmerkrimis?
Noller: Man kann sagen, dass es in den letzten drei, vier, fünf Jahren regelrecht zu einem Boom geworden ist. Erste Vorläufer sind erschienen so vor zehn, zwölf Jahren, insbesondere nicht nur im Krimi, sondern im weitesten Sinne in der Unterhaltungsliteratur. Also Geschichten, die im weitesten Sinne in der Nachkriegszeit angesiedelt sind, häufig Trümmerlandschaften auch zum Thema haben und aus diesen Landschaften heraus erzählen. Das ist im Grunde genommen so ein Thema, wo so die ersten Tage, Wochen, Monate und Jahre der Bundesrepublik Deutschland durchleuchtet werden. Thema nicht nur in der Kriminalliteratur, wo es mit einem anderen Trend Koinzidenzen hat, nämlich den zum zeitgeschichtlichen Krimi, sondern auch durchaus in anderen Genres.
Ich kann ein paar Beispiele nennen. Wenn sie auf die aktuelle Bestsellerliste gucken, der Roman "Olga" von Bernhard Schlink geht im weitesten Sinne in diese Richtung. Oder es gab einen riesigen Überraschungsbestseller, der sich bald über ein Jahr ganz oben hielt, "Altes Land" von Dörte Hansen. Oder auch Carmen Korn, eine Autorin aus Hamburg, die so eine Jahrhunderttrilogie mit mehreren Protagonistinnen erzählt. Da ist jetzt auch wieder "Zeiten des Aufbruchs" ganz oben. Also man sieht, das ist ein wirklich sehr großes Thema.
Eine Art Identitätskrise
Meyer: Und wie erklären Sie sich das? Warum gibt es so ein Interesse an dieser deutschen Nachkriegszeit?
Noller: Ich glaube da kommen mehrere Aspekte zusammen. Zum einen ist es ja so, dass man momentan sagen kann, dass Deutschland so eine Art Identitätskrise durchläuft, angesichts der vielen krisenhaften Symptome in der gesellschaftlichen und politischen Ordnung. Da entstehen natürlich so Fragen. Wer sind wir? Wo kommen wir her? Was sind die Prägungen, die wir haben?
Zum anderen ist es aber auch so, dass die Kriegskinder alt werden. Und die Erinnerungsstrukturen ändern sich, wenn man älter wird. Man denkt wieder mehr an Geschichten aus der früheren Lebensphase, aus der Kindheit und Jugend. Das habe ich selbst festgestellt in vielen Interviews, die ich in diese Richtung geführt habe, dass da einfach eine Öffnung stattfindet.
Und dann ist es als Drittes auch noch so, dass man über das Thema Vertreibung heute ganz anders erzählen kann, als das vielleicht vor 10 oder 20 Jahren möglich war, wo es ja stark tabuisiert war, wo auch eher ideologische Positionen eine Rolle spielten. Heute kann man eben auch von dem Thema Vertreibung als einem Subthema der Zeit des Zweiten Weltkrieges und danach erzählen, ohne irgendwelche Befangenheit. Und da kommen eben sehr viele Geschichten.
Die Linie vom Damals ins Heute
Meyer: Und wenn Sie sagen, die Kriminalliteratur ist da eigentlich vorangegangen auf diesem Gebiet – wer sind da die wichtigsten Autoren, die wichtigsten Bücher der letzten Jahre?
Noller: Also ein Autor, der mir direkt einfällt, ist jemand namens Harald Gilbers. Er hat einen Kommissar, eine Figur eines Kommissars erfunden, Oppenheimer* heißt der, der in den letzten Kriegswochen ermittelt und dann in der Nachkriegszeit. Das Interessante daran ist, dass dieser Oppenheimer* Jude ist, was die ganze Geschichte natürlich besonders prekär macht, und am Ende des Krieges im Auftrag der untergehenden Machthaber sozusagen ermittelt.
Also das ist sehr dezidiert, wie hier aus einer speziellen Perspektive die Zeitgeschichte gespiegelt wird. Sehr erfolgreich ist auch, und für mich persönlich auch überzeugend, die Autorin Mechthild Borrmann. Sie hat auch einen beeindruckenden Roman geschrieben, der jetzt als Taschenbuch erschienen ist, der das schon im Titel trägt sozusagen, dieses Thema. "Trümmerkind" heißt er. Der ist im Dezember als Taschenbuch rausgekommen. Und so ein Roman – ganz typisch übrigens – der einerseits vom Damals erzählt und Identitätsfragen beruhend auf der Nachkriegszeit thematisiert, direkt in Trümmerlandschaften hineinführt, aber andererseits auch eine gegenwärtige Linie hat.
Das ist zum Beispiel auch bei Dörte Hansen und ihrem Roman "Altes Land" so, wo jemand aufgrund irgendwelcher Umstände gezwungen wird, in die Vergangenheit der Familie zurückzublicken. So wird das Gestern mit dem Heute gewissermaßen zusammengebracht.
Die relevanten Themen der Nachkriegszeit
Meyer: Und wenn wir auf die neuen Bücher schauen, ich habe es ja schon gesagt: Zwei neue Trümmerkrimis erscheinen gerade dieser Tage. Morgen kommen die raus. Unter anderem "Kaltenbruch" von Michaela Küpper. Worum geht es denn in diesem neuen Trümmeroman?
Noller: In diesem Roman wird ein Mordfall erzählt, zu dem dann noch ein zweiter hinzukommt, der sich in dörflicher Umgebung in der rheinischen Provinz ereignet hat. An einem Stand, an dem Erdbeeren verkauft werden, irgendwann Ende der 40er-Jahre, an einer Landstraße, wird ein Bauerssohn erschlagen aufgefunden. Eine abgelegene Gegend, die Kripo Düsseldorf muss weit fahren, um dort hinzukommen und muss diesen Mordfall ermitteln. Das wird dann so einerseits ein klassischer Ermittlerkrimi, Polizeikrimi. Und andererseits ist es auch ein Dorfroman, der multiperspektivisch erzählt wird, also aus der Sicht verschiedenster Protagonisten. Und so entsteht, finde ich, ein wirklich detailliertes gesellschaftliches Panoptikum dieses Dorflebens. Das Dorf ist sozusagen die Bühne, in der die Nachkriegszeit aufgeführt wird. Das Ganze ist sehr exakt gearbeitet, zum einen im Detail. Die Autorin versucht nah ranzukommen über diese Erzähler, die sie hat. Andererseits – und da merkt man, dass sie Soziologin ist, die sich auch mit dem Thema beschäftigt hat – hat sie so einen Blick von oben und thematisiert alle möglichen Themen, die so relevant sind in dieser Zeit der Nachkriegszeit.
Die Traumatisierungen der Kriegskinder
Meyer: Und welche sind das, die sie da besonders in den Blick nimmt?
Noller: Was mir besonders aufgefallen ist: Zum einen das Thema, wie Flüchtlinge, aus dem Osten, Vertriebene, wie die behandelt werden von den Einheimischen, nämlich wirklich extrem schäbig. Und das sind ja nicht wie heute Flüchtlinge aus aller Herren Länder, wo man vielleicht noch irgendwie nachvollziehen kann, dass es Berührungsängste gibt, sondern das sind Deutsche, die einfach aus anderen Teilen des Landes kommen, aber wirklich behandelt werden, als wären sie der letzte Dreck. Das deckt sich übrigens auch mit Erzählungen, die mir zu Ohren kamen in den Interviews, die ich geführt habe zu diesen Themen. Das kennt man auch aus anderen zeithistorischen Krimis, diesen Trümmerkrimis. Aber hier wird das sehr deutlich rausgearbeitet, finde ich.
Zum anderen ist ein wichtiges Thema die Wirkung dieser Kriegskindtraumatisierungen, die sich ereignet haben während dieser Zeit. In der Gesellschaft an sich ist es ja schon wirklich ein prominentes Thema gewesen in den letzten Jahren. Zum Beispiel die Publizistin Sabine Bode hat dazu viel gearbeitet und viele Interviews geführt, Gespräche aufbereitet und so weiter und so fort, um die Wirkungen zu dokumentieren. Und bei Michaela Küpper und ihrem Roman "Kaltenbruch" finde ich, ist das so ein ganz zentrales Motiv, das rauszuarbeiten, zu zeigen, was damals wie passiert ist und wie das die Menschen – speziell die kleinen Menschen – geprägt hat, was sie erlebt haben.
Die einen verlieren, die anderen gewinnen
Meyer: Und der zweite Nachkriegskrimi, der morgen neu auf den Markt kommt, der heißt "Operation Bird Dog" von Jan-Christoph Nüse. Diese Operation hat zur Währungsreform in Deutschland gehört, im Jahr 1948. Wie erzählt denn Jan-Christoph Nüse von dieser Operation in der Währungsreform?
Noller: Also er erzählt einerseits als Gesellschaftsroman und andererseits auch als Politthriller. Das war ja eine wirklich sehr brisante und hochgeheime Aktion, die da stattgefunden hat. Das Geld für die Währungsreform wurde in den Vereinigten Staaten gedruckt und in einer Kommandoaktion hierher gebracht und dann eben verteilt, gewissermaßen. Da gibt es natürlich Begehrlichkeiten, die geweckt werden können. Es gibt Menschen, die verlieren, es gibt Menschen, die gewinnen können.
Und das erzählt er sozusagen auf zweierlei Ebenen. Zum einen gibt es einen jungen Mann, der in den 50er-Jahren herausfinden möchte, warum seine Eltern einen gemeinschaftlichen Selbstmord begangen haben, dem er selbst nur knapp entgangen ist. Also er hat dann das Internat bestanden, hat dann eine Lehre gemacht. Der kommt dann zurück in seinen Heimatort. Der Vater, das muss man dazusagen, der war Bankier. Und der hatte mit dieser Währungsreform zehn Jahre vorher zu tun. Zugleich gibt es noch so unmittelbare Einblicke in die Zeit vor, während und nach der Währungsreform. Und da wird speziell auch ein Blick geworfen auf ehemalige SS-Kdader, die sich wieder formieren und die so ihre ganz eigenen Interessen haben. Die auch davon träumen, dass die nationalsozialistische Ordnung wiederhergestellt werden kann und da ziemlich umtriebig sind. Und die brauchen Geld, um ihre Unternehmungen zu finanzieren. Das ist dann sozusagen die zweite Ebene, und natürlich kommen beide zusammen.
Entwicklung zum Politkrimi und Spionageroman
Meyer: Und sagen Sie uns zum Schluss bitte noch kurz, diese neuen Trümmerkrimis, die jetzt auf den Markt kommen, zeigen die eine Entwicklung, nehmen die anderes in den Blick, als die ersten Bücher, die vor einigen Jahren auf diesem Gebiet erschienen sind?
Noller: Zum einen ist es so, dass man stärker auf so politische Themen auch guckt, wie zum Beispiel diese Operation Bird Dog. Es gibt so eine kleine Entwicklung hin zum Politkrimi, Spionageroman. Das ist das eine. Das andere ist das, was ich schon kurz andeutete vorhin, dass es immer stärker so eine Fokussierung gibt auf diese Traumatisierungen, die sich in der Kriegszeit ereignet haben, auf ihre Wirkung, und dann natürlich auch in Bezug auf Identitätsfragen, die bis heute hinreichen. Das finde ich beides sehr spannend.
Meyer: Die Nachkriegszeit – der neue Lieblingsstoff der Deutschen. Herzlichen Dank an Ulrich Noller!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
*Unser Interviewpartner hatte sich im Gespräch versprochen und als Namen Kommissar Rosenthal genannt. Wir haben dies online nachträchlich korrigiert.