Stralsund 25. April 1960.
Brigadeverpflichtung der Rübenerfasser für den Titel "Brigade der sozialistischen Arbeit"
Wir wollen sozialistisch arbeiten:
a) Erfüllung und Übererfüllung der Planaufgaben in der Marktproduktion muss der Maßstab für unsere Arbeit sein.
b) Unsere LPG und VEG mit dem technisch-wissenschaftlichen Fortschritt im Rübenbau vertraut machen.
c) Wir wollen mithelfen, alle gesellschaftlichen Kräfte des Dorfes für die Rübenpflege zu mobilisieren. Dabei denken wir besonders an die Bildung von Hausfrauenbrigaden.
d) Jedes Mitglied der Brigade muss darum kämpfen, planmäßig die Rüben zur Fabrik zu schaffen, damit die Tageskapazität der Fabrik gesichert ist. Die letzte Rübe muss erfasst und zu Zucker verarbeitet werden.
"Diese Erfahrungen möchte ich nicht entbehren"
30:21 Minuten
Brigaden spielten im DDR-Alltag eine wichtige Rolle. Für viele Menschen waren sie eine zweite Heimat – gemeinsam arbeiten, feiern, verreisen. Die Widersprüche zwischen Ideal und Wirklichkeit hat die Schriftstellerin Brigitte Reimann aufgespürt.
Zu den schweren Fehlern nach der Wiedervereinigung gehört das Desinteresse des Westens an den Lebensverhältnissen in der ostdeutschen Republik vor 1989. Manche Wut bei älteren Menschen speist sich heute aus dieser Missachtung ihres gelebten Lebens. Dabei gab und gibt es viel zu erzählen.
Was stiftete die Geborgenheits- und Zusammengehörigkeitsgefühle, die viele nach 1989 schmerzlich vermisst haben? Dazu haben wesentlich die Brigaden in den Betrieben beigetragen.
Sie waren zwar auch Überwachungsinstrumente der Partei – und doch eine eigene Welt. Literarisch verarbeitet von einer der herausragenden Schriftstellerinnen der DDR, Brigitte Reimann.
"Ich war in der Vormontage"
"Ich heiße Edeltraud Griebe, ich bin 74 Jahre alt, habe 40 Jahre als Kranfahrerin auf der Volkswerft gearbeitet von 1967 bis 2007. Und dann die ganzen Jahre Drei-Schicht-System. Immer. Ich war in der Vormontage, das heißt, wenn das Schiff gebaut wird, die einzelnen Sektionen, so wie ein komplettes Zimmer. Ich habe erst einen Hallenbrückenkran gefahren, Hub 25 Tonnen waren das nur, aber das hat sich dann immer gesteigert. Da wurde eine große Halle gebaut, da konnten wir schon das ganze Vorschiff bauen, damals für die Supertrawler. Für die Sowjetunion haben wir ja sehr viel gebaut."
"Mein Name ist Jörn Böttcher, ich bin geboren 1943 und war mein Leben lang in der Zuckerindustrie der DDR tätig. Ich hatte nach dem Abitur in der Zuckerfabrik in Bernburg Zuckerfacharbeiter gelernt. Das war in der DDR üblich, dass man vor der Aufnahme eines Studiums den Facharbeiterbrief erwerben musste. Ich habe mich dann an der Humboldt-Universität in Berlin als Diplomingenieur für Zuckertechnologie beworben. Und bin dann ins Oderbruch, leitend tätig geworden zum ersten Mal in der Zuckerfabrik Letschin. Ich war nicht in der Partei, obwohl die Bemühungen der Genossen sehr groß waren, mich dahin zu bringen."
So beschreibt der Maler Dieter Dreßler seine erste Begegnung mit der Schriftstellerin Brigitte Reimann im Kombinat "Schwarze Pumpe" in Hoyerswerda:
"In seiner Meisterbude fragte ich Brigadier Hanke nach Frau Reimann. Sie hatte gerade ihren Produktionstag. Hanke trat aus seiner Bude heraus, ein schriller Pfiff, eine zwingende Armbewegung, im Hintergrund löste sich eine weibliche Gestalt von einem riesigen Stapel Mannesmann-Röhren und kam hinkend auf uns zu. 'Das ist sie', sagte Hanke und verschwand wieder in seiner Bude."
Und Dreßler weiter: "Die Reimann erschien erschöpft, war von oben bis unten verkrustet von Dreck, Fett und Rost. Ihr Pferdeschwanz sah wie der gewichste Zopf eines preußischen Korporals aus. Unter dem Schmierfett-Make-Up ein Lächeln. Eine fast knabenhafte Figur, ein knallroter Pullover, dreckig,.., die Latzhose zu voluminös, die Arbeitsschuhe zu groß. Ein Lächeln ihrer Mandelaugen. Wie ein Kumpel griff sie zum blauen Schutzhelm: 'Tag, Sie wünschen?' Ich stellte mich vor und fragte: 'Können wir uns irgendwo treffen?' In einem angenehmen dunklen Vibrato kam es zurück: 'Klar, nach der Schicht im Glück Auf.'"
Begeistert von den Idealen der jungen DDR
Begeistert von den Idealen der jungen DDR und dem Wunsch, kulturpolitisch Einfluss zu nehmen, zog Brigitte Reimann 1960 mit ihrem damaligen Ehemann, dem Schriftsteller Siegfried Pitschmann, in die neu erbaute Stadt. Sie arbeitete in der "Brigade 10. Jahrestag" unter Rohrlegern und Schweißern, fand in der Produktion den Stoff für viele ihrer Bücher, vor allem "Ankunft im Alltag" und "Franziska Linkerhand".
Sie wurde konfrontiert mit den Konflikten und Problemen der DDR. Ihre offenen und kritischen Beobachtungen stießen oft auf Widerstand. Eine ihrer Aufgaben war die Leitung des "Zirkels schreibender Arbeiter".
"Von 20 Eingeladenen waren vier erschienen; keine Potenzen, nehme ich an. Nur der kleine Volker Braun, Abiturient und seit vier Jahren in der Produktion, scheint begabt zu sein", schreibt sie.
Edeltraud Griebe erzählt: "Zu uns gehörten drei Hallen zu einer Abteilung, das war Schiffbau Vormontage, und diese Kranfrauen, wir waren manchmal ungefähr 20 Kraninen in einer Abteilung. Wir waren so hundert Leute in einem Gewerk. Wir hatten immer zwei Meister und dann von den Anschlägern war immer einer, der das Sagen hatte, Brigadier oder was weiß ich. Die Meister haben die Schichtpläne gemacht für drei Schichten, jeder Kran wurde ja besetzt."
Jörn Böttcher erinnert sich: "Das war 68, als ich anfing, 1969 wurde ich schon Produktionsleiter in der Fabrik. Der Verantwortliche für die gesamte Technik. Dann kam auf, dass man sozialistische Brigaden bilden muss für die Messe der Meister von Morgen. Das waren Jugendbrigaden. Ich war ja noch ein junger Mensch, ich war auch erst 25, und da scharte ich die Leute, die mir interessiert vorkamen, hatte dann fünf, sechs junge Leute um mich und haben für eine Ausstellung der Messe der Meister von Morgen ein Modell gebaut: Was in der Zuckerindustrie notwendig war, was eine Verbesserung darstellte."
Und Jörn Böttcher weiter: "In den Jugendbrigaden wurden Höchstleistungen forciert. Das waren oft von der Partei initiierte Geschichten, und da wurde gesagt, du nimmst den und den, das waren meist Genossen und dann macht ihr mal was ganz Tolles, indem ihr an dem Tag die Norm überbietet, besondere Qualitätserzeugnisse herstellt, um zu zeigen, was die Partei alles drauf hat. Das hat man alles dann auch durchschaut."
Oben auf dem Kran wurde erst mal eine Flasche geleert
Edeltraud Griebe: "Was weiß ich, was es da alles gab, Fünfjahresplan und Siebenjahresplan, Sozialismus – und Kapitalismus taugt nichts, fürchterlich. Aber das muss ich erzählen, das war lustig. Da war bestimmt wieder so eine Vorgabe vom Politbüro. Von unseren drei Schichten wurde eine Schicht Jugendbrigade gebildet, es waren aber auch schon ältere Damen bei, und diese Jugendbrigade sollte besonders sein. Ich war da nicht drin, und die hatte aber die größten Schnitzer gemacht. Unter den Kranfahrern wurde auch getrunken, gerade in dieser Jugendbrigade. Wir hatten in dieser Halle neun, 98 Stufen war die Treppe hoch. Vier Krane waren da und die Frauen standen oben und haben erst mal eine kleine Flasche leer gemacht. So was gab es auch. Und das war dann die Jugendbrigade."
"Das Abenteuer Schwarze Pumpe rückt uns auf die Haut und ich fürchte, wir sind ihm nicht gewachsen", heißt es bei Brigitte Reimann.
Jörn Böttcher erzählt: "Freiwillig war eigentlich wenig. Wenn der entsprechende Leiter sich in seinem Bereich äußerte, wir sollen jetzt sozialistische Brigaden bilden, wer von euch macht den Brigadeleiter? Da hat keiner geschrien: ‚Hier, ich! Sondern der Meister, der Diplomingenieur oder der Diplomökonom hat dann schon Vorschläge gemacht: So wurde Stück für Stück eine Brigade aus dem Nichts geschaffen. Denken Sie ja nicht, dass diese Brigaden ganz große Leistungen vollbracht haben, das sollten sie auch nicht. Es sollte sicherlich auch das Auge der Partei wachen darüber, was gesprochen wird."
Die Brigade – ein militärischer Begriff
Brigade ist ursprünglich ein militärischer Begriff und geht auf den Schwedenkönig Gustav Adolf II. zurück, der 1630 eine neue Schlachtordnung seines Heeres aufstellte, um eine bessere Übersicht zu behalten. Demnach bezeichnet man eine Brigade als kleinsten Großverband des Heeres, auch heute weiterhin geläufig.
"Unser Ziel muss es sein, bis zum Ende des Fünfjahrplans die überwiegende Masse der Produktionsarbeiter in Arbeitsbrigaden zu organisieren, den Geist der Aktivisten auf die Masse der Brigademitglieder zu übertragen, durch die kollektive Arbeit in den Brigaden und die mit ihr verbundene Erziehung zu kollektiver Verantwortung die individualistischen und Einzelgängertendenzen zu zerschlagen und die Brigade als Zelle zur vollen Entfaltung der schöpferischen Kräfte der Arbeiter zu machen."
So äußert sich Rudi Kirchner 1950, stellvertretender Vorsitzender des FDGB, des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. Sozialistische Brigaden nach sowjetischem Vorbild prägten den Arbeitsalltag, als kleinste Arbeitsgruppe in allen staatlichen Betrieben der DDR, in Produktionsgenossenschaften des Handwerks und in Verwaltungen, die eine Aufgabe im Produktionsprozess hatten.
Um die Wirtschaftskraft der DDR zu steigern, standen sie im Wettbewerb um den Titel "Brigade der sozialistischen Arbeit" unter dem Motto: Wir wollen sozialistisch arbeiten, leben und lernen. Bereits Ende 1950 waren 663.000 Industriearbeiter in rund 98.000 Brigaden organisiert.
Den Widersprüchen auf der Spur
Brigitte Reimann spürt die Widersprüche zwischen dem Ideal – ihrem Ideal – und der Realität:
"Ich fand das Heldentum, das ich erwartet hatte, in ihrer Arbeit, in den acht oder mehr Stunden in der Werkhalle oder auf dem Gelände. Allmählich merkte ich aber, dass viele nicht über ihre Lohntüte hinausblickten, …dass Tüftler, von denen ich glaubte, sie opferten ihre Abende um der Sache willen, in Wahrheit auf den materiellen Gewinn spekulierten, dass auf Versammlungen anders geredet wurde als unter vier Augen."
Als Ansporn gab es Auszeichnungen und Geldprämien, die für Brigadeausflüge oder Feiern genutzt wurden. Blättert man heute in Brigadebüchern, überrascht die Sorgfalt und zum Teil sehr liebevolle Gestaltung der Ereignisse. Kritik an den Arbeitsprozessen – kaum.
Es gab Patenbrigaden für Schulklassen und Brigaden in der Pionierorganisation. "Sozialistisches Kollektiv": Diesen Begriff fand man eher an den Schnittstellen von Erziehung und Bildung, in Schulen, Kindergärten, Archiven, im Gesundheitswesen. In der Realität war das Kollektiv keine revolutionäre Zelle, in der sich der neue Mensch entfaltete.
Brigitte Reimann schreibt: "Was mich am meisten befremdete; dass die Wünsche und Ziele sich bei vielen in der Ansammlung von unerlässlichen Requisiten eines gehobenen Lebensstandards erschöpften. Der Fernsehapparat muss sein, der Kühlschrank auch, als Krone des Ganzen der Trabant. Wie ist es möglich, dass Menschen, die im Betrieb Aktivisten und Neuerer sind, zu Haus die Filzlatschen anziehen und sich begnügen? Die Ursache für diese Zwiespältigkeit muss ich noch ergründen."
"Den Menschen haben die total gebrochen"
Edeltraud Griebe erzählt: "Was ich noch einmal weiß: Wir hatten einen Schweißer, das war so ein netter Kollege, und man konnte so schön über den lachen, das gab es gar nicht. Da haben die den in der Nacht abgeholt, da hat der nur irgendwie was Politisches gesagt, gar nicht mal schlimm, nur so eine Beleidigung für irgend einen politischen Macher, der wurde inhaftiert und über ein Jahr später kam der erst wieder. Und dieser Mensch, dieser lustige, lebensfrohe Mensch, der war fertig, der hat nicht mehr Muh und Mäh gesagt, der hat dann auch gekündigt, hat sich andere Arbeit gesucht, hatte auch Familie zwei Kinder. Aber den Menschen haben die total gebrochen. Da konnte man sehen, was die Stasi gemacht hat. Und sein Meister war ein großer SED-Bonze, der muss ihn da angeschissen haben."
Der Umgang der Staatssicherheit mit einem geschätzten Kollegen war kein Thema, über das man offen reden konnte. Wirksamen Schutz vor dem Zugriff des Staates bot die Brigade nicht; im Gegenteil. In allen Betrieben hatte die Stasi ein Netz von informellen Mitarbeitern. Diese berichteten regelmäßig über die eigenen Kollegen.
Trotz alledem – die Brigade stiftete Gemeinschaftsgefühl und Gemeinschaftssinn.
Angelika Balzer kam nach ihrem Studium der Agrarwissenschaften 1984 in die LPG Pflanzenproduktion Bagemühl in der Uckermark.
"Als wir hier angekommen sind, war das Haus noch nicht ganz fertig, standen mit voll bepackten Möbelwagen hier und mussten improvisieren, hatten aber gleich Hilfe. Wir konnten gleich in der LPG frühstücken und mittagessen. Das gab es alles gratis, das war natürlich toll. Da haben sie gleich Handwerker abgestellt, die uns noch beim Abladen geholfen haben, das war doch früher gang und gäbe, dass man dem anderen geholfen hat ohne Gegenleistung, ohne Bezahlung oder irgendwas. Wir haben dann einen Kasten Bier hingestellt, so war das eben früher.
Heute ist sie noch immer in der Landwirtschaft tätig, hat nach 1989 gemeinsam mit einem Kollegen die LPG mit ehemals 260 Mitarbeitern in eine eingetragene Genossenschaft überführt, mit damals 40 Mitarbeitern. Heute arbeiten dort noch zehn Leute.
"So eine LPG hat das dörfliche Leben gestaltet"
Angelika Balzer hat sich 2000 zur Selbstständigkeit entschieden und mit drei weiteren Gesellschaftern eine GbR gegründet. Auch die Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften der DDR bestanden aus Brigaden in allen Bereichen der Pflanzen- und Tierproduktion, es gab Maler-, Schlosser-, Maurerbrigaden.
"So eine LPG hat ja das dörfliche Leben gestaltet. Was weiß ich: Weihnachtsfeier, Kindertag, Frauentag, Erntefest, das wurde alles von der LPG ausgerichtet. Es war sehr lebendig, hier gab es 260 Einwohner in Bagemühl, jetzt sind es noch 93, wir waren aber vorher schon runter auf 79", erzählt sie.
Brigadeverpflichtung der Rübenerfasser
Wir wollen sozialistisch leben:
a) Die Brigade muss beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftlichen Zusammenarbeit handeln, die Brigade achten und seine Kritik beherzigen.
b) Unbedingt erforderlich ist es, dass die Mitglieder an ihren Wohnorten gesellschaftliche Arbeit leisten.
c) Die Brigademitglieder verpflichten sich, im Rahmen des Nationalen Aufbauwerkes je 10 Stunden zu leisten.
"Das waren richtig schöne Ausflüge"
Jörn Böttcher erzählt: "Mit der Motivation gab es Probleme. Es gab die größten Probleme in der DDR damit, dass man diesen Leuten nichts sagen durfte. Ich musste einen, der betrunken war, nicht vor die Tür stellen, den musste ich bis nach Hause begleiten, ich war also zuständig, dass er gesund zu Hause abgeliefert wurde; wenn er unterwegs unters Auto gekommen wäre, hätte ich ein Problem vom Arbeitsschutz gekriegt: Du kannst den doch nicht einfach vors Werktor schieben. Heute macht man das. Damals nicht. Man hat aufgepasst, dass die Leute kommen, man hat die auch von zu Hause abgeholt, da fuhren extra Busse, und hat die von den einzelnen Dörfern hierhergefahren, richtig Schichtbusse, mit denen die Leute, die wir brauchten, geholt wurden und wieder nach Hause gebracht wurden. Das lief, das war alles sehr sozial, muss ich mal sagen."
Angelika Balzer: "Zwei Wochen vor Weihnachten hat die LPG eine Busfahrt für die Frauen nach Berlin organisiert, um Weihnachtseinkäufe zu machen. Dann wurden Reisetaschen mitgenommen, für ein paar Kilo Bananen, Apfelsinen, was man so alles gekriegt hat. Eine Frau von Battin, die hat immer Gläser Kirschen mitgebracht, der mussten die immer die schwere Reisetasche mit in den Bus tragen und dann in Battin wieder mit heraushelfen. Da stand schon immer der Mann am Bus. Das waren richtig schöne Ausflüge. Da war man abends breit, aber man war glücklich. Man hatte die Tasche voll gehabt und es konnte Weihnachten werden."
Jörn Böttcher: "Wir waren in der Technik von mir aus zehn, zwölf Mann, Ingenieure, Techniker, Meister und dann haben wir mit denen und den Frauen zusammen jedes Jahr eine Fahrt übers Wochenende in irgendeine Ferienanlage auf Rügen oder in den Bezirk Neubrandenburg damals, gemacht. Haben da so Bungalows bestellt, haben alles rangeschafft, was man so brauchte, haben getanzt, getrunken und erzählt und dadurch kam man sich noch näher. Aber die Kinder waren auch dabei. Wir waren 40 Mann, aber es war schön. Das sind Erinnerungen, wenn man heute mit den Zuckerfabrikleuten spricht."
Manfred Krug als Brigadier
Historiker sind skeptisch gegenüber Zeitzeugenerinnerungen. Welchen Preis etwa zahlte man als Teil der Gemeinschaft, wenn die Partei für strenge Tabus und Vorgaben sorgte, die nicht offen angezweifelt werden durften? Wann wird aus Gemeinschaft Enge?
Der Defa-Film "Spur der Steine" mit Manfred Krug als Brigadier Balla erzählt von den Konflikten im Arbeitsalltag. Der Film wurde kurz nach Anlaufen 1966 wegen "antisozialistischer Tendenzen" verboten.
Wenn die Wirklichkeit schwierig war, bleiben vor allem die schönen Erinnerungen im Gedächtnis. Die aber sind bemerkenswert stark, wenn es um die Zeit in den Brigaden geht.
Brigitte Reimann schreibt: "Vor drei Wochen erste Buchlesung in der Brigade ‚10. Jahrestag‘: 30 Rohrleger und Schweißer; anschließend großes Besäufnis im Gasthaus 'Schwarze Pumpe'. Die jungen Leute machen mir den Hof, mein Buch hat Anklang gefunden… Sie sind stolz, hoffen, sich porträtiert zu finden (aber ich muss doch abstrahieren; das ihnen zu erklären, ist schwierig)."
"Man war stolz, dass man geehrt wurde"
Edeltraud Griebe erinnert sich: "Und diese riesengroße Frauentagfeier immer im Thälmannhaus. Das wurde immer ganz groß aufgezogen. Der Abteilungsleiter war dabei, die Meister waren dabei, wenn das auf der Werft war. Die haben uns dann bedient. Die haben dann ein bisschen eingedeckt, wenn die kleine Feier war, bisschen Gebäck, zum Naschen stand auf dem Tisch, Wein stand auf dem Tisch. Und die Meister, die hatten sich dann kleine Schürzchen umgebunden, die liefen da herum und haben uns Kaffee eingeschenkt und auch bedient. Das war nicht schlecht. Man war stolz, dass man irgendwie geehrt wurde.
Jörn Böttcher erzählt: "Zucker klebt, hieß es immer. Und man klebte manchmal auch zusammen, man tanzte ja, man hatte ja sein Feste. Frauentagfeier, was denken Sie, was da los war bei uns. Die Frauen kriegten frei an diesem Tag. Und wir Männer mussten den Dienst natürlich machen, wurden aber dann abgestellt für die Frauentagfeier: Nicht nur als Tänzer, sondern wir haben ihnen Kaffee eingeschenkt, haben ihnen Schnaps eingeschenkt und die waren dann so schön in Stimmung. Also das waren die größten Erlebnisse, und da kam natürlich auch manch eine tiefere Beziehung zustande."
Brigitte Reimann notiert: "Als dann das Buch erschienen war, verabschiedete ich mich von meiner Brigade. Inzwischen habe ich mir eine Menge Vorwürfe anhören müssen, ich sei überheblich geworden, weil ich nicht mehr in der Brigade arbeite, und ich habe hundertmal wieder erklären müssen, dass ich nicht die Absicht habe, Rohrschlosser zu werden, dass ich ungeheuer neugierig bin, neugierig auf andere Menschen und andere Probleme und eine andere Arbeit, und dass ich es für schädlich halte, wenn man ein Riesenwerk wie unser Kombinat nur aus dem Blickwinkel einer kleinen Gruppe von Menschen zu sehen versucht."
Jörn Böttcher: "Nach der Kampagne gab es immer ein großes Kampagnefest. Die Leute haben drei, vier Monate ununterbrochen gearbeitet: Weihnachten, Neujahr. Da, wo andere feierten, das ging nicht. Da wurde ein richtiges Fest gemacht. Man ging nicht gleich nach der Arbeit nach Hause, man blieb so ein bisschen verbunden."
Abruptes Ende der alten Arbeitswelt
Er erzählt weiter: "Die Zuckerfabrik sollte übernommen werden von der Südzucker AG. Die hatten sich für uns interessiert und wollten uns auch haben. Aber die Treuhandanstalt hat nicht mitgespielt: Da wird Südzucker zu stark. Wir wurden schon in eine Fabrik von der Südzucker geschickt, um die Fabrik kennenzulernen. Der Betriebsleiter von da war hier und ich war dort in Groß-Gerau. Haben da mal die Verhältnisse kennengelernt. Und haben da zum ersten Mal erlebt, so wie das bei uns war oder wir das gewohnt waren, ist das hier überhaupt nicht. Für uns war klar, wenn man in eine Fabrik ging und da war eine Dame oder Herr an einer Station, gab man ihm die Hand und sagte: Guten Morgen, na wie geht’s, alles gut? Guckte man sich dann die Geräte an, ob die Werte gut sind, und da machte man seinen Plausch und rauchte eventuell noch eine zusammen. Und da in Groß-Gerau, sagte dir keiner was. Das war schon eine ganz andere Welt, die wir sehr schnell kennenlernten."
Dem abrupten Ende der alten Arbeitswelt folgte nicht nur die Unsicherheit, wie es weiterging, sondern auch das Gefühl, etwas verloren zu haben. Vielfach waren Fremdheit und Befremden die vorherrschenden Gefühle gegenüber den neuen Verhältnissen. Die Kränkung wegen der Ignoranz gegenüber der eigenen Arbeits- und Lebensleistung.
Umso wichtiger wurden die Erinnerungen an die vertraute, alte Zeit. Die Welt der Brigade spielte dabei eine wichtige Rolle.
Angelika Balzer erinnert sich: "Das haben wir alles sozial verträglich abfedern können. So was wie die Handwerker, wie mein Mann, mussten sich natürlich auf dem freien Markt was suchen. Das konnte sich kein Betrieb leisten,solche unrentablen Zweige mitzuschleifen. Küche gab es nachher nicht mehr, Malerbrigade wurde aufgelöst."
Edeltraud Griebe: "Nach der Wende, ich habe ja alles miterlebt, wurde diese riesengroße Halle gebaut. Da war ich kurz über 50 und da haben sie uns noch mal ins kalte Wasser geschmissen, wir mussten noch mal einen Lehrgang machen und dann auf diesen großen Kran mit 800 Tonnen Traglast, den mussten wir dann noch lernen. Da ging alles über Computer, nur mit Funk gearbeitet. Nachher, als ich es konnte, war es eine schöne Arbeit."
Frauen, die jetzt noch zusammenhalten
Angelika Balzer: "Wir haben uns auch zusammengefunden, sieben Familien und haben versucht, das kulturelle Leben nicht einschlafen zu lassen. Das haben wir in Eigenregie gemacht, auch auf eigene Kosten: Den Kindertag muss es weitergeben, den Frauentag muss es weiter geben, die Weihnachtsfeier für die Kinder. Karneval und Fasching haben wir auf die Beine gestellt. Da haben unsere Männer immer getanzt als Ballett. Wir hatten die Gaststätte mit dem großen Saal. In den 90er- Jahren war der dörfliche Zusammenhalt noch da."
Edeltraud Griebe: "Viele haben ja 40 Jahre zusammengearbeitet, bis zum Schluss. Da ist ja auch eine Verbindung. Wir sind immer noch jetzt acht, neun Frauen, die jetzt immer noch zusammenhalten. Einmal im Monat treffen wir uns zum Frühstück oder zum Mittagessen. Wir fahren auch mal drei Nächte weg oder vier Nächte. Also, wir halten immer noch zusammen."
Jörn Böttcher: "Für mich blieb übrig: Die gemeinsamen schönen Veranstaltungen, die wir machten, Brigadeausflüge, Erfahrungsaustausche, Tanzabende, das sind für mich wichtige, die möchte ich auch nicht entbehren, diese Erfahrungen. Es gab vieles, über das ich negativ reden würde, darüber nicht."
Das schrieb Brigitte Reimann am 11. Juli 1961 in ihr Tagebuch: "'Ankunft im Alltag' inzwischen erschienen. Ich bin gewappnet für unerquickliche Diskussionen; der Knabe Curt wird einigen Leuten Kummer machen. Die 'Junge Welt' hat seinetwegen den Vorabdruck abgelehnt."
Die Erzählung "Ankunft im Alltag" war Ausdruck ihrer intensiven Auseinandersetzung mit der Arbeitswelt im Sozialismus – und der Fremdheit zwischen dem Brigade-Alltag und der Welt der Intellektuellen. Das Werk erhielt einen Kunstpreis, aber im Tagebuch ahnt sie schon, dass es schwierig wird, die reale Arbeitswelt allzu genau zu studieren.
Auch sie hätte über vieles negativ reden können und wollte doch die Brigade-Erfahrungen nicht missen. Brigitte Reimann ist im Alter von nur 39 Jahren bereits 1973 gestorben.
Autorin: Ulrike Sebert
Es sprechen: Meike Rötzer, Monika Oschek und Heino Rindler
Regie: Giuseppe Maio
Ton: Christiane Neumann
Redaktion: Winfried Sträter