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"Ein närrisches Nest"
Die Stadt Jena ist aus der deutschen Literaturgeschichte nicht wegzudenken. Wie ist es dort heute um das literarische Leben bestellt? Die Deutschlandrundfahrt wandert durch und rings um diese Stadt, die Goethe einst als "närrisches Nest" bezeichnete.
1926 lässt Gottfried Benn seine Mutter die Saale entlang zur Kur fahren - in seinem Gedicht ‚Jena‘, wo er selbst nie gewesen ist. Aber dass die Mutter ihm auf einer Postkarte von "Jena vor uns im lieblichen Tale" wie von einer Verheißung schreibt, brennt sich in sein Gedächtnis ein. Aus der Nähe betrachtet ist Jena nicht nur die Stadt von Schott, Zeiss und Jenoptik, sind es nicht nur die berühmten Dichter der Klassik und Frühromantik um 1800. Es ist auch Sophie Mereau, die erste Schriftstellerin Deutschlands, die von ihrem Schreiben zu leben versuchte. Die Saalestadt spiegelt das moderne literarische Leben wieder: Dort steht das Archiv mit 100.000 Gedichten von 15.000 jungen Poeten, die Zeugnis von der Befindlichkeit einer ganzen DDR-Generation ablegen. Ein ehemaliger Lokschuppen am Westbahnhof lädt Poetryslammer ein und junge Autoren schreiben Gedichte über Jena. Die ‚Deutschlandrundfahrt‘ unterwegs durch eine Stadt, die Geheimrat von Goethe einst ein närrisches Nest nannte.
Im folgenden einige Ausblicke darauf, was Sie in dieser Deutschlandrundfahrt erwartet - das Manuskript zur gesamten Sendung finden Sie hier als PDF-Datei.
Die Genie-Zeit der Stadt
Unter anderem begegnen wir Ute Fritsch, einer gebürtigen "Jenenserin", wie sie betont. Sie führt auf die literarischen Spuren der Stadt, für die sie sich sehr begeistert und hat den Verlag "Jena 1800" gegründet, der unter anderem schön gestaltete historische Stadtpläne veröffentlicht.
Jena um 1800 – das ist die Geniezeit der Stadt: Friedrich Schiller hält seine Antrittsvorlesung, die Brüder Schlegel gründen die romantische Schule, der junge, progressive Johann Gottlieb Fichte lehrt bis zu seinem Rausschmiss an der Universität. Georg Wilhelm Friedrich Hegel verfasst hier seine "Phänomenologie des Geistes", Clemens Brentano verliebt sich in die wesentlich ältere Sophie Mereau, und Caroline Schlegel lädt die Geistesgrößen der Stadt zum Mittagstisch ein. Goethe, immer wieder aus dem benachbarten Weimar kommend, nennt Jena ein "närrisches Nest".
Über Jena sagt Ute Fritsch:
"Jena ist irgendwie immer die lebendigere Stadt gewesen mit den vielen jungen Studenten, das Theaterhaus in Jena, das habe ich noch in den Anfangszeiten ab 1991 erlebt, ein ganz wunderbarer geistiger Ort, auch heute noch. Und Weimar war immer diese absolute Rückkehr nur zu Goethe, das hat uns damals schon frustriert. Einerseits ärgert es mich, weil man Jenas außerordentliche Geschichte um die Zeit nicht so gut bis heute kennt, selbst unter den Fachwissenschaftlern ist es gar nicht so bekannt, andererseits durch die Industrie, durch Zeiss, Jenoptik, durch Jenapharm, Schott ist Jena auch immer ‚ne Industriestadt gewesen, wo sich die verschiedenen Intelligenzen vermischt haben und Jung und Alt."
Ein Blick in die Szene vor Ort
Der Blick auf Jena von einer Anhöhe hinab ist grandios: Ob vom Aussichtsturm des Landgrafen, auch "Balkon Jenas" genannt, vom knapp 400 m hohen Jenzig, dem Hausberg der Stadt oder vom nordwestlich gelegenen Windknollen, auf dessen Höhen 1806 bei der Schlacht von Jena und Auerstedt Weltgeschichte geschrieben wurde.
Der Schriftsteller Peter Neumann sagt dazu:
"Gerade, wenn man so von Westen kommt - ich bin ja Pendler und komme aus Weimar - und man biegt um die Ecke und fährt durch den Wald hindurch und auf einmal eröffnet sich so die Landschaft, der Talkessel, Jena liegt dort, dann kommen mir tatsächlich so diese Verse 'Jena vor uns im lieblichen Tale schrieb ich meiner Mutter auf einer Karte'."
Neumann spielt auf das Gedicht von Gottfried Benn an:
"Jena vor uns im lieblichen Tale
schrieb meine Mutter von einer Tour
auf einer Karte vom Ufer der Saale
sie war in Kösen im Sommer zur Kur;
schrieb meine Mutter von einer Tour
auf einer Karte vom Ufer der Saale
sie war in Kösen im Sommer zur Kur;
Nun längst vergessen, erloschen die Ahne,
selbst ihre Handschrift, Graphologie,
Jahre des Werdens, Jahre der Wahne,
nur diese Worte vergesse ich nie."
selbst ihre Handschrift, Graphologie,
Jahre des Werdens, Jahre der Wahne,
nur diese Worte vergesse ich nie."
Der Schriftsteller Dirk von Petersdorff ist aus dem Westen nach Jena gekommen. Auch er zeigt sich fasziniert von den Landschaften in der Umgebung:
"Allein dieser historische Wandel, der sich dort abspiegelt in der Landschaft, den finde ich sehr, sehr interessant und es hat etwas sehr Freies dort oben. Man ist über der Stadt, man ist ein bisschen raus, hat einen weiten Blick, es ist auch ein anderes Klima komischerweise, es ist viel windiger, eine große Offenheit. Das ist für mich ‚ne Landschaft, wo man wunderbar nachdenken kann, aber auch so ein Gefühl von Freiheit und auch ein bisschen von Vergänglichkeit hat. Weil man weiß, was dort oben alles schon gewesen ist, und wenn der Wind durchs Gras geht, kann man über solche Dinge auch gut nachdenken."
Eine gut vernetzte Schriftstellerin
Die Schriftstellerin Nancy Hünger hält sich mit ihrer Begeisterung für die Stadt allerdings ein kleines bisschen zurück:
"Liebe Jenenser verzeiht, Jena fehlt so ein bisschen das Zentrum und rundum die Passagen. Da bin ich doppelt verwöhnt durch Weimar und Erfurt, und ja, mein Auge mag sich nicht so recht an die Stadt gewöhnen. Insofern ist Jena für mich keine Verheißung, ausgenommen aber, und da bin ich natürlich neidisch als Erfurterin, das schöne Saaletal, der Saalestrand, das Paradies. Man hört es schon, das Paradies."
Die Literaturszene in Thüringen sei gut vernetzt, sagt Nancy Hünger.
"Jena ist quasi nicht isoliert zu denken. Man nennt die Autobahn auch liebevoll A4 Kulturschiene, die Erfurt, Jena und Weimar verbindet, weil all diese Städte mehr oder minder zusammenhängen. Erst recht, was die Kultur anbelangt."
Hünger, die im gleichen Verlag wie Neumann veröffentlicht, organisiert Literaturveranstaltungen in der Stadt, ihr "Ausgedinge", wie sie sagt.
"Man muss sich Freiheit immer mit Unfreiheit erkaufen. Zu meinen liebsten Tätigkeiten gehört die Reihe 'Die Gunst des Augenblicks', das ist eine Reihe, die sich der zeitgenössischen Lyrik widmet, das ist hier im Haus ein Kerngedanke, dass man nicht nur verstorbener Dichter gedenkt wie Goethe und Schiller, sondern eben auch der zeitgenössischen Dichter. Wir laden vier bis fünfmal im Jahr Dichter ein, die nicht nur lesen, sondern ihre Poetik mit dem Publikum im Gespräch darstellen."
Über dieses historische Erbe ihrer Stadt sagt sie:
"Die Tradition bewirkt erst das Gegenwärtige. Ohne diese Tradition hier vor Ort wäre vielleicht auch unsere literarische Landschaft überhaupt nicht so rege, so bunt, so vielfältig. Andererseits glaube ich schon, dass man sich davon in gewisser Weise, wenn man hier lebt, automatisch freischwimmt, dass das eben, weil man ständig damit umgeben ist. Es gibt ja kaum einen Ort hier, wo man Goethe und Schiller entfliehen kann, selbst, wenn man möchte."
Ein Besuch im Archiv
Außerdem macht diese Deutschlandrundfahrt Halt beim Archiv Jugendlyrik der DDR, wo einige Schätze lagern. Die Sammlung geht zurück auf den Deutschlehrer und späteren Honorarprofessor Edwin Kratschmer aus Unterwellenborn, einem kleinen Ort gut 50 km südlich von Jena. Bereits 1964 gab er die Jugendanthologie "Und Mut gehört zum Wort" im Selbstverlag heraus.
Der Lehrer animierte die Schüler zum Schreiben, korrespondierte mit ihnen und berät sie in Poetensprechstunden. Immer mehr junge Autoren schickten Edwin Kratschmer ihre Gedichte nach Unterwellenborn. Gemeinsam mit seiner Frau Margret und einem Unterstützer, dem Journalisten Hannes Würtz, archiviert er sie. Wenige Jahre später erscheint die erste Gedichtsammlung "Offene Fenster", nach der Wende werden es neun Bände sein. Aus ideologischen Gründen wird sie sofort von offizieller Seite verrissen und Edwin Kratschmer Missbrauch seines Erziehungsauftrags vorgeworfen. Sein Engagement ist dem DDR-Regime natürlich ein Dorn im Auge. Verdeckte Ermittler sitzen bei den Lesungen. Auch die Korrespondenz wird überwacht, so Udo Scheer, der mit Edwin Kratschmer seit vielen Jahren befreundet ist:
"Diese Korrespondenz hatte natürlich einen entscheidenden Punkt und das war ihm auch bewusst. Damit machte er junge Leute erst mal für die Staatssicherheit bekannt und indem sie Post und Briefe kontrollierten und lasen, waren sie natürlich auch im Visier der Staatsicherheit, und sie machten sich angreifbar. Insofern war auch das, was er formulierte oder was in diesem Schriftwechsel geschah, immer sehr, sehr vorsichtig."
Handgeschriebene Schätze
Joachim Ott, Leiter der Abteilung Handschriften und Sondersammlungen, sagt über seine Arbeit:
"Im Grunde geht es darum, das Ganze mal aufzuarbeiten, was die Gedichte für uns heute bedeuten, wie die damals gedichtet haben zu DDR-Zeiten, ist das anders, als man heute von Jugendlichen erwarten würde, was für Zeitbezüge sind drin, gibt es überhaupt Zeitbezüge, ist es etwas Vorgegebenes, etwas Inspiriertes – also, das möchte noch erforscht werden."
In seinem Lager finden sich einige Schätze, etwa auch Gedichte und Briefe, auf Heftränder gekritzelt, mit der Schreibmaschine auf dünnes Papier getippt, handgeschriebene Verse mit Begleitschreiben. Lyrische Passagen, die, wie bei vielen Jugendlichen, von Weltschmerz künden, von der ersten Liebe, von Melancholie oder persönlichen Ängsten. Die Gedichte spiegeln aber auch die damalige Zeit und Gesellschaft wieder, so Udo Scheer. Anfang der 1970er Jahre gehörte er zum Jenaer Arbeitskreis Literatur, in dem mehr Demokratie gefordert wurde. Eine Art Subkultur entstand, es wurde über oppositionelle Literatur und Tabu-Themen diskutiert. Udo Scheer dazu:
"Da wurde es natürlich brisant, und da gehört auch ein ungeheures Vertrauen der jungen Leute dazu, solche Gedichte Edwin Kratschmer zu geben. Wir waren ja nicht ahnungslos, wir wussten ja, dass das durchaus auch staatsfeindliche Hetze sein konnte, was man an kritischen Gedanken, an Andersdenken formuliert, verdichtet in Lyrik. Das konnte Konsequenzen haben, das hatte Konsequenzen."
(gekürzte Onlinefassung, thg.)