Eckhard Fuhr: "Schafe"

Schafe verstehen heißt Kultur verstehen

Cover des Buches "Schafe" von Eckhard Fuhr, in Hintergrund: Eine Schafherde auf einer Weide in der Röhn.
Eckhard Fuhr hat sich für die Reihe "Naturkunden" intensiv mit dem Schaf beschäftigt. © Matthes & Seitz Berlin / picture alliance / dpa / Klaus Nowottnick / Combo Deutschlandradio
Von Hans von Trotha |
Dass Schafe weit mehr sind als eine "wollige Masse potenzieller" Opfer, zeigt der leidenschaftliche Jäger Eckhard Fuhr in seinem Essay. Weil diese Tiere für unsere Kultur so bedeutend waren und sind, fordert er ein Nachdenken über nachhaltige Landnutzung.
Als Band 31 der wirklich schönen bibliophilen Reihe Naturkunden bei Matthes & Seitz hat der konservative Feuilletonist und leidenschaftliche Jäger Eckhard Fuhr einen Essay über Schafe vorgelegt, der ihm unter der Hand auch zu einem über den Wolf geworden ist. Dessen Rückkehr stellt uns nämlich gerade vor die Entscheidung, wie wir künftig mit dem Tier, Kulturgut, Wirtschaftsfaktor und Landschaftselement Schaf umzugehen gedenken.
Früher hat Fuhr in Schafherden nur eine "wollige Masse potenzieller Opfer" gesehen. Nach seiner Recherche schreibt er zur Domestikation des Schafs vor 12.000 Jahren: "Es ist trotz Raumfahrt und Digitalisierung immer noch der größte Schritt, den die Menschheit je gemacht hat."

Schafe "ästhetisieren" Landschaft

Im Schaf kreuzen sich faszinierend viele kultur- und wirtschaftshistorische Traditionslinien. Es beginnt mit der noch eher distanzierten These des Museumsbesuchers Fuhr: "Weidende Schafe schaffen die Voraussetzung für eine Ästhetisierung oder Vergeistigung von Landschaft". Aber das Schaf kann mehr. Ist es doch Woll-, Fleisch- und Milchlieferant in einem. Die mittelalterliche Dreifelderwirtschaft hat es auch noch vorangebracht: Durch die Beweidung mit Schafen wurden die abgeernteten Felder gedüngt. Andererseits haben Schafe auch Ackerland zerstört, weshalb der Humanist Thomas Morus von "menschenfressenden Schafen" sprach und Karl Marx an der englischen Schafwirtschaft seine These von der "ursprünglichen Akkumulation" erläutern konnte: Die Bauern wurden von ihrem zu Weideflächen umgewidmeten Land vertrieben und so zur "Masse vogelfreier Proletarier".
Besonders hat es Fuhr die Tradition der "Transhumanz" angetan, der Wanderweidewirtschaft, in der der Hirte mit seiner Herde zwischen Winter- und Sommerweide pendelt – eine uralte Kulturtechnik, die Europa nachhaltig geprägt hat. Überhaupt: Schon Ötzi war womöglich Schafhirte, mit dem Agnus Dei, der Rede vom Lamm Gottes, ist das Schaf auch in der religiösen Überlieferung ganz vorn, mit dem Goldenen Vlies in der griechischen Mythologie, mit Klonschaf Dolly in der Wissenschaft, mit dem Schäferroman in der Literaturgeschichte, mit dem Schäferstündchen in der Historie der feuchten Fantasien und aufgrund des Runs auf Schafmilchprodukte in der heute trendigen Ökolandwirtschaft.

Gesellschaftsvertrag über extensive Weidewirtschaft

Wie komplex schließlich Antworten sein können, die die Kulturgeschichte auf aktuelle Fragen zu geben vermag, zeigt sich, wenn man die Forderung nach dem Schutz wilder Mufflonpopulationen vor den wilden Wölfen hierzulande hinterfragt: Die Mufflons wurden Anfang des 20. Jahrhunderts ausgewildert – zur "Bereicherung der Wildbahn", was nur möglich war, weil Luchs und Wolf gerade ausgerottet worden waren.
"Etwas Uraltes muss neu begründet werden," schließt Fuhr. "Mit ein wenig Pathos" (und davor hat der Essayist Fuhr keine Scheu) "ließe sich sagen, dass wir einen Gesellschaftsvertrag über nachhaltige Landnutzung im Allgemeinen und extensive Weidewirtschaft im Besonderen brauchen." Und all das lehrt uns, wenn man nur genau hinsieht, das Schaf.
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