Elsie Slonim: Vom Brot im Meer. Die ersten hundert Jahre der Elsie Slonim
Verlagshaus Hernals, Wien
200 Seiten, 23,90 Euro
"Auch eine Maus kann berühmt werden"
Von Brooklyn über Wien nach Zypern. Immer wieder wurde die Jüdin Elsie Slonim verstoßen und verlor alles. Jetzt hat die Hundertjährige ihre Lebenserinnerungen unter dem Titel "Vom Brot im Meer - Die ersten hundert Jahre der Elsie Slonim" aufgeschrieben.
Elsie Slonim logiert im Hotel Stefanie, dem ältesten Hotel Wiens, am Rande des alten jüdischen Bezirks, der Leopoldstadt. Dort dürfte sie der älteste Gast sein – ein Jahrhundert Leben trägt sie in sich. Was man der gebeugten alten Dame mit der grauen Strähne im vollen schwarzen Haar nicht ansieht.
"Ich hab die Wiener sehr liebgewonnen. Alle sind so freundlich und so gut zu mir, dass ich ganz überrascht bin."
Das war nicht immer so. Als Elsie Slonim mit 18 Monaten aus New York nach Österreich kam, hatte die Monarchie gerade abgedankt. Das kaiserlich-königliche Österreich-Ungarn zerfiel. In Wien gründete der Vater eine neue Fabrik und kaufte ein Haus 25 Kilometer südlich, in Baden. In die Schule mochte Elsie Slonim aber bald nicht mehr gehen – aus Angst:
"Alle haben schon Hakenkreuze getragen. Ich war die einzige Jüdin in der Klasse, niemand wollte neben mir sitzen. Und wenn ich in die Klasse gekommen bin, haben sie gerufen: Die Wanze kommt! Weg, weg, weg! Die Wanze an der Wand kommt. Weg! Ich bin immer weinend nach Hause gekommen."
Das Gefühl unerwünscht zu sein, verachtet, das kannten Elsie und ihre Familie nicht erst seit Wien. Sie und ihre Schwester Stella - sie ist heute 103 und lebt in Jerusalem - kamen in Brooklyn zur Welt. Das brachte ihnen zwar einen US-Reisepass ein, der ein Leben lang nützlich sein sollte. Doch auch die erste Lektion in Sachen Antisemitismus.
"Viele Leute in Brooklyn konnten die Juden nicht leiden. Und viele haben in ihren Häusern wunderbare Wohnungen schon gehabt, aber draußen waren Plakate: 'Juden, Negern und Hunden ist der Eintritt verboten!' Meine Eltern haben furchtbar darüber gelacht, denn meine Eltern waren nicht religiös, aber sie waren jüdisch, und sie haben immer christliche Freunde gehabt und das war für sie urkomisch."
Die Scham im Nacken flieht sie in die USA
Zurück in Wien, 1936: Mit 19 heiratete Elsie Slonim zum ersten Mal, die Schule hatte sie ohne Matura verlassen. Doch mit dem Juristen, der ein besseres Leben versprach, wurde sie auch nicht glücklich. Die Eltern sollten bei der Scheidung helfen. Auch dieses Mal erfuhr die junge Frau heftige Ablehnung von ihrem Vater. Die Scham im Nacken und die Angst vor dem, was sich in Österreich zusammenbraute, trieben Elsie Slonim 1939 wieder in die USA. Die Überfahrt auf der "Queen Mary" änderte ihren Lebensmittelpunkt gründlich. Denn der Herr, der sie an Bord ansprach, hielt schon am dritten Tag der Bekanntschaft ihre Hand - und wünschte am fünften die Hochzeit.
"Plötzlich fühl ich ein warmes Gefühl von meiner Hand auf die Schulter und auf den Körper zukommen. Er sah mich an und sagte: Fühlen Sie etwas? Ich hab gesagt, ja. - Ich auch! Dann hab ich ihn gefragt, von wo sind Sie denn? Er hat gesagt: Ich bin ein Palästinenser. Dann hat er gesagt, er hat eine Plantage in Zypern. Ich hab gesagt: Wo wohnen Sie denn in Zypern? Er hat gesagt, ich hab ein Haus und ich habe eine Terrasse, die mit Jasmin bewachsen ist, und im Sommer duftet das so schön. Das war alles so romantisch!"
Heute lacht sie, wenn sie erzählt, immer wieder verstoßen worden zu sein. Trotzdem reiste Elsie Slonim mit dem letzten Geld nach Amerika: Sie will ihre Familie vor den Nazis retten und in die USA holen. Rasch fand sie einen Job als Dienstmädchen und bekämpfte die nagende Fremdheit mit Schreiben. Für ihre Familie war es jedoch zu spät. Nur ein einziges Familienmitglied überlebte den Holocaust.
Eine verlorene Maus wird berühmt
"Ich hab mich sehr gegrämt und großes Heimweh gehabt. Ich hab gedacht, ich bin wie eine verlorene Maus. Da hab ich mir gedacht: Ich werde mein Leben aufschreiben. Auch eine Maus kann berühmt werden. Und eine besondere Maus kann besonders berühmt werden."
Das Schreiben lenkte sie ab, das Heimweh verging. Dennoch zieht es sie wieder nach Zypern. Von Limassol siedelt sie mit ihrem Mann David nach Nikosia. 1974 wird die Stadt von den Türken besetzt. Ihr gesamter Besitz war erneut verloren. Doch das Lebensmotto ihres Mannes spendete Trost:
"Ich werfe mein Brot immer ins Meer, und es kommt irgendwie zurück. Das ist mein Motto geworden, denn ich versuche Leuten zu helfen, ich versuche besonders sie glücklich zu machen. Aber man darf nicht eine Revanche verlangen, das ist nicht das Wichtige. Man muss vom Herzen geben und nie etwas verlangen."
Ihre jetzt erschienene Lebensbeschreibung benannte sie ganz einfach nach Davids Motto: "Das Brot im Meer‟.