"Schreiende Kinder und Babys überall"
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Die psychosomatische Abteilung der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen steht in der Kritik: Eltern ehemaliger Patienten beklagen grausam anmutende Behandlungsmethoden. Auch die medizinischen Grundlagen der Therapie werden von Ärzten angezweifelt.
Als Sandra Wagner* 2017 mit ihrem neurodermitiskranken Baby Fritz in die Abteilung für pädiatrische Psychosomatik der Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen kommt, sei sie verzweifelt gewesen, erzählt sie uns. Fritz, sechs Monate alt, habe kaum noch geschlafen. Wenn er keine Schutzhandschuhe trug, habe er sich blutig gekratzt und auch sonst fast durchgehend geschrien. Nun hoffte sie auf Hilfe der Klinik.
Die Diagnose der Ärzte dort ist eindeutig: Das Baby habe ein Trauma durch eine Trennung von der Mutter erlitten. Das habe die Hautkrankheit ausgelöst. Zur Behandlung müsse Fritz nun lernen, in einem Aufenthaltsraum von seiner Mutter getrennt zu sein.
"Dann werden die Kinder in die sogenannte Mäuseburg gebracht", berichtet Sandra Wagner. "Es ist zwar Personal im Raum, dieses sitzt aber vollkommen teilnahmslos in der Mitte des Raumes. Um sie herum sind allerdings zehn Kinder, die laut schreien, die Panik haben. Ich weiß noch, da war ein Mädchen, was fürchterliche Panik gehabt haben muss, ich schätze sie auf zwei, drei. Sie stand an der Fensterfront und hat mit den Fäusten gegen die Fenster getrommelt, dass sie irgendjemand hört und irgendjemand abholt. Dieses Mädchen geht mir nicht mehr aus dem Kopf."
Vom ersten Tag an, sagt Sandra Wagner, habe sie gezweifelt. Trotzdem sei sie zunächst in der Klinik geblieben. Bis sie am dritten Behandlungstag erneut in den Aufenthaltsraum "Mäuseburg" kommt, um Fritz abzuholen.
"Dann habe ich mein Kind in der Ecke auf einem blutigen Bettlaken entdeckt, den Kopf total offen, stark blutend. Dann fing ich an zu weinen. Danach ging ich dann zur Schwester und wollte wissen, was hier los ist. Weil, ich hatte ja mein Einverständnis nicht gegeben, dass ihm die Handschuhe weggenommen wurden. Schon gar nicht den Nuckel. Er hat sich die Kopfhaut komplett runtergeholt mit den Händen. Dann bin ich zu einer Schwester und habe um Wundversorgung gebeten. Das wurde abgelehnt."
Wir fragen bei der Klinik nach, die uns schriftlich antwortet und widerspricht: Die Vorgehensweise bei der Behandlung sei der Mutter "vor jedem einzelnen Therapieschritt erläutert worden". Das Baby sei bereits mit offenen Wunden an der Kopfhaut in die Klinik gekommen. Und die Mutter habe die Behandlung nach diesem Vorfall abgebrochen, noch bevor die Wunden hätten versorgt werden können. Aussage gegen Aussage. Auf unsere Anfrage für ein Interview geht die Klinik nicht ein.
"Ein Bild, das ich nie vergessen werde"
Auch Josefa Kahn kommt ziemlich verzweifelt in die Klinik, im Winter 2003, mit ihrer ebenfalls sechs Monate alten Tochter Gerti. Auch Gerti hat Neurodermitis, die Diagnose der Klinikärzte in Gelsenkirchen ähnelt der von Fritz: Stress bei der Geburt habe zu einem Trennungstrauma geführt, das wiederum die Hautkrankheit auslöse.
Zur Behandlung, erzählt Josefa Kahn, habe man ihr erklärt, sie müsse sich von ihrer Tochter lösen, radikal und konsequent.
"Ich sollte sie nicht in den Arm einer Betreuerin geben, sondern in eine Ecke auf den Boden legen. Ich fragte nach einer Decke zur Unterlage für den winterkalten PVC-Boden, aber ich bekam nur die Antwort: 'Das braucht die nicht'. Es gab dort nur weinende und verzweifelte Kinder und mein Baby lag mittendrin auf dem Boden. Schreiende Kinder und Babys überall. Einmal, als ich Gerti abholte, hatte sie sich zu einem anderen Baby gerobbt und lutschte an dessen vereitertem Ohr rum. Das ist ein Bild, das ich nie vergessen werde."
Emotionale Distanz zum kranken Kind
Drei Wochen bleibt Josefa Kahn mit Gerti in der Klinik. Auch zu Hause hält sie sich danach weiter an das, wie sie es verstanden hat, in der Klinik empfohlene Konzept: Sie geht auf emotionale Distanz zu ihrem neurodermitiskranken Baby. Und braucht nach eigener Aussage Jahre, um diese Entfremdung zu erkennen - und irgendwann gegenzusteuern.
Im Nachgang zum Dokumentarfilm "Elternschule", der Ende 2018 in die Kinos kam, sei man schuldlos mit rufschädigenden Veröffentlichungen konfrontiert worden, meint dagegen die Klinik. Über die Anwaltskanzlei lässt sie erklären, alle Kinder hätten während der Behandlung in der Klinik unter permanenter therapeutischer Aufsicht gestanden. Auch habe man die Eltern nicht angewiesen oder bestärkt, auf Symptome wie Kratzen, Weinen oder Schreien nicht einzugehen.
"Die Therapie entspricht dem aktuellen Stand von Wissenschaft, Forschung und Lehre. Die Leitlinien wurden von den medizinischen Fachgesellschaften auf der Basis von Studien entwickelt. Unsere leitliniengerechte Arbeit ist also durch Studien wissenschaftlich abgesichert."
So die Klinik in einer anderen schriftlichen Stellungnahme.
"Völlig absurd, was hier in den Raum gestellt wird"
Eine Lesart, die von namhaften Experten bezweifelt wird. Thomas Bieber ist Dermatologe, Professor an der Uniklinik in Bonn und eine internationale Kapazität in Sachen Neurodermitis. Dass diese Hautkrankheit allein durch eine psychische Belastung ausgelöst werde, hält er für Unsinn:
"Es gibt null wissenschaftlichen Nachweis, dass das ganz am Anfang ist und alles andere – die Immunologie, die Barrierestörung, die wirklich genetisch bedingt ist – Folge dieser psychologischen Störung sein sollte. Das ist völlig absurd, was hier in den Raum gestellt wird. Und dann folglich auch dieser Ansatz, zu versuchen, darauf aufbauend das Problem zu lösen.
Das heißt, durch einen wie auch immer gearteten psychologischen, psychosomatischen Ansatz, Heilungsversprechen zu machen, das ist Scharlatanerie, um es mal auf den Punkt zu bringen."
Josefa Kahn macht sich heute Vorwürfe, weil sie innerlich auf Distanz zu ihrer kleinen Tochter ging – und sie hat, als sie von der bevorstehenden Schließung der Abteilung erfährt, ein starkes Gefühl von Genugtuung. Darüber, so sagt sie, dass dort keine weiteren Kinder mehr vielleicht Erfahrungen würden machen müssen, die sie und ihre Tochter gemacht hätten.
*Hinweis: Alle Namen sind auf Wunsch der Interviewten geändert worden.