Emmanuel Carrère: Brief an eine Zoowärterin aus Calais
Aus dem Französischen von Claudia Hamm
Matthes & Seitz Berlin, Berlin 2017
71 Seiten, 9,99 Euro
Die Stadt im Schatten des Dschungels
In seinem "Brief an eine Zoowärterin aus Calais" erzählt Emmanuel Carrère von der französischen Hafenstadt, in er es bis 2016 ein gigantisches Flüchtlingslager gab. Doch den "Dschungel" spart der Autor bewusst aus. Ein bemerkenswerter Versuch, die Wahrheit von ihren Rändern her zu begreifen.
Emmanuel Carrère, Autor des vielbeachteten Romans "Das Reich Gottes", reiste, wie so viele andere Intellektuelle und Kunstschaffende, nach Calais, wo bis Oktober 2016 ein gigantisches Flüchtlingslager betrieben wurde. 8000 Menschen beherbergte das Lager, genannt wurde es "der Dschungel", und die Faszinationskraft des "Dschungels" war (genau hierin liegt das Wesen der Faszination) mindestens so groß wie sein Schrecken.
Auf der Suche nach Wahrheit
Umso bemerkenswerter, dass Carrère diesem Mechanismus nicht erliegt. Für ganze zwei Wochen weilt er in Calais, natürlich besucht er auch den "Dschungel" – doch über das Lager ist in seinem Buch nichts zu lesen. "Ich werde von diesem Besuch hier nicht erzählen", heißt es an einer Stelle. "Ich habe es versucht, aber es verschluckt alles andere." Der "Dschungel" – eine Leerstelle, denn Carrère interessiert sich für die Menschen, die jenseits des Lagers leben. Allerdings wird schnell klar, dass der "Dschungel" die Stadt tief prägt, gar strukturiert. So gibt es in Calais "Promigranten" und "Antimigranten", die Ressentiments der Bevölkerung, die aufgrund der sterbenden Industrie zunehmend verarmt, sind allerorten zu spüren, 50 Prozent im Großraum Calais wählen den Front National.
Dass es die strukturbildende Kraft des Abwesenden ist, die Carrère literarisch umtreibt, zeigt eine zweite bemerkenswerte Auslassung in seinem Text. Gemeint ist die titelgebende "Zoowärterin aus Calais", von der Carrère einen Brief erhält. "Calais ist zu einem Zoo geworden, ich bin eine der Kassenfrauen in diesem Zoo", heißt es in dem Brief, der unterzeichnet ist mit Marguerite Bonnefille. Die Schreiberin beklagt sich über den Tourismus, den das Lager ausgelöst habe, über all die Journalisten, die meinen, dem Phänomen gerecht zu werden und es doch nur verfehlen. Persönlich begegnet Carrère Marguerite Bonnefille nie, doch gerade die Möglichkeit, dass sie ihn sehen könnte, beschäftigt ihn und inspiriert ihn zu seinem Essay, in dem er – ja, was eigentlich erzählen will? Die Wahrheit über Calais?
Dass es die strukturbildende Kraft des Abwesenden ist, die Carrère literarisch umtreibt, zeigt eine zweite bemerkenswerte Auslassung in seinem Text. Gemeint ist die titelgebende "Zoowärterin aus Calais", von der Carrère einen Brief erhält. "Calais ist zu einem Zoo geworden, ich bin eine der Kassenfrauen in diesem Zoo", heißt es in dem Brief, der unterzeichnet ist mit Marguerite Bonnefille. Die Schreiberin beklagt sich über den Tourismus, den das Lager ausgelöst habe, über all die Journalisten, die meinen, dem Phänomen gerecht zu werden und es doch nur verfehlen. Persönlich begegnet Carrère Marguerite Bonnefille nie, doch gerade die Möglichkeit, dass sie ihn sehen könnte, beschäftigt ihn und inspiriert ihn zu seinem Essay, in dem er – ja, was eigentlich erzählen will? Die Wahrheit über Calais?
Ein Lager - zwei Wahrnehmungen
Womit wir bei einer dritten Leerstelle wären: denn die Wahrheit existiert nicht. Vielmehr gibt es widerstreitende Erzählungen von Anwohnern, die in unmittelbarer Nähe zum Lager leben. Erzählungen, in denen die Flüchtlinge als zuvorkommend und freundlich beschrieben werden und andere, die das Gegenteil behaupten. Was am Ende bleibt, ist nur die Hoffnung des Autors, dass die weltoffene Variante stimmen möge.
Emmanuel Carrères "Brief an eine Zoowärterin" aus Calais ist ein hochreflektierter, souverän erzählter Essay über die oszillierende Grenze zwischen Neugier und Schaulust, die Kraft der Leerstelle und die Herausforderung, Journalist zu sein.
Emmanuel Carrères "Brief an eine Zoowärterin" aus Calais ist ein hochreflektierter, souverän erzählter Essay über die oszillierende Grenze zwischen Neugier und Schaulust, die Kraft der Leerstelle und die Herausforderung, Journalist zu sein.