Entdeckung der Welt per Faltboot

"Wer hier einsteigt, wird zum Aussteiger auf Zeit"

Besucher stehen im Faltbootmuseum in Lychen (Brandenburg) an den Standard-Faltbooten der DDR.
Kinder besichtigen das Faltbootmuseum in Lychen (Brandenburg). © picture alliance / dpa
Von Lorenz Hoffmann und Tobias Barth |
Ein Phänomen, das sich wieder zunehmender Beliebtheit erfreut: das Faltboot. Als "Haderkahn" und "Lumpenkreuzer" wurde es verspottet und doch hat es überlebt: von der Atlantiküberquerung in den 50er-Jahren bis zur Flucht aus der DDR über die Ostsee.
Synnöve Wustmann: "Wir haben schon mal überlegt, das wegzutun, aber es war so eine entscheidende Reise für sein Leben, das man das aufheben sollte."
Bad Schandau an der Elbe, Sächsische Schweiz. Synnöve Wustmann steigt auf den Dachboden ihres Vaterhauses. Ein paar Holzskier stehen neben dem Schornstein, ein Baumwollrucksack hängt schlaff am Nagel und in der Ecke ganz hinten liegt, was die alte Dame sucht:
Wustmann: "Ja, hier ist es. Hier ist der Faltbootwagen und hier ist die 'Sturmbraut'."
Die Gummihaut war einmal rot und geschmeidig, jetzt knistert das graubraune, flickenübersäte Bündel steif und porös, wenn Synnöve Wustmann nach dem handgemalten Schriftzug sucht…
Wustmann: "Ein Klepper-Faltboot. Hier ist die Schrift 'Sturmbraut'."

Was trieb den Sachsen hinaus auf das Eismeer?

Das Boot gehörte ihrem Vater, dem 1994 gestorbenen Abenteurer und Völkerkundler Erich Wustmann. 1926 fuhr der damals 19-Jährige mit diesem Boot die norwegische Küste ab, neun Monate lang bis hinauf zum Eismeer. Ein waghalsiges Unterfangen, das dem Naturburschen beinahe das Leben gekostet hätte:
Zitat Wustmann: "In Narvik hatte man mir gesagt, dass ich im Innern des Fjords an Land gehen könnte. Die raue See stand jedoch so schlimm entgegen, dass meine Nussschale mehr unter als über Wasser lag. Allmählich ließen meine Kräfte nach. Das gesamte Deck war dick vereist. Plötzlich überrannte mich eine Woge. Ihr folgten drei kleine Brecher, durch die ich die Sturmbraut ein wenig ausrichten konnte. Steuerbord ragten Felsbrocken aus der Brandung. Da rollte eine Welle heran, die steil aufstieg und direkt vor mir überbrechen musste (…) Mein Boot geriet unter Wasser, ich verlor jeglichen Halt, fühlte nur noch, wie ich ohne Fahrzeug wegsackte, emporgerissen wurde und in dem grünen Gischt davonflog. Danach krachte ich gegen die Klippen und verlor für kurz oder länger das Bewusstsein. Ich wurde erst wieder munter, als mein Kopf fortwährend gegen einen Felsbrocken schlug."
Erich Wustmann überlebte. Die Tour war eine Sensation, Zeitungen berichteten über das Wagnis, für Wustmann stand es am Beginn einer Karriere als Reiseschriftsteller und Ethnologe. Was trieb den Sachsen, der bis dahin nur die Elbe gesehen hatte, hinaus auf das Eismeer?
Synnöve Wustmann: "Ich denke, dass das die Nachkriegszeit nach dem Ersten Weltkrieg war, wo die Jugend doch verschiedene Wege ging, aber doch alles dem einen Ziel folgte: zu leben. Sich einerseits zu vergnügen oder auch, indem sie gereist sind, mehr sehen zu wollen von der Welt. Und sagen muss ich auch, dass damals die Zeit der Erkundungen war. Also Kapitän Romer fuhr mit seinem Faltboot über den Atlantik, versuchte es jedenfalls, es war die Zeit von Rasmussen, Nansen, das begeisterte meinen Vater und er wollte Ähnliches nachmachen."

Inspiriert von den Kajaks der Innuit

Erich Wustmann war einer von vielen Faltboot-Enthusiasten. Angefangen hatte es um 1900 mit Alfred Heurich. Sein Ziel: die Befahrung der Isar. Das wilde Gewässer – das war dem Münchner Architekturstudenten klar - forderte ein Boot, das gleichzeitig elastisch und stabil war. Ein Boot, das nicht zersplittert.
Zitat Alfred Heurich: "Das Prinzip des Kajak-Faltbootes ist ein architektonisches, das des gotischen Spitzbogens. Wenn du dir – beim Draufschauen von oben her – das Boot durchgeschnitten denkst, bildet jede Hälfte einen Spitzbogen. Der Druck des Wassers wirkt von beiden Seiten auf das Bootsgerüst. Da es aus dünnen, aber gewölbten Stäben besteht, gibt es nach, streckt sich, gibt den Druck nach beiden Seiten weiter. Beim gotischen Spitzbogen wird dieser Spitzendruck ausgeglichen durch Steinmassen, beim Kajak-Faltboot durch die Haut. Das Gerüst drückt, die Haut zieht. So passen sie beide prall ineinander."
1905 baut sich Heurich - inspiriert von den Kajaks der Innuit – ein Boot aus einem schlanken Bambusgerüst, das er mit einer Leinwand bespannt. Bei Hochwasser setzt er das vier Meter lange Boot bei Bad Tölz in die Isar und schippert rund 40 Kilometer stromab durch den brausenden Fluss. Mit Freunden gründet Heurich den ersten Kajakverein.
Ein Münchner Reporter schreibt: "Seit einiger Zeit hat sich auf der Isar als auch auf der Loisach eine neue Sportfexerei eingebürgert. Eine Reihe von jungen Leuten haben sich nämlich kleine Boote angeschafft, welche aus Segeltuch bestehen und leicht zusammenlegbar unter dem Arm zu tragen sind. Selbstverständlich ist die Unsicherheit auf diesen Booten eine sehr große, und fast bei jeder Fahrt ist Lebensgefahr dabei im Spiele!"
"Haderkahn" und "Lumpenkreuzer" sind nur zwei von vielen Spottnamen, mit denen Heurichs Erfindung bedacht wird. "Die Yacht" – eine damals renommierte Fachzeitschrift für Segelsport, fordert gar, "dieses lebensgefährliche Herumvagabundieren" müsse unterbunden werden. Allen eifernden Gegenreden zum Trotz: Das Faltboot wird noch vor dem Ersten Weltkrieg zum populären Gefährt der "Generation Wandervogel". Die Burschen und Mädels erobern sich ihren Platz an der Sonne, dringen vehement und scharenweise in vormals bürgerliches Terrain ein: Auch sie wollen Freizeit und Naturerlebnis, Müßiggang und Sport, und vor allem auch Wassersport.
Das Faltboot wird den reformbewegten Naturfreunden zum idealen Vehikel. Es ist kostengünstig in der Anschaffung, leicht im Zug zu transportieren, es bietet die Möglichkeit, an abgelegene, romantische Orte zu gelangen und wenigstens am Wochenende dem Alltag in Mietskaserne, Fabrik oder Büro zu entfliehen.
Schon wenige Jahre nach seiner ersten Isar-Fahrt kann Alfred Heurich schreiben:
Zitator Alfred Heurich: "Das Kajakfaltboot! Zu hunderten kommt es an schönen Sommersonntagen die Nebenflüsse der Donau herabgeschwommen. Auf der Saale wie auf der Spree, auf dem Rhein wie auf der Oder, auf allen Seen im Süden und im Norden, auf laubbeschatteten Bächen nicht minder als auf der Brandung des Nord- und Ostseebades tummelt sich das kleine flinke Ding!"

Kajaklied beschreibt den Faltboot-Enthusiasmus

Auf den Baumwollverdecks der meisten Boote prangt der Firmenname Klepper, Bayern. Der Schneidermeister Johann Klepper aus Rosenheim hatte schon 1907 ein Patent von Alfred Heurich gekauft. Binnen zehn Jahren führt der Inhaber einer kleinen Sportwarenfabrik das Boot zur Serienreife. Statt Bambusstangen stützt nun ein Gerüst aus zäher Gebirgsesche den Korpus, die Leinwandhülle erhält einen wasserdichten Überzug aus Gummi. Um 1920 wirbt die Firma:
Zitator: "Ein famoses Klepper-Boot und auch Sie sind auf dem Wasser ebenso zu Hause wie zu Lande. Wochenende und Urlaub wird Ihnen durch das Wasserwandern eine nachhaltige und auch billige Erholung sein. Das Klepper-Boot ist zerlegt im Rucksack überall mitführbar und in zehn Minuten aufzubauen."
Kajaklied (M. Berchtenbreiter 1925):
"Boot gebaut
Kühn vertraut
immer Wind und Wetter!
Und wir sind Pfeilgeschwind
wahre Wassergötter."
Dieses "Kajaklied" aus dem Jahr 1925 beschreibt exemplarisch den Faltboot-Enthusiasmus jener Jahre. Dutzende Werften produzieren tausende der beliebten Binsenbummler. Alfred Heurich gibt Flusskarten und Wasserwanderbeschreibungen heraus, in Zeitschriften erscheinen Artikel über den neuen Wassersport, und es entsteht eine regelrechte Faltboot-Literatur, die von den abenteuerlichsten Flussfahrten handelt.
Kajaklied (M. Berchtenbreiter 1925):
"Faltboot Heil!
Wie ein Pfeil
Schießt es durch die Wogen
Stolz und Lust
Schwellt die Brust
Kommen wir gezogen."
Ein deutscher Löwenjäger befährt mit dem Faltboot afrikanische Flüsse, der Leipziger Reiseschriftsteller Herbert Rittlinger den Amazonas. 1928 versucht der 24-jährige Kapitän Rohmer, im Klepper-Faltboot mit Segel den Atlantik zu bezwingen. Er kommt bis zur KaribikInsel St. Thomas, bei der Weiterfahrt nach New York verliert sich seine Spur.
Kajaklied (M. Berchtenbreiter 1925):
"Holdrioh!
Frisch und froh
Fahren wir durchs Leben!
Kraft gestählt
Sieg erwählt!
Deutscher Sport soll leben!"

Einsatz des Faltboots im Lazarett

In den Kriegsjahren wird auch das Faltboot – dieses Vehikel der Freiheit – für Propagandazwecke genutzt. 1943 sendet der Reichsrundfunk ein Gespräch mit dem Kriegsversehrten Hans Seiling aus Brandenburg. Trotz schwerer Beinverletzung wird er 1943 Deutscher Meister in Einerkanu. Im Radio erzählt er vom Einsatz des Faltboots im Lazarett.
Seiling (Kriegsversehrter): "Wir versprechen uns von diesem Verwundetenpaddeln nicht nur eine Gesundung selbst, sondern auch die seelische Beeinflussung der sportlichen Betätigung. Die wirkt auf den Verwundeten kolossal. Ich habe es an mir selbst gesehen, dass ich durch diese sportliche Betätigung den Mut bekommen habe, wieder ins Rennboot zu steigen und meine Rennen zu fahren."
Berichterstatter: "Und nicht anders wird es den anderen Kameraden gehen, wenn sie auch noch nicht gleich Rennfahrer werden wollen und sollen, die Betätigung im Sport weckt unwillkürlich den Leistungswillen. Sie weckt den Willen zum Wettbewerb und damit trägt sie dazu bei, dass der Verwundete sich zusammennimmt, dass er über die Krise hinwegkommt und dass er sich mit allen Kräften von sich aus dafür einsetzt, wieder ein hundertprozentiger, gesunder, voll leistungsfähiger Mensch zu werden. Und das haben Sie ja, Kamerad Seiling, am besten bewiesen, indem Sie nun stolz das Abzeichen des deutschen Meisters neben Ihren Kriegsauszeichnungen tragen können."
Auf der anderen Seite gibt es Berichte von holländischen Widerständlern, die mit dem Faltboot nach England fliehen, um von dort gegen Nazi-Deutschland zu kämpfen. Und vom Bodensee ist bekannt, das Verfolgte per Faltboot in die Schweiz geschmuggelt worden.

Faltboot schiffert auf große Fahrt

20. Oktober 1956, Las Palmas, Kanarische Inseln. Die Liberia III, ein mit einfachsten Mitteln seetauglich gemachtes Faltboot, schippert aus dem Hafen aufs Meer: eine große Fahrt. Tagebuch Hannes Lindemann:
Der Lotse schreit mir zu: "Der Hafenkommandant will Sie sehen."
"Dann soll er herkommen."
"Der Hafenkommandant hat angeordnet, dass sie zurückkehren."
"Ich will nach Maspalomas, dafür brauche ich nicht die Einwilligung des Hafenkommandanten. Maspalomas ist der Strand im Süden der Insel, und in der Tat will ich dort nochmals an Land gehen, um eventuelle Änderungen oder Umtrimmungen vorzunehmen. So segle ich weiter. Das Lotsenboot kommt erneut auf mein Boot zu, diesmal von der Backbordseite, an der mein kleiner Ausleger, ein halber Autoschlauch, befestigt ist. Es fährt rücksichtslos über den Ausleger, so dass das Paddel, das ihn am Faltboot verstrebt, bricht und ich nahezu kentere. Ich bin gezwungen, das Gaffsegel herunter zu nehmen, und zittere vor Wut. Soll die Fahrt etwa hier schon beendet sein?"
1956 gelingt dem in Lauenburg an der Unterelbe aufgewachsenen Arzt Hannes Lindemann, was 28 Jahre zuvor für Kapitän Rohmer tödlich endete: die Überquerung des Atlantiks allein im Faltboot. 72 Tage lebt Hannes Lindemann zusammengefaltet wie eine Ziehharmonika auf einem Serienboot von Klepper. Der Kahn fasst gerade mal den Skipper, die nötigsten Sachen und etwas Proviant.
Hannes Lindemann: "Ich hatte sehr wenig Geld und hab immer das billigste genommen. Ich hatte mit 70 Tagen gerechnet und hatte also 70 Dosen Milch und 70 Dosen Bier mit. Nun, Bier war nicht dazu da, um in stürmischen Situationen die Stimmung der Mannschaft da zu stabilisieren, nein, nein, Milch und Bier haben chemische Vorteile für den sauren Stoffwechsel von hungrigen Menschen."
Für den Arzt war die Tortour ein medizinischer Selbstversuch. Kann ein Mensch allein auf dem Meer Hunger und Einsamkeit, Stürme und Seelenqualen überstehen? Mit autogenem Training hatte sich Lindemann Leitsätze eingeprägt: "Kurs West! Nicht aufgeben! Nimm keine Hilfe an!"

Mit dem Schlauchboot über den Atlantik

Und einen imaginären menschlichen Gegner hatte er auch: Den Franzosen Alain Bombard, der drei Jahre zuvor mit einer Schlauchboot-Insel über den Atlantik getrieben war.
Lindemann: "Bombard war eigentlich der Anlass dazu, dass ich diese Faltbootfahrt gemacht habe, denn das war der Franzose, der meinte, man könne Seewasser trinken und man könne ohne irgendwelche Lebensmittelvorräte über den Atlantik kommen. Aber das war ein großer Schwindler, weil der Hilfe angenommen hatte, und das wollte ich eben nicht."
Drei Mal begegnen Frachtschiffe dem Miniboot inmitten des Weltmeeres, einmal inmitten eines Sturms mit meterhohen Brechern:
"Dann kam er mir sehr nahe und hat Öl um mich gelegt, das tut man so, weil die Kapitäne glauben, wenn man Öl aufs Meer gibt, würde sich die See beruhigen, das ist aber eigentlich nur zur Selbstberuhigung der Kapitäne. Aber als er dann sah, ich habe den Dampfer mit meiner Kamera gefilmt, da sagte er sich, das hat er später an Life Magazine geschrieben, sagte er sich, that guy is all right, let´s go."
Hannes Lindemann sammelt Regenwasser und fängt Fische, die er roh zu sich nimmt. Mehrfach gerät er in starke Stürme, bis schließlich nach mehr als sechzig Tagen das Boot in der aufgewühlten See kentert. Stundenlang treibt es in dieser Nacht kieloben, Lindemann klammert sich aus Angst vor Haien auf das Boot und muss das Ende des Sturms abwarten, ehe er es mit letzter Kraft wieder drehen kann.
"Zuletzt war ich sehr müde und abgeschlagen und dann hatte ich mein Ruder verloren, und dann musste ich in den Bach springen und ein Ersatzruder anbringen, aber das ging dann auch verloren. Und hier kam in den letzten Tagen etwas, was kaum ein Mensch erlebt hat, nämlich, ich konnte meinen Namen nicht mehr finden, ich war so erschöpft, dass ich nicht mehr wusste, wie mein Name lautet."
Nach 72 Tagen endlich Ankunft auf der Karibikinsel St. Martin. Lindemann hat 25 Kilo abgenommen, wird später in Amerika wie ein Held gefeiert und hält Vorträge vor NASA-Überlebensexperten. Seine Erkenntnisse aus dem Selbstversuch finden Eingang in die Ratschläge der Weltgesundheitsorganisation zur Rettung Schiffbrüchiger.

Das Ende der romantischen Ära

Zurück in Deutschland beginnt der Arzt Hannes Lindemann als Pionier auf diesem Gebiet systematisch autogenes Training, Autosuggestion und Psychohygiene des Ichs zu propagieren. In den 60er-Jahren überquert er noch einmal den Atlantik: dann aber mit einem etwas größerem Segelboot und zusammen mit seiner Frau.
"Paddelschlag / ohne Plag
trägt uns in die Weite
Ufer grün / lächelnd blühn
stets uns Seit an Seite."
Lindemanns große Fahrt gibt dem kleinen Boot noch einmal Auftrieb. Aber die hohe Zeit des Faltbootes ist spätestens in den 60er-Jahren Geschichte. Im Wirtschaftswunderland macht der Volkswagen die Massen mobil, nicht romantische Naturerlebnisse locken die Menschen, sondern die nun für jedermann erreichbaren Hotelstrände an der Adria und der Cote d´Azur. Dazu kommt, dass inzwischen die meisten Flüsse ihrer Wildheit und Schönheit beraubt sind. Angestaut, kanalisiert und mit Abwässern belastet bieten sie nicht mehr das ursprüngliche Naturerlebnis. Dennoch: Im Osten Deutschlands bleibt das Faltboot ein Massenphänomen.
Christoph Thum: "Das Faltboot ist in der DDR nie ausgestorben, aufgrund des Umstandes, dass die Leute weniger Autos hatten und ihre Boote in Zügen transportieren mussten."
Christoph Thum ist in der Uckermark aufgewachsen, eines der traditionellen Paddelreviere in Brandenburg.
Thum: "Und so war es eben ein typisches Bild, dass an jedem Ferientag, wenn ein Zug Lychen erreichte, ein Rudel grauer Würste auf zwei Rädern zum See zockelte. Das waren die verpackten Faltboote, die dann in Ufernähe aufgebaut wurden. Und die Wiesen waren voll mit zusammengesetzten Faltbooten."
Pouch Werbeblatt (ca. 1970): "Faltboote aus dem VEB Wassersport und Campingbedarf Pouch, farbenfroh und formvollendet, tragen die bewährte aalglatte fünfschichtige PVC-Bootshaut mit großer Schürffestigkeit. Der Reisezweier des Erfahrenen – das richtige Boot für die große Fahrt."

Seit Jahrzehnten sind sie Faltbootfreunde

Fritz Selbmann: "Das kann man ja mal sagen: Es war gar kein anderes Boot, jedenfalls in der DDR möglich als dieses. Weil man das zusammenfalten konnte. Das wäre mit nem anderen Boot nicht gegangen. Und die, die es geschafft haben, haben es auch in diesem Boot probiert."
Fritz Selbmann aus Leipzig. 1980 unternimmt er einen Fluchtversuch über die Ostsee. Im Reisezweier RZ 85 der Marke Pouch.
"Wir haben das Boot schwarz angestrichen, wir haben das Oberdeck dunkelgrün angeschmiert mit allem möglichem Mist, und das hast Du nicht gesehen in den Wellen. Keine Chance das zu sehen. Und mit dem Radar, da war auch keine Chance. Da waren diese Aluteilchen da, das kann so ein Radar nie erfassen."
Fritz Selbmann sitzt im Boot zusammen mit Lutz Becker. Die beiden sind Faltbootfreunde seit den 70er-Jahren.
"Also es ging darum, mal in der Stadt abzuhauen. Weil da wurde es auch immer stressiger. gemütslagenmäßig. Und dann kroch man da im März auf den Bach."
Lutz: "Zum Beispiel auf die Spree, auf die Mulde, auf die Saale."
Fritz: "Was da so floss. Das war ja dasselbe, es sah nur anders aus damals. Ich kann mich an furchtbar dreckige Teile erinnern…."
Lutz: "Ja, die Elbe, das war barbarisch. Gerade in Dresden, da gab es einen Schlachthof, die haben da ihre ganzen Kaldaunen in den Fluss gekippt, das war unglaublich, was da in dem Fluss rumschwamm."
Auf einer ihrer Touren kommen die beiden Faltbootfreunde - ohne es zu ahnen - auf die sächsische Olympiateststrecke von 1936. Der Flusslauf ist stark verblockt, ihr Boot kentert und bekommt einen Riss. Also fahren sie mit der Bahn von der Mulde zur Elbe. Unterwegs flicken sie das Boot und kommen abends in Dresden an. Um ihn zu testen, lassen sie ihren Reisezweier RZ 85 zu Wasser: Mitten in der Fußgängerzone, im Pusteblumenbrunnen auf der Prager Straße:
Fritz: "Der Gag mit dem Kino da in Dresden, wo die alle rauskamen, war doch nicht nur, das wir im Boot saßen auf dem Springbrunnen, sondern Du hast doch noch mit der Gitarre den Gondoliere gesungen. Du warst da wie in Venedig."
Lutz (singt): "Die Nacht war wieder mal so romantisch, wie sie lang nicht war …."
Fritz: "Ja, genau. Und deswegen waren die Leute so begeistert."
Lutz (singt): "Da dachte ich wieder an jene Reise vom vergangenen Jahr, als wir bei Mandoline und Mondschein."

Versuchter Grenzdurchbruch mit Faltboot

Natürlich kam die Volkspolizei, und die Bürger mussten aus dem Brunnen steigen. 1980 wird Fritz Selbmann und Lutz Becker die DDR zu eng. Sie verdingen sich an der Ostsee, als Saisonkräfte an einem Strandkiosk auf Usedom. In Einzelteilen schmuggeln sie ein Faltboot in den Kiosk. In einer Augustnacht warten sie die letzte Streife der Grenztruppen ab, dann setzen sie ihr Faltboot in die Ostsee. Der starke Südwestwind, so hoffen sie, soll sie nach Schweden treiben.
Lutz: "Und wir hatten so ein Drachensegel und ein Vorsegel und ich hatte gedacht, wenn der Wind stärker wird, dann holst Du das Großsegel und das Drachensegel ein und fährst nur noch mit dem Focksegel. Aber das erste, was wegflog, war der Karabinerhaken vom Focksegel und dann gab es noch eine Böe und dann brach der Mast an der Steckstelle. Und dann habe ich alle Leinen gekappt, die an den Segeln dranhingen und dann konnten wir nur noch versuchen, mit Paddeln über die kurzen Ostseewellen so drüberzukommen."
Fritz: "Das ging in dem Moment nur noch darum: Wo ist ein Licht. Weil es war stockfinster. Und höllelaut."
Zehn Meter hoch ragt die Bordwand des polnischen Frachters aus dem Meer auf. An seinen Flanken erst sehen Fritz Selbmann und Lutz Becker, wie groß die Wellen sind. Dreieinhalb Meter, schätzen sie.
Fritz: "Und dann mussten wir paddeln, volles Rohr paddeln, um überhaupt auf der Höhe des Schiffs zu bleiben und nicht weggetrieben zu werden. Und dann haben wir gerufen und gepfiffen, aber da ist die zehn Meter nach oben nichts angekommen. Kein Ton ist da angekommen. Und da ist durch Zufall einer gekommen und hat dort den Mülleimer ausgeschippt. Einer von der Küche. Und da waren wir gerade unten drunter und der hat durch Zufall runtergeguckt, was der sonst sicher auch nicht macht und hat uns gesehen. Sonst wär das böse zu Ende gegangen."
Lutz: "Und die waren dann aber ganz fair, die haben uns dann dort rausgeholt. Mit Enterhaken wurde das Boot da fixiert, Strickleiter runtergelassen und dann waren wir dann auf dem Boot und dann fragte mich der Kapitän dann, ob ich bewaffnet bin und ich hatte ja so ein Messer mit dabei, wo ich die Leinen auch damit gekappt hatte, weil dann wäre es schon wieder ein bewaffneter Grenzübertritt gewesen."
Fritz: "... versuchter bewaffneter Grenzdurchbruch, so hieß das."
Lutz: "Genau. Und da habe ich ihm das Messer so mit dem Griff hingehalten und da hat er es genommen und ins Meer geschmissen. Und das war schon okay. Die haben uns Tee gegeben und wir waren natürlich auch unterkühlt, es war zwar August, aber die ganze Nacht in den Brechern…."
Fritz: "Das Wasser war acht Grad, und mir waren die Beine eingefroren, also in den Beinen hab ich nicht mehr viel gemerkt. Also das war schon enge, das muss man so sagen…."

Auslieferung in die DDR: Gefängnis

Es folgt das Übliche: Auslieferung an die DDR, Verurteilung und Gefängnis. Insgesamt, so schreibt die Historikerin Christine Vogt-Müller, versuchten zwischen Mauerbau und Mauerfall 5.600 Menschen eine Flucht über die Ostsee. Nur etwa 900 erreichten ihr Ziel, für 173 endete der Fluchtversuch tödlich.
Fritz Selbmann und Lutz Becker kommen nach anderthalb Jahren Gefängnis per Freikauf in den Westen. Es verschlägt sie nach Frankfurt, und auch dort zieht es sie wieder aufs Wasser:
"Die Idee war: Boot fahren, und die andere Situation: Ganz neu im Westen und kein Geld. Also gab es die Idee, ein Boot selber zu bauen. Aus der Landschaft nehmen und selber bauen. Das einzige, was wir nicht aus der Landschaft nehmen wollten, war die Bootshaut."
Woher nehmen, wenn nicht stehlen? Die Frankfurter Allgemeine Zeitung hat in dieser Zeit gerade ihr Verlagshaus eingerüstet und mit einer großen Bauplane verhangen. In einer Nacht-und Nebel-Aktion schneiden sich die Faltbootbauer ein Stück aus der Plane, dann geht es zum Fluss.
"Dann sind wir eben an die Lahn gefahren und haben dort so einen Korpus gebaut, das sah oberschräg aus. Also das Vorschiff ging so nach links, das fuhr nicht so geradeaus, weil der Kiel ja auch völlig krumm war, also das fuhr nicht so richtig. Aber auch die Lahn ist ein Fluss, da geht es bergab und man musste das nur steuern. Und wir da drin nun auch nicht vom Reichtum gebeutelt und locker drauf und wieder mit Gitarre – und dann dieses Boot und jetzt nun der normale Wessi – die wussten überhaupt nicht, was sie sagen sollten."
Heute erlebt das Faltboot eine Renaissance. Die Flüsse sind wieder sauberer, und Brandenburg und Mecklenburg längst wieder zum gesamtdeutschen Faltbootrevier geworden. Die Konzentration dieses Freizeitvergnügens auf die wenigen stillen Gewässer aber bringt auch Schwierigkeiten mit sich.
Christoph Thum: "Es ist so, dass flache Gewässer von hoher Qualität natürlich sehr artenreich sind: Insbesondere Wirbellose sind dort sehr zahlreich. Wir sind hier am Westufer des Oberpfuhls, dem fließt ein Bach aus Nordosten zu, der auf seinen sechs km Fliesslänge achteinhalb Meter Gefälle hat. Das ist fürs Tiefland recht viel. In dem Bach leben über 80 Wirbellose, darunter befindet sich eine Muschelart, deren Schutzstatus höher ist als der des Fischadlers. Nur die fällt natürlich weniger auf."
Wenn Boote bei niedrigem Wasserstand und damit verbundener häufiger Grundberührung so ein Gewässer befahren, passieren verschiedene Sachen – diese Muschel, die im Sediment sitzt, guckt mit der Mundöffnung daraus hervor. Beim Rüberrutschen eines Bootes bricht die Mundöffnung aus, was für das Muschelexemplar dann jeweils das Ende bedeutet. Gleichzeitig wird eine Gewässertrübung verursacht, die dann viele Wirbellose veranlasst, ihr Substrat, den Grund quasi zu verlassen und sich abtreiben zu lassen. Wenn das mehrfach am Tag passiert, wird quasi der Bach mehrfach ausgeräumt, kann man sagen.

Das Faltboot wird elektrisch

Christoph Thum aus Lychen war lange Naturwächter im Naturpark Uckermärkische Seen und hat in den 90er-Jahren ein Leitsystem für Wasserwanderer mit entwickelt.
Christoph Thum: "Es ist ein großer Unterschied, ob man stromauf oder abwärts paddelt. Bei unseren Versuchen in Kooperation mit der Uni Braunschweig haben wir festgestellt, dass die Trübung des Gewässers beim Aufwärtspaddeln sechsmal so hoch ist wie beim Abwärtspaddeln. So. Danach richtet sich hier auch die Befahrungsregelung. Also der Bach darf quasi nur stromab befahren werden und das noch bei ausreichendem Wasserstand."
In jüngster Zeit wird das Faltboot elektrisch. Es gibt inzwischen Modelle mit solarbetriebenen Schiffsschrauben. Und die technische Entwicklung geht weiter: Mit dem so genannten Backyak ist ein Modulboot aus Carbon auf den Markt gekommen, das in zwei Rucksäcken Platz findet und aufgebaut alles sein kann: Vom Katamaran über zwei Einerboote oder einem Wanderzweier bis zum Schneeschlitten. Faltboot goes Hightech. Aber die Philosophie des Faltbootfahrens hat sich in den 100 Jahren seiner Geschichte nicht geändert. Das Rucksackschiff bleibt ein Gefährt der Besinnung. Wer ins Faltboot einsteigt, wird zum Aussteiger auf Zeit.
Zitat Alfred Heurich: "Wo irgendein Wässerchen ist, tummeln wir uns herum. Wir genießen in Ruhe unermüdet unermüdlich immer neue Bilder, saugen unablässig neue Schönheiten durch das spähende Auge ins trunkene Herz. Und ein lange, lange nicht mehr gekanntes Gefühl aufquellender Gesundheit und Lebenskraft durchströmt uns. Die Freude fasst uns, jene tiefe ernste Freude, welche die Natur über uns ausgießt als Dank, dass wir zurückgefunden haben zu ihr. Ganz von selbst ist es gekommen, ungerufen, ungesucht, ein Geschenk der gütigen Natur: Die Jugend ist zurückgekehrt!"
Das schrieb vor hundert Jahren, mit dem Natur-Pathos seiner Zeit, der Erfinder des Binsenbummlers, Alfred Heurich.
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