Eshkol Nevo: "Über uns"
Aus dem Hebräischen von Markus Lemke
München, dtv, 2018
317 Seiten, 20,00 Euro
Freudianische Erzählungen
Drei Erzählungen über drei Protagonisten. Der Roman "Über uns" des israelischen Autors Eshkol Nevo ist an das freudianische Strukturmodell der menschlichen Psyche angelehnt. Die Figuren verkörpern jeweils Konflikte um das Ich, Es und Über-Ich - menschenfreundlich und klug erzählt.
Am Anfang ist die Stimme. Ein Mensch spricht und offensichtlich gibt es einen Zuhörer. Das ist die Grundsituation, mit der der israelische Autor Eshkol Nevo seinen neuen Roman beginnt. "Über uns" heißt er und besteht aus drei Erzählungen, von drei unterschiedlichen Erzählern, gerichtet an drei unterschiedliche Hörer.
Es sind Monologe von Menschen in Bedrängnis, die plötzlich realisieren, dass ihr Leben schief gelaufen ist, dass sie nicht mehr Herr ihrer Lage und an einem Punkt sind, der sie zwingt, sich mitzuteilen.
Es ist die klassische psychoanalytische Gesprächssituation, die Nevo hier installiert, die er jedoch spielerisch in Alltagssituationen verwandelt, die über (jeden von) uns etwas erzählen.
Den Opa getötet, der Enkelin verfallen
Da ist zuerst Arnon Levanoni, verheiratet, Vater zweier Töchter. Es gibt ein Rentnerpaar in seinem Haus, das immer auf die kleine Tochter Ofri aufpasste, wenn die Eltern mal schnell Sex miteinander haben wollten oder mit Ofris jüngerer Schwester zum Arzt mussten.
Arnon ist orientalischer Jude, Hermann und Ruth Wolf sind waschechte Jeckes. Arnons Tochter Ofri entwickelt eine emotionale Bindung zu den beiden Alten, und auch als Hermann Anzeichen von Demenz zeigt, verbringt sie Zeit mit ihm.
Eines Tages verläuft sich dieser sich bei einem gemeinsamen Spaziergang, woraufhin Arnon sofort Missbrauchsfantasien entwickelt und den alten Mann sogar körperlich angeht - so aggressiv, dass er ins Krankenhaus kommt und am Ende stirbt.
Schließlich ist es aber Arnon selbst, der den Verführungsversuchen einer Minderjährigen nicht widerstehen kann. Er erliegt dem Charme von Hermanns Enkelin.
Den zweiten Monolog gestaltet Nevo in Briefform: Chani, eine unter Minderwertigkeitsgefühlen und emotionaler Vernachlässigung leidende Ehefrau eines international arbeitenden Immobilienberaters, schreibt an ihre alte Schulfreundin Neta, die erfolgreich in den USA lebt.
Chani hat mitunter Wahnvorstellungen und erst die Begegnung mit dem Bruder ihres Mannes, einem von der Polizei gesuchten, untergetauchten Spekulanten, gibt ihr wieder ein Gefühl für sich selbst.
Monolog mit einem Anrufbeantworter
In der dritten Erzählung bespricht die verwitwete Richterin Dvorah den Anrufbeantworter ihres verstorbenen Mannes. Es wird eine Abrechnung mit dem eigenen angepassten Verhalten, das zum Verlust des gemeinsamen Sohnes führte – und am Ende zur Emanzipation einer Frau, die mit Mitte Sechzig noch einmal beschließt, ihr Leben zu verändern, sich gehen zu lassen, um sich näher zu kommen.
Alle drei Protagonisten leben im selben Haus. "Shalosh komot", drei Etagen, heißt der Roman im Original. An das freudianische Strukturmodell der menschlichen Psyche angelehnt, verkörpern die Figuren jeweils Prinzip und Konflikt um Ich, Es und Über-Ich.
Humorvoll und fein, menschenfreundlich und klug entwickelt Eshkol Nevo vor dem Hintergrund dieser intimen Beichten zentrale Fragen nach der Verantwortung jedes einzelnen für sich selbst und andere.