"Warum müssen Parteivorsitzende so schreien?"
Keine Botschaft, nur ein Schrei: Die Rede der neuen SPD-Parteivorsitzenden Andrea Nahles hat Wolfgang Nowak, einst Planungschef im Kanzleramt von Gerhard Schröder, kritisch wahrgenommen. Das Hauptproblem der SPD sei der "faule Kompromiss".
Liane von Billerbeck: Gestern hat der SPD-Parteitag eine neue Vorsitzende gewählt. Hier stimmt ja die nur weibliche Form, denn es waren zwei Frauen als Kandidatinnen angetreten: Simone Lange, die SPD-Oberbürgermeisterin von Flensburg, hatte Andrea Nahles, die Fraktionschefin im Bundestag, herausgefordert. Nahles hat bekanntlich gewonnen, führt nun als erste Frau in der Geschichte die sozialdemokratische Partei, wenn auch das Wahlergebnis nicht ganz so ihren Hoffnungen entsprach – hat man ihrem Gesicht angesehen –, mit 414 Stimmen. Simone Lange bekam immerhin 172.
SPD, was nun? Die Frage stellt sich. Wie die Partei im Land wieder Wähler und Wahlen gewinnen will, diese Frage muss erst noch beantwortet werden – jetzt auch bei uns. Und ich bin dafür mit einem kritischen Begleiter der SPD verabredet, er war selber lange Sozialdemokrat, ist 2005 ausgetreten: Wolfgang Nowak, einst Planungschef im Kanzleramt unter Gerhard Schröder, mitverantwortlich für das Schröder-Blair-Papier, und zuletzt war er Geschäftsführer der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft. Herr Nowak, schönen guten Morgen!
Wolfgang Nowak: Guten Morgen!
Billerbeck: Haben Sie gestern Parteitag geguckt?
Nowak: Ja, ich habe doch im Fernsehen Parteitag geguckt, und ich frage mich immer, warum müssen Parteivorsitzende so schreien, um Engagement vorzubringen? Ich kann dieses schreckliche Geschrei, was die Delegierten dann wahrscheinlich als unglaubliche Energie wahrnehmen, einfach kaum noch ertragen, weil das so aufgesetzt wirkt. Und so war das Ganze, auch die ganze Rede war eigentlich voll mit alten Gewissheiten, alten Sätzen …
Billerbeck: Die Rede? Sie meinen die Rede von Andrea Nahles?
Nowak: Von der Andrea Nahles, ja – gut, die andere hat nur gesagt, wir müssen mehr Geld ausgeben. Aber das ist wirklich tragisch, wenn man das sieht, weil es keine Botschaft gibt, sondern nur einen Schrei.
Billerbeck: Das heißt, gestern die Wahl der ersten Frau an der Parteispitze, das war Ihnen nicht genug Signal für Neuanfang.
Nowak: Nein, wenn ich jetzt böse wäre, was ich versuche nicht zu sein, dann kann man sagen, Andrea Nahles ist am Ziel und die SPD am Ende. Es ist keine Botschaft. Wenn Sie mal vom Parteitag weggehen und Sie gehen durch Berlin spazieren – Städte sind sozusagen begehbare Parteiprogramme –, und der dortige Bürgermeister sagt, dass man also bestimmte Bezirke abends nur noch mit dem Taxi besuchen kann.
Oder wenn Sie die Schulen sich anschauen, in Berlin oder eben auch in Hamburg, in Bremen, dann sehen Sie auf den ureigensten Gebieten der SPD oder hier in Baden-Württemberg, wo sie regiert hatte, dass sie dort eigentlich immer nur schlechte Leistungen erbringt. Und die bringen auch die Schüler. Sie hat mit ihren Themen, die ja sehr schön klingen, wenn man sie sagt – mehr Bildung und mehr Weiterbildung –, hat sie eigentlich den Bezug zur Wirklichkeit verloren, denn die Wirklichkeit ist anders und die Wirklichkeit wird von SPD-Politikern immer noch geprägt.
Billerbeck: Es wird ja immer gesagt, das Problem der SPD sei unter anderem, dass sie wieder in eine Koalition mit der CDU gegangen ist. In dieser Koalition muss sie sich nun aber erneuern. Wenn ich Sie höre, dann ist gar nicht die CDU das Problem, sondern die Partei selbst.
Nowak: Ja, die Partei selbst - und sehen Sie diese Koalitionen... Ich habe damals diesen Kevin, der jetzt auch wieder abgeglitten ist, sehr bewundert. Die SPD leidet unter …
"Partei, die immer ein Sowohl-als-auch hat"
Billerbeck: Kevin Kühnert meinen Sie, den Juso-Chef.
Nowak: Ja, der ist ja unter dem Namen Kevin faktisch noch bekannter, als der Kevin, der alleine in New York war. Da müssen Sie ein Problem sehen: Die SPD ist eine Partei, die immer ein Sowohl-als-auch hat. Das ist bei dem Kevin jetzt gerade wieder sehr deutlich geworden. Er sagt, Andrea Nahles ist nicht die Frau, die die Reformen bringt, ich wähle sie aber. Die SPD geht in die große Koalition, um die CDU zu bekämpfen und dann die Wahl zu gewinnen.
Dieses Sowohl-als-auch, das reicht nicht mehr für ein Parteiprogramm aus. Und wenn Sie Reden von SPD-Politikern hören, dann hören Sie immer diesen einen Satz: Wir sagen aber auch … Dann kommt sofort das Gegenteil dessen, was man vorher gesagt hat. So vertritt sie im Grunde genommen diesen faulen Kompromiss, den sie überall eingehen muss, tatsächlich schon verbal.
Billerbeck: Da könnte ich jetzt aber gegenhalten, bei Parteien mit einer größeren Mitgliederzahl wird man kaum alle auf eine Linie kriegen, da gibt es immer Flügel. Das ist ja nicht bloß bei der SPD so.
Nowak: Ja gut, die CDU hat ihren Seehofer, das ist klar, aber die Partei …
Billerbeck: CSU.
Nowak: … aber die Partei muss sich einigen. Ich kann ja als Wähler nicht dieses Sowohl-als-auch wählen, sondern ich muss mich für bestimmte Programme begeistern können. Und sie hat mit der Bildung ein ganz wichtiges Problem. Wenn die Digitalisierung kommt, dann kann man nicht sagen, man kann die Busfahrer alle zu Programmierern umbauen, wenn die Busse autonom fahren. Hier muss die SPD ansetzen, und hier hätte sie außerhalb der Regierung – entschuldigen Sie, wenn ich das so direkt sage –, sich außerhalb der Regierung regenerieren müssen und sich vielleicht mit den Themen einer modernen, in viele Individualitäten verfallenden Gesellschaft auseinandersetzen müssen.
Billerbeck: Dann machen …
Nowak: Darf ich noch einen bösen Satz verlieren?
Billerbeck: Ja.
Nowak: Das einzige Pfund, was sie hatte, war die Außenpolitik von Steinmeier und von Sigmar Gabriel. Die hat sie jetzt auch aufgegeben, um heult mit den Wölfen gegen Russland an … Das bringt uns nicht weiter.
Billerbeck: Wo sehen Sie denn genau nun die Punkte, wo die Sozialdemokratie ansetzen muss, damit sie wieder Punkte bei den Wählern macht?
Nowak: Sie muss sich – es ist so schrecklich zu sagen –, sie muss sich mit der Wirklichkeit der Bürger auseinandersetzen. Sie muss auch mal zu Fuß durch die Stadt gehen und muss dann nicht weggucken. Sie muss sich die Schulen ansehen und es nicht der GEW überlassen, die Zukunft zu diskutieren. Sie muss sich mit der Außenpolitik sehen, mit der Rolle Deutschlands sich abfinden, dass es ein kleines wirtschaftliches Land ist, das bald seinen Einfluss verlieren wird, weil China überwältigend kommt, und die Amerikaner sind im Augenblick nicht anwesend. Sie muss sich mit diesen Fragen befassen, und dafür braucht sie Zeit, und dafür muss sie sondieren. Ich habe mal die Konferenz "Modernes Regieren im 21. Jahrhundert" mit 15 Staats- und Regierungschefs organisiert. Dem vorgeschaltet war eine intensive Diskussion zwischen verschiedenen Gruppen aus der Bevölkerung, Interessengruppen, NGOs, der SPD-Universitäten, wie es denn weitergehen soll. Diese Diskussion fehlt. Man löscht heute die ganzen Feuer aus. Wissen Sie, wir haben auf der einen Seite eine Bevölkerung, die angesichts der Globalisierung, der Digitalisierung, der großen Einwanderungswelle sich ohnmächtig fühlt. Und die schauen dann auf die SPD und haben hier eine ohnmächtige Partei. Hier begegnen sich zwei Ohnmächtige. Das ist kein Programm für eine Zukunft.
"Die SPD ist systemrelevant, nur sie hat es noch nicht begriffen"
Billerbeck: Nun haben die ja mit Franziska Giffey eine Frau aus Neukölln geholt, aus Berlin-Neukölln, die schon die Realität sehr genau kennt. Aber ich will Sie vor allem …
Nowak: Das ist ein positives Zeichen, das will ich gar nicht … Es gibt ja nicht nur negative Zeichen, es ist ein positives Zeichen. Aber ob Andrea Nahles, deren einzige Fähigkeit darin besteht, innerparteiliche Gegner kaltzustellen, ob das reicht, um eine Partei zu führen, das bezweifle ich.
Billerbeck: Man hört die Zweifel sehr heftig. Ich habe es am Anfang gesagt, Sie waren ja auch Chef der Alfred-Herrhausen-Gesellschaft, kennen sich also in der Politik wie auch in der Welt der Banken aus. Um mal dieses Wort zu benutzen: Ist die SPD systemrelevant – also wie und muss sie gerettet werden?
Nowak: Jetzt könnte ich frech sagen, wie ich am Anfang gesagt habe, die SPD ist es nicht – sie ist es! Wir brauchen wieder Parteien, die mit einer Botschaft, die viele Menschen unter dieser Botschaft vereinen können. Also wenn die SPD jetzt auch zerfällt in verschiedene Grüppchen und sich anschließt, dann haben wir nachher einen Splitterparteienhaufen in einer schwierigen Situation. Die SPD ist systemrelevant, nur sie hat es noch nicht begriffen. Sie muss sich da nicht nur mit sich selbst, sondern auch – in Anführungsstrichen – "mit dem System" beschäftigen.
Billerbeck: Ansichten waren das, von Wolfgang Nowak – einem kritischen Begleiter der SPD, die er 2005 verlassen hat –, nach dem gestrigen Wahlparteitag in Wiesbaden. Ich danke Ihnen für das Gespräch!
Nowak: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.