"Die Lügner sind strategisch im Vorteil"
Lügen haben kurze Beine? Stimmt nicht, meint der Soziologe Armin Nassehi. In der Politik sei die Lüge vielmehr ein erfolgversprechendes Machtinstrument. Das einzige, was dagegen helfe, seien parlamentarische Kontrolle und demokratische Gewaltenteilung.
Christian Rabhansl: Es gibt zurzeit so viele phrasenhafte Schlagworte, dass einem der Kopf schwirren könnte. Angeblich leben wir in postfaktischen Zeiten, der US-Präsident liebt alternative Fakten und was einem nicht passt, wird zu Fake News erklärt, dabei ist es vielleicht einfach nur eine Ente.
Und vielleicht sollten wir die Dinge einfach mal wieder beim Namen nennen und sagen: Das und das ist eine Lüge, Punkt. Aber andererseits ist es auch nicht ganz so einfach, und zwar aus vielfältigen Gründen. Das wird jedem rasch klar, der die gerade erschienene jüngste Ausgabe der Zeitschrift "Kursbuch" aufschlägt, ein Themenheft unter dem Titel "Lauter Lügen".
Herausgeber und Mitautor ist der Soziologe Armin Nassehi und jetzt ist er zu Gast in der "Lesart". Guten Tag, Herr Nassehi!
Armin Nassehi: Tag, Herr Rabhansl!
Rabhansl: Sie selbst widmen sich in diesem Heft der populistischen Lüge und stellen fest, dass diese auch im politischen Raum vor allem mündlich funktioniert. Woran liegt das?
"Jemand, der spricht, ist der Lüge vermutlich viel näher"
Nassehi: Ja, ich meine, wenn man genau hinguckt, dann sieht man ja meistens Schriftliches. Und das ist ja ganz spannend zu sehen, ich glaube, erst seit es Schrift gibt, seit es Buchdruck gibt, seit es Bücher gibt, seit man sozusagen das Produzieren von Sinn und das Lesen von Sinn auseinanderzieht, gibt erst so etwas wie radikale Wahrheitsansprüche. Das heißt, wer etwas schreibt, der schreibt so, dass man hinterher überprüfen kann und auch muss, ob die Dinge stimmen oder nicht, während das gesprochene Wort – auch unseres, das wir jetzt hier gerade machen –, das verschwindet eigentlich sofort wieder. Das heißt es verschwindet insofern, als es auch dann hinterher viel, viel schwieriger zu überprüfen ist. Deshalb ist jemand, der spricht, der Lüge womöglich viel, viel näher. Trotzdem sagen wir, jemand lügt wie gedruckt, weil man die Lüge beim Schriftlichen eben viel genauer überprüfen kann.
Rabhansl: Das ist ja spannend, weil in der heutigen Zeit doch eigentlich alles festgehalten wird. Und Sie haben ein Beispiel in Ihrem Text, nämlich die Antrittsrede Donald Trumps am Tag seiner Amtseinführung, und Sie nennen das ein womöglich historisches Dokument des Kulturkampfes. Was für ein Kulturkampf ist das?
Nassehi: Man muss sich ja die Situation vorstellen, in der Trump dort stand. Also, er war sozusagen in dieser ja unglaublich sakralen Inszenierung amerikanischer Inaugurationen und im Rücken hatte er die Repräsentanten aller wichtigen Institutionen des US-amerikanischen Staates, und geht hin und sagt: Wir werden jetzt die Macht dem Volk - the American people - zurückgeben.
Das ist ja eine wirklich, wie soll man sagen, Inszenierung, die funktioniert erstens fast nur mündlich, weil sie in dem Moment funktioniert, und sie ist zweitens ein Affront, gegen den man in dem Moment gar nichts machen kann. Das Spannende ist ja daran – und das ist ja die Frage, ob das eine Lüge ist oder nicht –, dass hier zumindest gegen eine Konvention agiert wurde, die man sich normalerweise gar nicht vorstellen kann. Der Wahlkampf war hart, aber dann erwartet man zumindest in der Situation wenigstens ein paar Minuten lang eine Konzession an die Konvention. Das hat Trump aber nicht getan.
Rabhansl: Diesen Eindruck hatte ich insgesamt beim Lesen Ihres Textes, dass es eigentlich bei dieser Inflation der Lüge und der Inflation der Bezichtigung der Lüge gar nicht wirklich um die Wahrheit geht, sondern um dieses Brechen von Konventionen. Warum macht das das so erfolgreich? Das wird ja sogar noch inszeniert als Tabubruch!
"Das hat durchaus etwas mit Virilität zu tun"
Nassehi: Ja, ich finde auch an der Lüge eigentlich gar nicht den womöglich mangelnden Wahrheitsgehalt interessant, sondern ich finde interessant, wann man eigentlich einfach so Dinge behaupten kann. Das hat durchaus etwas mit Virilität zu tun, das hat etwas mit Dezisionismus zu tun, das hat damit zu tun, dass man es einfach sagen kann. Man muss sich die Situation von Trump vorstellen, der diese Sätze in dem Moment einfach unwidersprochen sagen kann, performativ funktioniert das wunderbar. Und es geht dann gar nicht darum, ob die Sätze stimmen oder nicht, sondern dass er tatsächlich in der Situation ist, wo er gewissermaßen davon ausgehen kann: Ihr könnt mir alle nichts, weil, diejenigen, die mir zuhören, die glauben mir und insofern kommt es gar nicht auf den Wahrheitsgehalt dessen an, was ich da sage.
Rabhansl: Liegt das auch daran, dass die Wahrheit nun mal unglaublich kompliziert ist, die Lüge dagegen in aller Regel sehr klar und eindeutig?
Nassehi: Also, ich meine, die Wahrheit ist kompliziert und die Lüge ist eindeutig, ist ja fast eine paradoxe Figur. Also, wir gehen ja davon aus, dass es eigentlich nur eine Wahrheit gibt, aber wenn man genau hinguckt, stimmt das natürlich nicht, weil wir über fast jeden Sachverhalt heute, wenn Sie etwa mit Experten reden, zum Beispiel mit Hochschulprofessoren wie jetzt, dann bekommen Sie sozusagen ganz unterschiedliche Auffassungen über den gleichen Sachverhalt, ohne dass man sagen kann, dass die Dinge, die abweichen, wirklich gelogen sind, während … Die Lüge ist eindeutig, insofern als man tatsächlich sagen kann, das ist gelogen. Aber das funktioniert letztlich nur, wenn man die Dinge wirklich überprüfen kann. Und insofern bin ich wieder bei der Unterscheidung von Geschriebenem und Gesprochenem.
Rabhansl: Mein Eindruck wäre ja auch, dass, wenn viel gelogen wird in der Politik oder wenn Trump in dieser Antrittsrede behauptet, Gott habe auf seiner Antrittsrede die Sonne scheinen lassen, obwohl jeder im Fernsehen sehen konnte, wie die Zuschauer die Regenschirme aufspannten, da geht es gar nicht darum, dass diese Lügen geglaubt werden, sondern dass die Inflation der Lüge dazu führt, dass die Menschen eigentlich gar nichts mehr glauben. Wäre das die fatalste Folge für die Demokratie?
Nassehi: Das wäre die fatalste Folge, wobei ich nicht genau weiß, ob diese Diagnose wirklich stimmt, also ob es um Glauben oder Nichtglauben geht. Sondern es ist ja tatsächlich so, dass die absurdesten Sätze, von denen man im ersten Moment schon sehen kann, dass sie eigentlich falsch sind, tatsächlich geglaubt werden. Also, denken Sie etwa an die Merkwürdigkeit, die wir jetzt aus den USA hören, dass Trump behauptet, das Impfen würde Autismus produzieren. Also, jeder, der von dem Thema auch nur ein bisschen etwas weiß, weiß, dass es Unsinn ist. Aber interessanterweise geht es gar nicht um eine Inflation von falschen Sätzen, sondern die Inflation solcher Sätze, die mit so einer Eindeutigkeit formuliert werden, werden ja als Wahrheit geglaubt. Und das ist eigentlich das Erstaunliche daran.
Rabhansl: Am Ende Ihres Textes machen Sie mir ein bisschen Angst, muss ich sagen. Da schreiben Sie nämlich: Gegenpopulismus wird nicht helfen, ein Gegenargumentieren aber auch nicht. Ja, was denn dann, Herr Nassehi?
"Diejenigen, die irgendetwas behaupten, sind strategisch im Vorteil"
Nassehi: Ja, das Problem mit dem Gegenargumentieren ist ja, dass diejenigen, die sehr einfache Sätze formulieren, die geradezu dezisionistisch irgendetwas behaupten, in einem strategischen Diskurs, strategischen Vorteil sind. Sie können es einfach sagen. Wenn man dagegenargumentiert, muss man komplizierter argumentieren, da muss man fast so reden, wie man schreibt. Und das ist ja für diejenigen, die lieber die einfachen Botschaften hören wollen, geradezu der Beweis dafür, dass diese Dinge nicht stimmen. Ich glaube, was anderes hilft womöglich … Das ist vielleicht eine optimistische Einschätzung, aber die moderne Gesellschaft zeichnet natürlich aus durch so etwas wie Gewaltenteilung, durch Differenzierung, Macht wird geteilt, niemand kann eigentlich wirklich durchregieren. Und die Frage, ob Trump und ähnliche Populisten, wenn sie womöglich in Europa ans Ruder kommen, erfolgreich sein werden, liegt nicht am Wahrheitsgehalt ihrer Sätze, sondern an den Immunreaktionen einer Gesellschaft, die durch Gewaltenteilung, die durch parlamentarische Prozesse, die durch Kontrolle durch die Presse und Ähnliches die Dinge – ich habe das glaube ich so formuliert – geradezu zermalmt. Wir haben vor Kurzem noch darunter gelitten, dass es so schwer ist, in dieser Gesellschaft etwas zu verändern, jetzt hoffen wir darauf, dass es schwerer ist, als Trump sich das vorstellt.
Rabhansl: Armin Nassehi gibt das "Kursbuch" heraus und die aktuelle Ausgabe zum Thema "Lauter Lügen" ist frisch im Buchhandel für 19 Euro.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.