Felicitas Hoppe: Prawda
S. Fischer, Frankfurt/Main 2018
320 Seiten, 20 Euro
Zwei Russen auf Expedition ins unbekannte Amerika
Von der Ostküste nach Kalifornien und zurück: Felicitas Hoppe folgt in ihrem Buch "Prawda" den Spuren zweier russischer Schriftsteller, die vor 80 Jahren durch die USA gereist sind. Turbulent und fantasievoll - und ein bisschen zu bemüht.
Scheinbar wahrheitsgetreu geht es los. In einer Bostoner Pension wählt die Ich-Erzählerin Frau Eckermann aus einer Fülle von Kandidaten drei Reisegefährten aus, mit denen sie mehr als zehntausend Meilen quer durch die USA zurücklegen wird. Schon die Konturen der Mitreisenden verweisen auf das ironische Spiel aus Wahrheit und Fantasie in diesem Buch. Foma fährt mit, ein "als Landschaftsgärtner getarnter russischer Künstler auf der Suche nach dem größten Kaktus der Welt", außerdem Frau Miller alias Jerry aus Halle, die "ein Stipendium auf den Kopf hauen muss", Arbeitstitel "Bräute am Wegesrand" und schließlich die gebürtige Wienerin "AnnAdams", die an einem amerikanischen College unterrichtet und ihren roten Ford Red Ruby als Fahrzeug beisteuert.
Eine Begegung mit Quentin Tarantino
Die Route der vier steht fest: Sie ist vorgegeben von den sowjetischen Schriftstellern Ilf und Petrow, die 80 Jahre zuvor eine solche Reise - ebenfalls zu viert und ebenfalls in einem Ford - zurückgelegt haben. Mitte der 1930er-Jahre waren sie mehrere Monate unterwegs im Auftrag der sowjetischen Parteizeitung "Prawda" - Wahrheit. Ihr gemeinsam verfasstes Buch über diese Reise mit dem Titel "Das eingeschossige Amerika" war 1937 ein großer Erfolg in der Sowjetunion, das sich trotz Zweifel an einer ideologiefreien Darstellung (im Schatten des Stalinistischen Terrors) auch heute noch mitreißend liest. Das Reenactment dieser Reise nutzt Felicitas Hoppe für eine Wiederbegegnung mit zentralen Figuren und Orten, Figuren und Mythen der amerikanischen Kultur: die Ford-Werke in Detroit werden ebenso besucht, wie die Heimatstadt Mark Twains Hannibal/Missouri, General Motors genauso bestaunt, wie die Wüste. Zusätzlich kommen weitere Projektionen und Erfindungen Amerikas ins Spiel– von Karl May, dem "Wizard of Oz" bis hin zur erträumten Begegnung mit Hollywood-Ikone Quentin Tarantino in Kalifornien.
Russland bzw. die Sowjetunion sind beständiges Thema am Wegesrand - nicht nur wegen Ilf und Petrows Reiseeindrücken, die als wiederkehrender Lektüre-Abgleich bei den jeweiligen Reisestationen aufblitzen. Auch vielfältiger Stoff der russischen Kulturgeschichte wird erwähnt, ob Rasputin, der Kasatschok, russische Volksmärchen oder Tolstojs Roman "Anna Karenina". Dessen berühmter erster Satz "Alle glücklichen Familien ähneln einander, jede unglückliche Familie ist auf ihre eigene Weise unglücklich" taucht vielfach paraphrasiert in diversen Szenen auf und unterläuft den bildungsbeflissenen, sentenzartigen, dann wieder märchenhaften Ton nicht selten durch Banalität: "Jede Kellnerin ist unglücklich auf ihre eigene Weise".
Keine Zeit fürs Verweilen und Vertiefen
Hoppes verspielter Figuren-und Assoziationsreichtum sorgt für eine turbulente, aber leider auch stellenweise pseudo-philosophisch und ziellos wirkende Fantasiereise, die sich sprachlich zudem in mühevollen Bandwurmsätzen niederschlägt. Fürs lange Verweilen und Vertiefen ist weder an den konkreten geografischen Stationen noch beim Nachdenken über ein imaginiertes Amerika so richtig Zeit. Reale Zeit- und Alltagsgeschichte spielt keine Rolle, weil es der Autorin nicht um eine messbare äußere Wahrheit geht, als vielmehr um das Streben nach einer höheren geistigen Wahrheit. Und so erwähnt sie gleich mehrfach: Das Russische unterscheidet dies in den Begriffen Prawda und Istina.
"Und verglichen mit der Literatur ist das einfache Leben höchst kompliziert, so kompliziert wie ein amerikanischer Diner, dem auch Ilf und Petrow nicht gewachsen waren. Schreiben Sie auch das in Ihre Notizbücher, Gentlemen: dass jede Kellnerin diesseits und jenseits der Meere ein Lied davon singt, das davon erzählt, dass niemand sie jemals besungen hat, wie sie wirklich (tatsächlich) ist, weil Schriftsteller immer nur auf der Durchreise sind und dabei in erster Linie sich selber besingen. Das ist nun mal ihr Schicksal, ihre Natur. Ihr Hang zur Entstellung ist ihrem Mangel an Zeit und Einsicht geschuldet, ihrer vorüberfahrenden Unwissenheit."