Finanzsystem 4.0

Die Idee der sozialen Währung

Eine Frau fährt Fahrrad umgeben von umweltfreundlichen Symbolen wie Windrad, Recycling-Pfeil und Licht einer Energiesparlampe
Im Finanzsystem 4.0 hinge die Höhe der Vergütung davon ab, welche Ziele die Gemeinschaft als besonders wichtig definiert: ganz oben der Klimaschutz. © imago/Ikon Images
Von Dirk Helbing · 04.10.2017
Geld durch Arbeit zu verdienen, wird künftig keine Selbstverständlichkeit mehr sein. Wie aber sollen wir unsere Existenz ohne Arbeitslohn sichern? Die halbe Wirtschaft müsse neu erfunden werden, meint der Soziologe und Physiker Dirk Helbing.
Stellen Sie sich vor, wir könnten Geld erzeugen, indem wir gemeinsam die Umwelt mit unserem Smartphone vermessen und die Daten mit allen anderen teilen. Stellen Sie sich vor, Sie könnten Geld verdienen, indem Sie Umwelt und Gesellschaft etwas Gutes tun. Sie bekämen Guthaben auf diverse digitale Konten ausbezahlt, wenn Sie eine Mitfahrgelegenheit mit dem Auto anbieten, oder wenn Sie sich um Hilfsbedürftige kümmern. Belohnungen für Engagement, das Umwelt und anderen gut tut – das ist die Grundidee des Finanzsystems 4.0, eines neuen sozio-ökologischen Finanzsystems für das 21. Jahrhundert.

Wer der Umwelt und Gesellschaft hilft, bekommt Gutschriften auf digitalen Konten

In diesem Finanzsystem hinge die Höhe der Vergütung davon ab, welche Ziele die Gemeinschaft als besonders wichtig definiert: Steht der Klimaschutz ganz weit oben, bekommen diejenigen besonders hohe Vergütungen angerechnet, die radeln, statt mit dem Auto zu fahren. Oder sie würden belohnt, wenn sie Menschen Sprachunterricht erteilen, oder Abfall wiederverwerten. Für diese Dienstleistungen gäbe es kein klassisches Geld, sondern eine Gutschrift in Form einer digitalen Währung. Im Finanzsystem 4.0 könnten Sie mit dieser digitalen Währung aber genauso einkaufen wie mit Bargeld.

Im Finanzsystem 4.0 entspricht die digitale Währung dem heutigen Bargeld

Wichtigste Grundlage sind präzise Daten über unsere Umwelt, die durch Sensoren gesammelt werden. Ob in Smartphones oder anderswo: Die Messtechnik der Zukunft wird negative Auswirkungen des Wirtschaftens wie Lärm, Stress, Emissionen oder Abfall genauso registrieren wie positive, etwa Kooperation, Fortbildung oder das Recycling von Abfällen.
Beiden Kategorien – den negativen und den positiven – könnte man durch entsprechende Marktmechanismen und kollektive Entscheidungsprozesse einen Preis oder Wert zuordnen. Negative Auswirkungen würden etwas kosten, mit positiven ließe sich Geld verdienen. In Kombination entstünde eine Kreislaufwirtschaft quasi wie von selbst.

Eine digitale Planwirtschaft ist die falsche Antwort auf die Versorgungskrise der Welt

Durch die direkte Messung und Berücksichtigung sämtlicher Auswirkungen, die menschliches Handeln mit sich bringt, entstünde erstmals ein Wirtschaftssystem, das nicht nur effizient ist, sondern auch soziale und ökologische Bedürfnisse berücksichtigt.
Zudem würde es maßgeblich dem Ziel der Nachhaltigkeit dienen. Und das ist dringend nötig. Denn seit 1972 ist bekannt, dass die Ressourcen der Welt nicht mehr lange reichen werden, um die Bedürfnisse der Weltbevölkerung zu befriedigen. Um die erwartbare Versorgungskrise zu managen, wird die Überwachung von Menschen und Ressourcen schon seit geraumer Zeit immer mehr ausgebaut. Big Data – also die massenhafte Datensammlung – soll Grundlage für das zentralisierte Management knapper Ressourcen werden. De facto wäre dies jedoch eine Art digitaler Planwirtschaft.

Im Finanzsystem 4.0 soll die Beteiligung aller den Kapitalismus demokratischer machen

Besser wäre es, die Daten dezentral zu verwalten, und Mitwirkungsmöglichkeiten der Bürger vorzusehen. Das wird mit Blockchain-Technologie, wie sie bei der digitalen Währung Bitcoin verwendet wird, nun möglich. Dann könnte auch direkt zwischen den Bürgern gehandelt werden. So würde ein digitales Upgrade der Demokratie im Sinne einer Mitmachgesellschaft möglich.
Das Finanzsystem 4.0 will Kapitalismus demokratischer gestalten. Der Einzelne soll nicht nur mit Hilfe der Datenberge von Staat und Unternehmen verwaltet werden, sondern mit Innovation und Eigeninitiative beitragen und profitieren können. Wir Bürger geben dabei die Ziele selber vor, während digitale Assistenten uns helfen würden, diese zu erreichen und dabei bessere Optionen zu nutzen.
Europa könnte führend sein in der Gestaltung einer digitalen Gesellschaft, in der die Bürger befähigt, nicht entmündigt werden. Bereits heute arbeitet ein europäisches Forschungskonsortium namens Future ICT 2.0 an einer Gesellschaft, die sich mit digitalen Mitteln selber organisieren kann und durch Dezentralisierung zu mehr Effizienz, Innovation und Mitgestaltung führt. Das Finanzsystem 4.0 stellt einen wichtigen Pfeiler darin dar.

Dirk Helbing ist seit 2007 Professor für Computational Social Science am Department für Geistes-, Sozial- und Politikwissenschaften sowie Mitglied des Informatikdepartments der ETH Zürich. Seit Juni 2015 ist er assoziierter Professor an der Fakultät für Technik, Politik und Management an der Technischen Universität Delft, wo er die Doktorandenschule "Engineering Social Technologies for a Responsible Digital Future" leitet. Helbing ist Mitglied der Deutschen Akademie der Wissenschaften der Leopoldina und der Weltakademie für Kunst und Wissenschaft und arbeitete für das World Economic Forum im Rahmen des Global Agenda Councils für komplexe Systeme. Er ist auch involviert im Bereich der Etablierung von Blockchain [X] und des Blockain Labs in Delft und gehört zu den Unterstützern der Charta der Digitalen Grundrechte der Europäischen Union.

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