Fotobuch

Klinisch saubere Atomkraft

"Critical Mass / Kritische Masse" – so heißt ein neues Fotobuch von Michael Danner. Sein Sujet ist ein ganz spezielles: die deutsche Atomwirtschaft. Michael Danner hat alle 17 deutschen Atomkraftwerken fotografiert, außerdem im Endlager Asse II und im Erkundungsbergwerk Gorleben.
Mancher wird von Michael Danners Fotografien aus den deutschen Atomkraftwerken enttäuscht sein. "Wenn ich diese Bilder 1985 gesehen hätte", schrieb kürzlich der Leser einer Rezension, "wäre ich nie auf eine Anti-Atom-Demo gegangen!" Zu harmlos, zu sauber, zu gewöhnlich scheint doch auf den ersten Blick das zu sein, was der Fotograf an Eindrücken aus dem Inneren der atomaren Hochsicherheitstrakte in seinem Bildband "Critical Mass" zusammengetragen hat.
In ihrer großen Mehrheit könnten diese Bilder eine x-beliebige industrielle Infrastruktur zeigen. Kein Vergleich jedenfalls mit den dramatischen Szenarien geplatzter Reaktoren und panisch verlassener Städte, wie man sie aus der Tschernobyl-Ikonografie kennt; und schon gar kein Vergleich mit den Pressebildern aus Fukushima.
Solange ein Atomkraftwerk nicht explodiert, sieht es harmlos aus. Michael Danners fürwahr epochales Foto-Projekt kommt, was die Inszenierung angeht, so unspektakulär daher, weil es sich mit einer Bedrohung auseinandersetzt, die unsichtbar ist.
Der Betrachter dieses Bandes aber weiß, worum es geht – und weil er es weiß, erscheint die Bedrohung in der Normalität des industriellen Ambientes nicht verharmlost, sondern gesteigert. Danner bedient sich dazu eines klassischen Suspense-Effekts, indem er den Betrachter langsam von der äußeren Umgebung der Werke in ihr Innerstes führt, von den Klischees der Atomkraftwerbung mit grünen Landschaften und Sonnenuntergängen hinter Kühltürmen bis hinein in die Kammer mit Reaktorkern und Abklingbecken.
Menschen sind nicht zu sehen
Nirgends aber sind Menschen auf den Bildern zu sehen. Alles wirkt verlassen, wie aufgegeben, fast gespenstisch, wie Endzeitszenarien aus Filmklassikern zum Thema wie "The Day After", bei denen die Überlebenden einer Atomkatastrophe durch Städte laufen, die äußerlich intakt, aber völlig entvölkert sind. Oder wie der düster-schräge Humor eines David Lynch, wenn plötzlich der gelbe Lieferwagen eines Eismanns einsam auf dem AKW-Hof steht. Geradezu aufreizend ruht Danners Kamerablick auf Ordnung und Sauberkeit, die überall herrschen, bis hin zu den frisch-bunten Anstrichen von Rohren, Modulen und Wänden – stillgestellte Zeit, Sauberkeit in Ewigkeit. Die Ironie dieses Versprechens verweist direkt auf die Altlasten einer Entsorgung, die in Jahrzehntausenden rechnet.
Alle 17 deutschen Atomkraftwerke hat Michael Danner für seinen Band aufgesucht und sie in dann in der Bilderfolge zu einem einzigen Superwerk verschmolzen, zum Symbol einer Kultur, die schließlich im gefrorenen Nebel der Kühltürme und den Endlagerstollen der Asse nahe dem niedersächsischen Wolfenbüttel endet. Überall hat Danner für seine Aufnahmen mühelos Zutritt erhalten, wurde von geschulten Mitarbeitern herumgeführt, nichts wird verheimlicht. Auch das gehört mittlerweile zur demonstrativen Normalität dieser Atomkultur.
Welch ein Kontrast zu den grobkörnigen schwarz-weißen Reportagebildern des Fotografen Günter Zint von den Anti-Atomkraft-Demonstrationen in Brokdorf, Gorleben oder Wackersdorf! Michael Danner hat einige von ihnen an Anfang und Ende seines Bandes gestellt – sei es als kleine Erinnerung an die militärisch gesicherten Trutzburgen, die die Atomkraftwerke damals waren; oder daran, dass all jene, die damals gegen die Kernkraft kämpften, einmal als Chaoten galten.
Besprochen von Carsten Probst

Michael Danner: "Critical Mass"

mit Fotografien von Günter Zint und aus Archiven der Polizei

Kehrer Verlag, Heidelberg 2013

288 Seiten, 122 Farbabb. und 29 S/W-Archivbilder. 39,90 Euro